Teil II
1. Kapitel
Als John Preston am Vormittag des 13. auf dem Jan-Smuts- Flughafen landete, erwartete ihn bereits der Chef der dortigen Residentur, ein großer schlanker blonder Mann namens Dennis Grey. Von der Aussichtsterrasse aus beobachteten zwei Männer vom südafrikanischen NIS Prestons Ankunft, machten jedoch keine Anstalten, näher zu kommen.
Zoll- und Paßkontrolle waren reine Formalitäten, und schon dreißig Minuten nach der Landung raste der Wagen mit den beiden Männern nordwärts auf der Straße nach Pretoria. Preston betrachtete neugierig die Landschaft des High Veld; sie hatte wenig gemein mit seiner Vorstellung von Afrika - die moderne sechsspurige Asphaltstraße lief durch eine kahle Ebene und vorbei an modernen, europäisch wirkenden Farmen und Fabriken.
»Ich habe für Sie im Burgerspark reserviert«, sagte Grey. »Im Zentrum von Pretoria. Es hieß, Sie wollten lieber im Hotel wohnen als in der Residentur.«
»Ja«, sagte Preston. »Vielen Dank.«
»Wir fahren zuerst in die Van Der Walt Street zum Hotel und melden Sie an. Um elf sind wir beim Biest bestellt.«
Diese nicht allzu liebevolle Bezeichnung war ursprünglich General Van Den Berg verliehen worden, dem Polizeigeneral und Chef des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes BOSS (Bureau of State Security). Nach dem sogenannten Muldergate- Skandal von 1979 war die unglückliche Ehe zwischen dem Nachrichtendienst und der Sicherheitspolizei Südafrikas aufgelöst worden, zur großen Erleichterung der professionellen Nachrichtenleute und der Auslandsaufklärung, deren Arbeit durch die Holzhammermethoden von BOSS sehr erschwert worden war. Der Geheime Nachrichtendienst wurde unter der Bezeichnung National Intelligence Service neu organisiert, und General Henry Pienaar war von seinem Posten als Chef des Militärischen Abwehrdienstes herübergewechselt. Er war kein Polizeigeneral, sondern Militär, und wenn er auch nicht ein Leben lang dem Geheimdienst angehört hatte, wie Sir Nigel Irvine, so hatte ihn doch sein Dienst bei der Abwehr gelehrt, daß man nicht unbedingt mit einem stumpfen Gegenstand zuschlagen muß, um eine Katze zu töten. General Van Den Berg, der in Pension gegangen war, erzählte noch immer jedem, der es hören wollte, daß »die Hand des Herrn mit ihm war«. Die Briten hatten seinen Spitznamen schnöderweise auf General Pienaar übertragen.
Preston trug sich im Hotel ein, stellte sein Gepäck ab, wusch und rasierte sich und war um halb elf wieder bei Grey in der Halle. Gemeinsam fuhren sie zum Union Building.
Die meisten südafrikanischen Regierungsstellen haben ihren Sitz in den drei Stockwerken dieses mächtigen langgestreckten ockerbraunen Sandsteinblocks, dessen dreihundert Meter lange Fassade durch vier Säulenvorbauten gegliedert ist. Das Gebäude steht im Zentrum von Pretoria auf einem Hügel über der Kerk Street, und von der Esplanade vor dem Gebäude hat man einen weiten Blick über das Tal bis zu den braunen Hügeln des High Veld und der alles überragenden gewaltigen Masse des Voortrekker-Denkmals, Dennis Grey wies sich am Empfang aus und sagte, daß er und Preston erwartet würden. Nach wenigen Minuten erschien ein junger Mann und führte sie zum Büro General Pienaars. Die Amtsräume des NIS-Chefs liegen in der obersten Etage an der äußersten Westseite des Gebäudes. Grey und Preston folgten dem jungen Mann durch endlos lange Korridore, die im üblichen südafrikanischen Behördenstil in Braun und Creme ausgemalt und bis hoch oben mit dunklem Holz getäfelt sind. Das Büro des Generals befindet sich am Ende des letzten
Korridors, zwischen einem Vorzimmer zur Rechten mit zwei Sekretärinnen und einem Büro zur Linken, in dem zwei Offiziere arbeiten.
Der junge Mann klopfte an die hinterste Tür, wartete auf den gebellten Befehl zum Eintreten und ließ die britischen Besucher ein. Es war ein recht düsterer, unpersönlicher Raum: ein großer und offensichtlich abgeräumter Schreibtisch der Tür gegenüber, vier lederne Clubsessel um einen niedrigen Tisch nahe den Fenstern, die auf die Kerk Street hinunter und über das Tal hinweg auf die Hügel blickten; rundum an den Wänden vermutlich Generalstabskarten, abweisend hinter grünen Gardinen verborgen.
General Pienaar, ein großer schwerer Mann, stand auf, als sie eintraten, ging ihnen entgegen und wechselte einen Händedruck. Grey übernahm die Vorstellung, und der General dirigierte die Besucher zu den Clubsesseln. Kaffee wurde serviert, aber das Gespräch beschränkte sich auf den Austausch von Höflichkeiten. Grey erfaßte die Lage, verabschiedete sich und ging. General Pienaar starrte Preston eine Weile schweigend an.
»Und jetzt, Mr. Preston«, sagte er dann in fast akzentfreiem Englisch, »zu unserem Diplomaten Jan Marais. Ich sagte es bereits Sir Nigel, und jetzt sage ich es Ihnen: Er arbeitet weder für mich noch für meine Regierung, jedenfalls nicht als Agentenführer in England. Sie sind hierhergekommen, um herauszufinden, für wen er dann arbeitet?«
»Das ist meine Aufgabe, Herr General.«
General Pienaar nickte mehrmals.
»Ich habe Sir Nigel mein Wort gegeben, daß wir Ihnen in jeder Weise behilflich sein werden. Und mein Wort halte ich.«
»Vielen Dank, Herr General.«
»Ich werde Ihnen einen meiner persönlichen Adjutanten zur Verfügung stellen. Er wird sein möglichstes für Sie tun: Akten beibringen, die Sie eventuell einsehen wollen, wenn nötig, auch dolmetschen. Sprechen Sie Afrikaans?«
»Nein, Herr General, kein Wort.«
»Dann wird es einiges zu übersetzen geben. Vielleicht auch zu dolmetschen.«
Er drückte einen Summer auf dem Tisch; im Handumdrehen öffnete sich die Tür, und es erschien ein Mann, ebenso groß wie der General, aber viel jünger. Preston schätzte ihn auf Anfang Dreißig. Er hatte rötliches Haar und sandfarbene Brauen.
»Ich möchte Ihnen Captain Andries Viljoen vorstellen. Andy, das ist Mr. John Preston aus London, dem Sie behilflich sein werden.«
Preston stand auf und gab dem Captain die Hand. Er spürte eine kaum verhüllte Feindseligkeit von dem jungen Afrikaander ausgehen, vielleicht das Gegenstück zu den erfolgreicher maskierten Gefühlen seines Vorgesetzten.
»Ich habe einen Arbeitsraum für Sie reservieren lassen, er liegt auf dieser Etage«, sagte General Pienaar. »Und jetzt wollen wir keine Zeit mehr verlieren, Gentlemen. Machen Sie sich ans Werk.«
Als sie allein in dem ihnen zugewiesenen Büro waren, fragte Viljoen:
»Womit möchten Sie beginnen, Mr. Preston?«
Preston seufzte innerlich. Alles war so viel einfacher, wenn man sich, wie in der Charles Street und der Gordon Street mit Vornamen anredete.
»Mit der Personalakte Jan Marais, wenn ich bitten darf, Captain Viljoen.«
Mit unverhülltem Triumph zog der Captain die Akte aus einer Schreibtischlade.
»Wir sind die Akte selbstverständlich bereits
durchgegangen«, sagte er. »Ich selbst habe sie vor ein paar Tagen aus dem Personalbüro des Außenministeriums geholt.«
Er legte einen dicken Ordner mit braunem Deckel vor Preston hin.
»Wenn es eine Hilfe für Sie ist, möchte ich zusammenfassen, was wir daraus entnehmen konnten. Marais trat im Frühjahr 1946 in den auswärtigen Dienst der Republik Südafrika in Kapstadt ein. Er gehört ihm mittlerweile seit über vierzig Jahren an und wird im Dezember pensioniert. Er hat einen tadellosen Afrikaander-Background und geriet nie auch nur in den leisesten Verdacht. Deshalb erscheint sein Verhalten in London so rätselhaft.«
Preston nickte. Deutlicher brauchte man nicht zu werden.
Man war hier der Ansicht, daß London sich geirrt habe. Preston schlug die Akte auf. Zu den obersten Papieren gehörte ein von Hand in englischer Sprache abgefaßtes Dokument.
»Das«, sagte Viljoen, »ist sein handgeschriebener Lebenslauf, wie ihn alle Bewerber für den auswärtigen Dienst einreichen müssen. Damals, als die United Party unter Jan Smuts am Ruder war, benutzte man sehr viel mehr Englisch als heute. Heute würde ein solches Dokument in Afrikaans abgefaßt werden. Natürlich müssen alle Bewerber beide Sprachen fließend beherrschen.«
»Dann fangen wir am besten mit dem Lebenslauf an«, sagte Preston. »Könnten Sie mir, während ich ihn lese, Marais' berufliche Laufbahn in kurzen Zügen skizzieren? Vor allem seine Versetzungen ins Ausland, wohin, wann und für wie lange.«
»All right«, nickte Viljoen. »Sollte Marais umgefallen oder umgedreht worden sein, dann vermutlich irgendwo im Ausland.«
Das »sollte« drückte gerade deutlich genug Viljoens Zweifel aus, und das Wort »Ausland« verriet, was er vom Einfluß der Fremden auf gute Afrikaander hielt. Preston begann zu lesen.
»Ich wurde im August 1925 geboren als einziger Sohn eines Farmers im Mootseki-Tal, das zu der kleinen landwirtschaftlichen Gemeinde Duiwelskloof in Nord-Transvaal gehört. Mein Vater, Laurens Marais, war gebürtiger Afrikaander, meine Mutter Mary war britischer Abstammung. Eine solche Ehe war damals ungewöhnlich, aber ihr verdanke ich, daß ich beide Sprachen, Englisch und Afrikaans, fließend beherrsche.
Mein Vater war beträchtlich älter als meine Mutter, eine Frau von schwacher Gesundheit. Sie starb, als ich zehn Jahre alt war, während einer jener Typhus-Epidemien, wie sie von Zeit zu Zeit in dieser Gegend wüteten. Bei meiner Geburt war meine Mutter fünfundzwanzig, mein Vater sechsundvierzig Jahre alt. Er baute hauptsächlich Kartoffeln und Tabak an, ein bißchen Weizen und hielt Hühner, Gänse, Truthähne, Rindvieh und Schafe. Sein ganzes Leben lang war er überzeugter Anhänger der United Party, und ich wurde nach Marschall Jan Smuts getauft.«
Preston hielt inne.
»Das alles dürfte seiner Bewerbung kaum geschadet haben«, meinte er.
»Im Gegenteil«, sagte Viljoen, nachdem er die Stelle überflogen hatte, »damals war die United Party noch an der Macht. Die Nationale Front kam erst 1948 ans Ruder.«
Preston las weiter.
»Mit sieben Jahren kam ich in die Gemeindeschule von Duiwelskloof und trat mit zwölf Jahren in die Merensky Highschool über, die fünf Jahre zuvor gegründet worden war. Als 1939 der Krieg ausbrach, verfolgte mein Vater, der mit ganzem Herzen auf der Seite Englands und des Empire stand, alle Meldungen aus Europa an seinem Rundfunkgerät, wenn wir abends nach der Arbeit auf der Veranda saßen. Seit dem Tod meiner Mutter waren wir einander noch nähergekommen, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als am Krieg teilzunehmen.
Zwei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag im August 1943 sagte ich meinem Vater Lebewohl, fuhr mit der Bahn nach Pietersburg und stieg dort um nach Pretoria. Mein Vater begleitete mich bis Pietersburg, und ich sah ihn zum letztenmal, als er dort auf dem Bahnsteig stand und mir nachwinkte.
Am nächsten Tag ging ich ins Generalkommando in Pretoria, meldete mich in aller Form zum Kriegsdienst und kam ins Lager Roberts Heights, wo ich eingekleidet und ausgerüstet wurde und die Grundausbildung im Nahkampf und an der leichten Waffe erhielt. Dort bewarb ich mich um die roten Tressen.«
»Was bedeuten diese >roten Tressen<?« fragte Preston. Viljoen blickte von seiner Schreibarbeit auf. »Damals durften nur Freiwillige außerhalb der Grenzen Südafrikas eingesetzt werden«, sagte er. »Niemand durfte dazu gezwungen werden. Diese Freiwilligen bekamen rote Tressen an ihre Uniformen.«
»Von Roberts Heights aus wurde ich zu den Witwatersrand- Schützen/De La Rey Regiment überstellt; diese beiden Einheiten waren nach den Verlusten bei Tobruk zusammengelegt worden. Wir fuhren mit der Bahn zunächst zu einem Transitlager in Hay Paddock bei Petermaritzburg und kamen zum Nachschub für die Südafrikanische Sechste Division, die auf ihren Transport nach Italien wartete. Schließlich wurden wir alle in Durban eingeschifft, fuhren auf der Duchess of Richmond durch den Suezkanal und landeten Ende Januar in Tarent.
Während des Frühjahrs rückten wir in Richtung Rom vor, und dann zog unsere Einheit Wits/De La Rey zusammen mit der Sechsten Division, die sich damals aus der 12. Südafrikanischen Motorisierten Brigade und der 11. Südafrikanischen Panzerbrigade zusammensetzte, durch Rom und weiter in Richtung Florenz. Am 13. Juli befand ich mich nördlich von Monte Benichi in den Chiantibergen mit einigen Kameraden der C-Kompanie auf Spähtrupp. Im dichtbewaldeten Gelände wurde ich nach Einbruch der Dunkelheit von den Kameraden getrennt und sah mich wenige Minuten später von deutschen Soldaten der Division Hermann Göring umringt. Ich saß in der Falle.
Ich hatte Glück, daß ich überhaupt am Leben blieb, aber ich wurde, zusammen mit weiteren alliierten Gefangenen, auf einen Lastwagen verladen und in einen >Käfig<, das heißt, ein provisorisches Lager in einem Ort namens La Tarina nördlich von Florenz gebracht. Der ranghöchste südafrikanische Unteroffizier war, wie ich mich erinnere, Feldwebelleutnant Snyman. Wir blieben nicht lange dort. Als die Alliierten Florenz erreicht hatten, wurde das Lager mitten in der Nacht evakuiert. Es herrschte Chaos. Einige Gefangene versuchten zu fliehen und wurden niedergeschossen. Sie blieben auf der Straße liegen, und die Lastwagen überrollten sie. Von den Lastwagen wurden wir in Viehwaggons umgeladen. Wir fuhren tagelang nach Norden, über die Alpen, und kamen schließlich in ein Kriegsgefangenenlager in Moosburg, sechzig Kilometer nordöstlich von München.
Auch dort blieben wir nicht lange. Schon nach vierzehn Tagen wurde ungefähr die Hälfte der Lagerinsassen zur Bahnstation geführt und wieder in Viehwaggons verfrachtet. Fast ohne Nahrung und Wasser fuhren wir sechs Tage und Nächte durch Deutschland. Es war Ende August 1944, als wir ausgeladen wurden und zu einem anderen, viel größeren Lager marschieren mußten. Es war, wie wir erfuhren, das Stalag 344 in Lamsdorf bei Breslau im damals noch deutschen Schlesien. Dieses Stalag 344 muß das übelste von allen gewesen sein. Hier vegetierten elftausend alliierte Gefangene, die sich nur durch Rot-Kreuz-Sendungen am Leben erhalten konnten.
Als Gefreiter wurde ich einer Arbeitsbrigade zugeteilt, die jeden Morgen mit dem Lastwagen in eine zwanzig Kilometer entfernte Fabrik gebracht wurde, die synthetischen Treibstoff herstellte. Jener Winter in Oberschlesien war bitterkalt. Eines Tages, kurz vor Weihnachten, hatte unser Lastwagen eine Panne. Zwei Kriegsgefangene versuchten unter Aufsicht der deutschen Wachen, den Schaden zu beheben. Einige von uns durften aussteigen und sich in der Nähe des Rückbretts aufhalten. Ein junger südafrikanischer Soldat neben mir starrte auf den nur zwanzig Meter entfernten Tannenwald, sah mich an und zog eine Augenbraue hoch. Ich werde nie wissen, warum ich es tat, aber im nächsten Moment rannten wir beide durch den hüfthohen Schnee, während unsere Kameraden die Wachen anstießen, so daß sie nicht richtig zielen konnten. Wir erreichten die Bäume und rannten ins Dickicht des Waldes.«
»Möchten Sie zum Lunch gehen?« fragte Viljoen. »Wir haben im Haus eine Kantine.«
»Könnten wir vielleicht belegte Brote und Kaffee heraufkommen lassen?« erwiderte Preston.
»Sicher. Ich rufe unten an.« Preston wandte sich wieder Jan Marais' Geschichte zu.
»Bald mußten wir feststellen, daß wir vom Regen in die Traufe gekommen waren, nur daß es keine Traufe war, sondern eine Eishölle. Die Temperatur sank nachts bis minus dreißig Grad. Wir hatten unsere Füße in den Stiefeln mit Zeitungspapier umwickelt, aber weder das noch unsere Mäntel halfen gegen die Kälte. Nach zwei Tagen waren wir erschöpft und hätten am liebsten aufgegeben.
In der zweiten Nacht versuchten wir, in einer zerfallenen Scheune ein wenig zu schlafen, wurden aber jäh geweckt. Wir dachten, es müßten die Deutschen sein, aber da ich Afrikaans spreche, verstehe ich auch ein paar deutsche Brocken, und das hier war nicht Deutsch. Es war Polnisch; polnische Partisanen hatten uns aufgestöbert. Um ein Haar hätten sie uns als deutsche Deserteure erschossen, aber ich schrie aus Leibeskräften, daß wir Engländer seien, und einer von ihnen schien mich verstanden zu haben.
Während die meisten Bewohner von Breslau und Lamsdorf deutscher Herkunft waren, stammten die Bauern offenbar größtenteils aus Polen, und als die russischen Truppen näher kamen, versteckten viele von ihnen sich in den Wäldern, um den Rückzug der Deutschen zu behindern. Es gab zwei Gruppen von Partisanen: die Kommunisten und die Katholiken. Wir hatten Glück gehabt, uns hatte eine Gruppe katholischer Widerstandskämpfer erwischt. Sie behielten uns während dieses harten Winters, als man im Osten bereits die russischen Geschütze donnern hörte und der Vormarsch näher kam. Im Januar erkrankte mein Kamerad an Lungenentzündung; ich versuchte, ihn gesund zu pflegen, aber es gab keine Antibiotika. Er starb, und wir begruben ihn im Wald.«
Preston kaute melancholisch an seinen Broten und trank den Kaffee. Er mußte nur noch wenige Seiten lesen.
»Im März 1945 waren die Russen plötzlich da. In unserem Wald konnten wir hören, wie ihre Panzer und Geschütze auf den Landstraßen nach Westen rumpelten. Die Polen entschlossen sich, in den Wäldern zu bleiben, aber ich hielt es nicht mehr aus. Sie zeigten mir den Weg, und eines Morgens stolperte ich mit erhobenen Händen aus dem Wald und ergab mich einer Abteilung russischer Soldaten.
Zuerst hielten sie mich für einen Deutschen und hätten mich beinahe erschossen. Aber die Polen hatten mir beigebracht, ich müsse >Angleeski< rufen, was ich zu wiederholten Malen tat. Die Russen ließen ihre Gewehre sinken und riefen einen Offizier. Er sprach kein Englisch, aber er sah sich meine Hundemarke an und sagte etwas zu den Soldaten, worauf sie übers ganze Gesicht grinsten. Aber wenn ich gehofft hatte, die Heimat bald wiederzusehen, so hatte ich mich getäuscht. Sie übergaben mich dem NKWD.
Fünf Monate lang wurde ich in verschiedenen dumpfen, eiskalten Zellen einer brutalen Behandlung unterworfen. Die ganze Zeit über blieb ich in Einzelhaft. Mehrmals wurde ich unter Anwendung des dritten Grades verhört, denn ich sollte gestehen, daß ich ein Spion sei. Ich weigerte mich und wurde nackt zurück in meine Zelle gebracht. Im späten Frühjahr (in Europa ging der Krieg zu Ende, aber das wußte ich nicht) war ich so sehr geschwächt, daß ich wenigstens eine Pritsche zum Schlafen bekam und besseres Essen, das indes nach südafrikanischen Maßstäben noch immer ungenießbar war.
Dann muß irgendein Befehl von oben eingegangen sein. Im August 1945 wurde ich, mehr tot als lebendig, in einem Lastwagen nach Potsdam gebracht und dort der britischen Army übergeben. Ich erfuhr mehr Freundlichkeit, als ich schildern kann. Nachdem ich einige Zeit in einem Lazarett in der Nähe von Bielefeld gepflegt worden war, kam ich nach England. Im EMS Hospital von Killearn nördlich von Glasgow verbrachte ich weitere drei Monate, und im Dezember 1945 schiffte ich mich endlich in Southampton auf der He de France nach Kapstadt ein, wo ich Ende Januar 1946 ankam.
In Kapstadt erfuhr ich vom Tod meines Vaters, des einzigen Angehörigen, den ich besaß. Der Schock bewirkte einen Rückfall, und ich mußte wiederum für zwei Monate ins Wynberg-Lazarett in Kapstadt.
Jetzt bin ich als vollständig gesund entlassen und bewerbe mich hiermit um eine Anstellung beim auswärtigen Dienst der Republik Südafrika.«
Preston klappte den Ordner zu, und Viljoen blickte auf.
»Well«, sagte der Südafrikaner, »seine berufliche Karriere verlief stetig und einwandfrei, wenn auch ohne Glanzpunkte. Er brachte es bis zum Ersten Sekretär. Er hatte acht Auslandsposten inne, immer in ausgesprochen prowestlichen Ländern. Acht sind ziemlich viel, aber er ist Junggeselle, und das macht bei den Diensten vieles leichter, ausgenommen auf der Botschafter- oder Ministerebene, wo eine Ehefrau mehr oder weniger vorausgesetzt wird. Glauben Sie immer noch, daß er irgendwo unterwegs umgefallen ist?«
Preston zuckte die Achseln. Viljoen beugte sich vor und tippte auf die Akte.
»Sie wissen jetzt, was diese russischen Schufte ihm angetan haben. Deshalb glaube ich, daß Sie unrecht haben, Mr. Preston. Er ißt also gern Eiscreme und hat sich beim Telefonieren verwählt. Reiner Zufall.«
»Mag sein«, sagte Preston. »Dieser Lebenslauf. Irgendetwas daran ist seltsam.«
Captain Viljoen schüttelte den Kopf.
»Wir arbeiten an dieser Akte, seit Ihr Sir Nigel Irvine den General anrief. Wir haben sie immer wieder durchgelesen. Alles stimmt genau. Alle Namen, Daten, Orte, Army-Lager, Truppeneinheiten, Feldzüge, jedes winzigste Detail. Sogar die Ernten, die vor dem Krieg im Mootseki-Tal eingebracht wurden. Das hat uns das Landwirtschaftsministerium bestätigt. Jetzt werden dort droben Tomaten und Avocados angebaut, aber damals waren es vorwiegend Kartoffeln und Tabak. Niemand könnte diese Geschichte erfunden haben. Nein, wenn er wirklich auf Abwege geriet, was ich bezweifle, dann irgendwo im Ausland.«
Prestons Miene war mürrisch. Draußen begann es zu dämmern.
»All right«, sagte Viljoen. »Ich bin da, um Ihnen zu helfen. Womit möchten Sie jetzt beginnen?«
»Ich möchte mit dem Anfang beginnen«, sagte Preston. »Dieser Ort namens Duiwelskloof, ist das weit von hier?«
»Ungefähr vier Autostunden. Wollen Sie hinfahren?«
»Ja, bitte. Könnten wir zeitig aufbrechen? Sagen wir, morgen früh um sechs?«
»Ich bestelle einen Dienstwagen und bin um sechs Uhr in Ihrem Hotel«, sagte Viljoen.
Es war eine lange Strecke, aber die Autostraße Pretoria - Zimbabwe ist neu gebaut, und Viljoen hatte einen neutralen Chevair genommen, den Typ, den NIS gewöhnlich benutzt. Er fuhr zügig durch Nylstroom und Potgietersrus bis Pietersburg, wo sie nach drei Stunden anlangten. Die Fahrt gab Preston Gelegenheit, die gewaltigen, grenzenlosen Horizonte Afrikas zu sehen, die einen an kleinere Dimensionen gewöhnten Europäer stets tief beeindrucken.
In Pietersburg bogen sie nach Osten ab und fuhren fünfzig Kilometer durchs flache Middle Veld. Wieder erstreckten sich endlose Horizonte unter einem blaßblauen Himmel, bis die Männer an den steilen Buffelberg gelangten, wo das Middle Veld zum Mootseki-Tal abfällt. Als sie die Serpentinen hinunterfuhren, hielt Preston den Atem an.
Tief unter ihnen lag das Tal, reich und üppig. Auf der offenen Talsohle standen an die tausend bienenkorbförmige afrikanische Hütten, Rondavels genannt, umgeben von Kraals, Viehpferchen und Maisfeldern. Ein paar Rundhütten klebten auch an der Flanke des Buffelberges, aber die meisten standen im Talboden verstreut. Aus den Öffnungen in der Dachmitte stieg Holzrauch auf, und sogar aus der großen Höhe und Entfernung konnte Preston die afrikanischen Jungen sehen, die kleine Herden höckeriger Rinder hüteten, und die Frauen, die sich über ihre Gartenbeete beugten.
Dies hier, dachte er, ist endlich das Afrika der Afrikaner. So ungefähr muß es schon ausgesehen haben, als Moselikatse, der Gründer des Matabele-Reichs, mit seinen Kaffernkriegern nach Norden marschierte, um dem Zorn Tschakas zu entfliehen, den Limpopo überquerte und das Königreich der Langschildleute gründete. Die holprige Straße wand sich den steilen Hang hinunter ins Mootseki-Tal. Jenseits des Tals verlief eine zweite Hügelkette, und dazwischen ein tiefer Einschnitt, durch den die Straße führte. Das war die Schlucht Duiwelskloof, die sogenannte Teufelskluft.
Nach zehn Minuten waren sie unten und rollten langsam an der neuen Elementarschule vorbei die Botha Avenue entlang, die Hauptstraße des kleinen Gemeinwesens.
»Wohin möchten Sie?« fragte Viljoen.
»Als der alte Marais starb, muß er ein Testament hinterlassen haben«, überlegte Preston. »Und es muß vollstreckt worden sein, durch einen Rechtsanwalt. Läßt sich feststellen, ob es in Duiwelskloof einen Anwalt gibt und ob er an einem Samstagvormittag zu sprechen ist?«
Viljoen fuhr an Kirstens Autowerkstatt vor und wies über die Straße zum Gasthof.
»Trinken Sie da drüben eine Tasse Kaffee und bestellen Sie mir auch einen. Ich werde auftanken und mich umhören.«
Fünf Minuten später saß er mit Preston in der Gaststube.
»Es gibt einen Anwalt«, sagte er, während er seinen Kaffee trank. »Er ist Engländer und heißt Benson. Gleich auf der anderen Straßenseite, zwei Häuser von der Autowerkstatt entfernt. Gehen wir rüber.«
Mr. Benson war anwesend. Viljoen wies der Sekretärin eine Karte im Plastikumschlag vor, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Die Frau sagte etwas auf afrikaans in die Wechselsprechanlage, und die beiden Männer wurden unverzüglich in das Büro von Mr. Benson geführt. Mr. Benson, ein freundlicher rosiger Herr im rehbraunen Anzug, begrüßte seine Besucher in Afrikaans. Viljoen antwortete in seinem akzentbehafteten Englisch.
»Darf ich Ihnen Mr. Preston vorstellen; er kommt aus England, aus London. Er möchte Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
Mr. Benson bat die Männer, Platz zu nehmen, und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
»Bitte«, erwiderte er, »ich bin gern behilflich.«
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?« begann Preston. Benson blickte ihn erstaunt an.
»Sind Sie aus London bis hierher gereist, um zu fragen, wie alt ich bin? Also, ich bin dreiundfünfzig.«
»Demnach sind Sie 1946 zwölf Jahre alt gewesen?«
»Stimmt.«
»Können Sie mir bitte sagen, wer zu jener Zeit Anwalt in Duiwelskloof war?«
»Gewiß. Mein Vater, Cedric Benson.«
»Lebt er noch?«
»Ja. Er ist über achtzig und hat mir die Firma vor fünfzehn Jahren übergeben. Aber er ist noch sehr rührig.«
»Wäre es möglich, mit ihm zu sprechen?«
Statt einer Antwort griff Mr. Benson zum Telefon und wählte eine Nummer. Offenbar sprach er mit seinem Vater, denn der Sohn erklärte, es seien zwei Herren gekommen, einer davon aus London, die ihn sprechen wollten. Dann legte er auf.
»Er wohnt ungefähr zehn Kilometer entfernt, aber er fährt noch immer seinen Wagen, zum Schrecken aller Verkehrsteilnehmer. Er sagte, er werde sofort kommen.«
»Könnten Sie inzwischen in Ihren Akten aus dem Jahr 1946 nachsehen, ob Sie oder vielmehr Ihr Vater Testamentsvollstrecker eines hier ansässigen Farmers namens Laurens Marais gewesen sind, der im Januar 1946 starb?« bat Preston.
»Ich will's versuchen«, sagte Benson junior. »Es kann natürlich sein, daß Mr. Marais einen Anwalt aus Pietersburg hatte. Aber damals hielten die Leute sich lieber an einen ortsansässigen Anwalt. Der Karton 1946 muß noch irgendwo stecken. Einen Augenblick bitte.«
Er verließ das Büro. Die Sekretärin brachte Kaffee. Nach zehn Minuten hörte man Stimmen im Vorzimmer. Die beiden Bensons betraten gemeinsam den Raum, der Sohn trug einen staubigen Karton. Der Senior hatte einen schneeweißen Haarschopf und wirkte so munter wie ein Fisch im Wasser. Nach der Begrüßung brachte Preston sein Anliegen vor.
Wortlos setzte Old Benson sich hinter den Schreibtisch und überließ es seinem Sohn, sich eine andere Sitzgelegenheit zu suchen. Über den Brillenrand hinweg blickte er die Besucher an.
»Ich erinnere mich an Laurens Marais«, sagte er. »Und wir haben nach seinem Tod auch das Testament vollstreckt. Ich selbst.«
Der Sohn reichte ihm ein verstaubtes und verblichenes Dokument, das mit einem rosa Band zusammengebunden war. Der alte Mann blies den Staub weg, knotete das Band auf und öffnete den Schriftsatz. Schweigend begann er zu lesen. »Ah ja, jetzt weiß ich es wieder. Er war Witwer. Lebte allein. Hatte einen Sohn, Jan. Ein tragischer Fall. Der Junge war gerade aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekommen. Laurens Marais wollte hinunter nach Kapstadt, um ihn zu besuchen, da starb er. Tragisch.«
»Wie lautete sein Letzter Wille?« fragte Preston.
»Der Sohn bekam alles«, sagte Benson. »Farm, Haus, Geräte, Einrichtung. Nur die üblichen kleinen Legate an Bargeld für die eingeborenen Landarbeiter, den Vormann und so weiter.«
»Irgendwelche persönlichen Vermächtnisse, irgend etwas Privateres?« bohrte Preston weiter.
»Hm. Nur eine Sache. >Und meinem alten, guten Freund Joop Van Rensberg meine Schachfiguren aus Elfenbein, zur Erinnerung an die vielen friedlichen Abende, die wir bei diesem Spiel auf der Farm zubrachten.< Sonst nichts.«
»War der Sohn wieder in Südafrika, als der Vater starb?« fragte Preston.
»Muß er gewesen sein. Der alte Laurens wollte ihn doch in Kapstadt besuchen. War damals eine lange Reise. Keine Flugverbindung. Man fuhr mit dem Zug.«
»Haben Sie sich auch mit dem Verkauf der Farm und der übrigen Besitztümer befaßt, Mr. Benson?« »Die Farm wurde von einem Auktionshaus versteigert, direkt an Ort und Stelle. Sie ging an die Van Zyls. Sie kauften das Ganze, Das Anwesen gehört jetzt Bertie Van Zyl. Aber ich war als Testamentsvollstrecker dabei.«
»Waren keine persönlichen Andenken da, die nicht verkauft wurden?« fragte Preston. Der alte Mann runzelte die Stirn.
»Nicht viel. Alles ging in Bausch und Bogen weg. Oh, ich erinnere mich an ein Fotoalbum. Es hatte keinen Verkaufswert. Ich glaube, ich habe es Mr. Van Rensberg gegeben.«
»Wer war er?«
»Der Lehrer«, fiel der Sohn ein. »Ich ging bei ihm in die Schule, bis ich nach Merensky kam. Er leitete die alte Gemeindeschule, ehe die Elementarschule gebaut wurde. Dann ging er in Pension, hier in Duiwelskloof.«
»Lebt er noch?«
»Nein, er ist vor etwa zehn Jahren gestorben«, sagte der alte Benson. »Ich war bei der Beerdigung.«
»Aber er hatte eine Tochter«, schaltete sein Sohn sich wieder ein. »Cissy. Sie war mit mir in der Merensky-Schule. Muß mein Jahrgang sein.«
»Wissen Sie, was aus ihr geworden ist?«
»Sicher. Sie ist längst verheiratet. Mit einem Sägewerksbesitzer draußen an der Straße nach Tzaneen.«
»Eine letzte Frage«, wandte Preston sich an den Senior. »Warum wurde der ganze Besitz verkauft? Wollte ihn der Sohn nicht haben?«
»Offenbar nicht. Er lag damals im Wynberg-Lazarett. Er hat mir ein Telegramm geschickt. Ich bekam seine Adresse von den Militärbehörden, und sie beglaubigten auch seine Identität. In dem Telegramm bat er mich, den gesamten Besitz zu veräußern und das Geld telegrafisch an ihn zu überweisen.«
»Ist er denn nicht zur Beerdigung gekommen?«
»Dazu war keine Zeit. Im Januar ist in Südafrika Hochsommer. Leichenhäuser gab es damals kaum. Die Toten mußten unverzüglich beerdigt werden. Ich glaube sogar, er ist überhaupt nie wieder hierhergekommen. Verständlich. Zu wem hätte er auch kommen sollen.«
»Wo liegt Laurens Marais begraben?«
»Auf dem Friedhof droben auf dem Hügel«, sagte Benson senior. »Ist das alles? Dann gehe ich jetzt zum Lunch.«
Das Klima ist östlich und westlich der Berge von Duiwelskloof grundverschieden. Westlich des Höhenzugs, in Mootseki, fallen pro Jahr durchschnittlich fünfzig Zentimeter Regen. Auf der Ostseite stauen sich die schweren Wolken, die vom Indischen Ozean herkommen, über Mozambique und den Krüger-Nationalpark ziehen und gegen die Berge prallen, deren Osthänge von der vierfachen Regenmenge getränkt werden. Den Haupterwerbszweig bilden hier die Eukalyptuswälder. Nachdem sie zehn Kilometer auf der Straße nach Tzaneen gefahren waren, fanden Viljoen und Preston die Sägemühle von Mr. du Plessis. Seine Frau, die Lehrerstochter, öffnete ihnen. Sie war eine rundliche Person um die Fünfzig, mit Apfelbäckchen und mit Mehl an Händen und Schürze. Sie war gerade beim Backen.
Sie hörte sich aufmerksam an, worum es ging, dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich weiß noch, daß mein Vater zur Farm hinausging und mit Marais Schach spielte, als ich noch ein kleines Mädchen war«, sagte sie. »Es muß um 1944/45 gewesen sein. Ich erinnere mich auch an die Elfenbeinfiguren, aber nicht an das Album.«
»Haben Sie Ihren Vater nicht beerbt, als er starb?« fragte Preston.
»Nein«, sagte Mrs. du Plessis. »Wissen Sie, meine Mutter starb 1955, und Daddy blieb allein zurück. Ich führte ihm bis zu meiner Heirat 1958 den Haushalt. Damals war ich dreiundzwanzig. Danach kam er gar nicht mehr zurecht. Sein Haus war immer in einem schrecklichen Zustand. Ich ging anfangs immer noch zu ihm, um für ihn zu kochen und aufzuräumen. Aber als die Kinder kamen, wurde es zuviel.
Dann starb im Jahr 1960 der Mann meiner Tante, Vaters Schwester, und auch sie blieb allein zurück. Sie hatte in Pietersburg gewohnt. Es lag nahe, daß sie zu meinem Vater zog und für ihn sorgte. Das tat sie auch. Ich bat meinen Vater, alles ihr zu hinterlassen - das Haus, die Möbel und so weiter.« - »Was wurde aus der Tante?« fragte Preston.
»Oh, sie wohnt noch immer dort. Es ist ein bescheidener Bungalow direkt hinter dem Gasthof in Duiwelskloof.«
Mrs. du Plessis fuhr mit ihnen hin. Die Tante, Mrs. Winter, war zu Hause: ein fröhlicher Spatz von einer Frau, mit blaugetöntem Haar. Nachdem sie ihren Besuchern zugehört hatte, ging sie zu einem Schrank und holte eine flache Schachtel heraus.
»Der arme Joop hat immer so gern damit gespielt«, sagte sie. Es war das Schachspiel aus Elfenbein. »Haben Sie danach gesucht?«
»Eigentlich nicht«, sagte Preston, »ich suche das Fotoalbum.«
Sie überlegte.
»Auf dem Dachboden ist noch eine Kiste mit altem Zeug«, sagte sie. »Ich hab' sie nach dem Tod meines Bruders hinaufgeschafft. Nur Papiere und Sachen aus seiner Lehrerzeit.«
Andries Viljoen stieg auf den Dachboden und brachte alles herunter. Unter einem Stapel vergilbter Schulberichte lag das Familienalbum der Marais'. Preston blätterte es langsam durch. Es war alles da: die zarte hübsche Braut aus dem Jahr 1920, die schüchtern lächelnde Mutter von 1930, der Junge, der mit konzentrierter Miene auf seinem ersten Pony ritt, der Vater, Pfeife zwischen den Zähnen, der versuchte, sich den Stolz auf seinen Sohn, der neben ihm stand, nicht allzu sehr anmerken zu lassen, vor den beiden eine Strecke Kaninchen auf dem Gras.
Auf der letzten Seite klebte das Schwarzweißfoto eines Jungen in Krickethosen, eines hübschen Burschen von siebzehn Jahren, der zum Wurf gegen den Dreistab ausholte. Die Unterschrift lautete: »Janni, Kapitän der Kricketmannschaft von Merensky, 1943.«
»Darf ich dieses Bild behalten?« fragte Preston.
»Gern«, sagte Mrs. Winter.
»Hat Ihr verstorbener Bruder jemals mit Ihnen über Mr. Marais gesprochen?«
»Manchmal«, sagte sie. »Die beiden waren viele Jahre lang eng befreundet.«
»Hat Ihr Bruder Ihnen erzählt, woran Mr. Marais starb?«
Sie war erstaunt.
»Hat Ihnen das der Anwalt denn nicht gesagt? Ts, ts, ts.
Der alte Cedric muß nicht mehr ganz beisammen sein. Es war ein Unfall mit Fahrerflucht, sagte mir Joop. Der alte Marais war offenbar aus seinem Auto gestiegen, um einen geplatzten Reifen zu reparieren, und wurde von einem Lastwagen erfaßt. Damals nahm man an, daß es betrunkene Kaffern waren - hoppla!« - sie schlug die Hand auf den Mund und blickte Viljoen verlegen an. »Ich sollte das wirklich nicht mehr sagen. Also, wie dem auch sei, es kam niemals heraus, wer den Lastwagen gefahren hat.«
Auf dem Weg hügelabwärts zur Hauptstraße kamen sie am Friedhof vorbei. Preston bat Viljoen, er möge anhalten. Es war ein schönes stilles Fleckchen hoch über der Stadt, von Tannen und Fichten gesäumt, überragt von einem in der Mitte stehenden alten M'wateba-Baum mit gespaltenem Stamm und umzogen von einer Hecke aus Weihnachtssternen. In einer Ecke entdeckten die Männer einen bemoosten Stein. Preston kratzte das Moos ab und fand in den Granit gemeißelt die Inschrift: »Laurens Marais, 1879-1946. Geliebter Gatte von Mary und Vater von Jan Marais. Der Herr sei mit ihm. R. I. P.«
Preston ging hinüber zur Hecke, brach einen flammenden Blütenzweig ab und legte ihn vor den Stein. Viljoen sah ihn erstaunt an.
»Pretoria, bitte«, sagte Preston.
Als sie aus dem Mootseki-Tal zum Buffelberg hinanklommen, drehte Preston sich um und warf einen Blick zurück über das Tal. Dunkelgraue Gewitterwolken hatten sich hinter der Teufelskluft zusammengeballt. Sie kamen rasch näher und verhüllten die kleine Stadt samt dem makabren Geheimnis, das nur einem Engländer mittleren Alters in einem abfahrenden Auto bekannt war. Preston legte den Kopf zurück und schlief ein.
An diesem Abend wurde Harold Philby aus dem Gästetrakt in das Wohnzimmer des Generalsekretärs geleitet, der ihn bereits erwartete. Philby legte dem alten Mann mehrere Dokumente vor. Der Generalsekretär las sie und ließ sie dann sinken.
»Es sind nicht viele Leute beteiligt«, sagte er.
»Erlauben Sie, daß ich auf zwei wichtige Punkte hinweise, Genosse Generalsekretär. Erstens hielt ich es wegen der extremen Vertraulichkeit von Plan Aurora für angezeigt, die Zahl der Teilnehmer auf das absolute Minimum zu beschränken, und selbst von diesen wenigen werden nicht alle über alles informiert sein.
Zweitens müssen, obgleich dies widersprüchlich erscheint, wegen der extrem kurz bemessenen Zeit noch ein paar Ecken gekappt werden. Die wochen- oder sogar monatelangen Besprechungen, die gewöhnlich zur Vorbereitung einer aktiven Maßnahme nötig sind, müssen auf Tage zusammengeschoben werden.«
Der Generalsekretär nickte bedächtig.
»Erklären Sie, warum Sie diese Männer brauchen.«
»Schlüsselfigur der ganzen Operation«, fuhr Philby fort, »ist der Ausführende, der Mann, der nach England geht, dort eine Zeitlang als Brite lebt und schließlich Plan Aurora durchführt.
Zwölf Kuriere oder >Mulis< werden ihn mit allem versorgen, was er braucht. Sie müssen die Objekte ins Land schmuggeln, entweder durch den Zoll oder, wo möglich, an einer unbewachten Stelle. Keiner der Kuriere wird wissen, was er befördert oder warum; jeder hat Zeit und Ort eines Treffs und eines unter Umständen notwendigen Ausweichtreffs auswendig gelernt. Jeder wird sein Päckchen dem Ausführenden übergeben und dann hierher zurückkehren, wo er sofort in totale Quarantäne kommt. Nur einer - abgesehen vom Ausführenden - wird nicht mehr zurückkehren. Aber das darf keiner der beiden Männer wissen.
Die Kuriere unterstehen dem Versandleiter, der auch dafür verantwortlich ist, daß die Sendungen den Ausführenden in England erreichen. Mit dem Versandleiter wird ein Beschaffungs- und Versorgungsoffizier zusammenarbeiten, der den Inhalt der Päckchen beizubringen hat. Dieser Mann wird vier Untergebene haben, von denen jeder ein Spezialist auf seinem Gebiet ist.
Der eine wird die Ausweispapiere und die Beförderung der Kuriere besorgen; der zweite kümmert sich um die Hochtechnologie; der dritte besorgt die ausgearbeiteten Werkstücke, und der vierte ist für die Nachrichtenübermittlung zuständig. Es wird von größter Wichtigkeit sein, daß der Ausführende uns über Fortschritte, Probleme und vor allem über den Zeitpunkt informieren kann, zu dem er einsatzbereit ist; und wir müssen ihn über jede Änderung des Plans informieren können und ihm natürlich den Startbefehl geben.
Zur Nachrichtenübermittlung wäre noch etwas zu sagen. Der Zeitfaktor schließt die üblichen Übermittlungen per Post und bei persönlichen Zusammentreffen aus. Wir können uns mit dem Ausführenden durch chiffrierte Morsesignale in Verbindung setzen, die wir unter Benutzung von Einmalcodes über die
Frequenzen des Moskauer Rundfunks ausstrahlen. Aber für den Fall, daß er eine dringende Mitteilung an uns hat, muß ihm irgendwo in England ein Sender zur Verfügung stehen. Es ist altmodisch und riskant, eigentlich nur für Kriegszeiten gedacht. Aber es muß sein. Wie Sie sehen werden, habe ich es erwähnt.«
Der Generalsekretär vertiefte sich wieder in die Papiere und zählte nach, wie viele Personen für die Durchführung des Plans erforderlich sein würden. Schließlich blickte er auf.
»Sie bekommen Ihre Leute«, sagte er. »Ich lasse sie Stück für Stück aussuchen, die besten, die wir haben, und auf ihre besonderen Pflichten vorbereiten.
Und noch etwas. Ich wünsche nicht, daß irgend jemand, der mit Aurora zu tun hat, in irgendeiner Form mit den KGB-Leuten in unserer Rezidentura an der Londoner Botschaft Kontakt aufnimmt. Man weiß nie, wer unter Beobachtung steht, oder -«
Was immer seine zweite Befürchtung sein mochte, er sprach sie nicht aus.