Teil III

  

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1. Kapitel

 

Brian Harcourt-Smith hörte aufmerksam zu. Er hatte sich zurückgelehnt, die Augen zur Zimmerdecke gerichtet, die Finger spielten mit einem schlanken goldenen Drehstift.

»War's das?« fragte er, als Preston seinen Bericht beendet hatte. - »Ja«, sagte Preston.

»Dieser Dr. Wynne-Evans, ist er bereit, seine Schlußfolgerungen schriftlich niederzulegen?«

»Keine Schlußfolgerungen, Brian. Er gibt eine wissenschaftliche Analyse des Metalls und nennt die beiden einzigen bekannten Anwendungsgebiete. Und, ja, er hat sich einverstanden erklärt, einen schriftlichen Bericht zu verfassen. Als Ergänzung zu meinem eigenen.«

»Und Ihre eigenen Schlußfolgerungen? Oder müßte ich wissenschaftliche Analyse sagen?«

Preston ignorierte den Spott.

»Ich halte es für offenkundig, daß der Matrose Semjonow nach Glasgow kam, um diese Dose und ihren Inhalt in einem toten Briefkasten zu deponieren oder persönlich jemandem zu übergeben, den er treffen sollte«, sagte er. »In jedem Fall bedeutet das, daß irgendwo hier vor Ort ein Illegaler steckt. Wir könnten doch versuchen, ihn zu finden.«

»Eine bestechende Idee. Leider haben wir keinen Hinweis, wo wir anfangen sollen. Lassen Sie mich ganz offen sein, John. Sie bringen mich hier - wieder einmal - in eine äußerst schwierige Lage. Ich sehe wirklich nicht, wie ich diese Geschichte nach oben weiterleiten soll, solange Sie mir nicht ein bißchen mehr Beweise liefern als nur eine Scheibe aus Edelmetall, die bei einem bedauernswerten toten russischen Seemann gefunden wurde.«

»Die Scheibe wurde als die eine Hälfte des Initiators für nukleares Gerät identifiziert«, erwiderte Preston. »Als >nur ein Stück Metall< kann man das kaum bezeichnen.«

»Na schön. Also: die Hälfte von etwas, das vielleicht als Auslöser dienen könnte für etwas, das vielleicht eine Bombe sein könnte; vielleicht für einen sowjetischen Illegalen bestimmt, der sich vielleicht in England aufhält. Glauben Sie mir, John, wenn Sie mir Ihren kompletten Bericht vorlegen, so werde ich mich wie immer sehr ernsthaft damit beschäftigen.«

»Und ihn dann als KWV ablegen?« fragte Preston.

Harcourt-Smiths Lächeln war ausdauernd und gefährlich.

»Nicht unbedingt. Jeder Bericht, ob von Ihnen oder von anderen, wird seinem Wert entsprechend behandelt. Und jetzt würde ich vorschlagen, daß Sie versuchen, mir irgendeinen handfesten Beweis zu bringen, der die Ihnen offenbar so teure Verschwörungstheorie untermauert. Machen Sie sich gleich ans Werk.«

»All right«, sagte Preston und stand auf. »Ich werde mich ins Zeug legen.«

»Tun Sie das«, sagte Harcourt-Smith.

Als Preston gegangen war, nahm der stellvertretende Generaldirektor sich die Liste der Hausanschlüsse vor und rief den Chef des Personalbüros an.

Am folgenden Tag, Mittwoch, dem 15., landete gegen Mittag eine Maschine der British Midland Airways aus Paris auf dem West-Midlands-Flugplatz von Birmingham. Unter den Passagieren befand sich ein junger Mann mit einem dänischen Paß.

Der Name auf dem Paß war ebenfalls dänisch, und hätte irgendein Neugieriger den jungen Mann auf dänisch angesprochen, so wäre ihm eine fließende Antwort zuteil geworden. Der Mann hatte die Anfangsgründe dieser Sprache von seiner dänischen Mutter gelernt und seine Kenntnisse in verschiedenen Sprachenschulen und bei Dänemarkreisen vervollkommnet.

Sein Vater jedoch war Deutscher gewesen, und der junge Mann war, eine ganze Weile nach dem Zweiten Weltkrieg, in Erfurt zur Welt gekommen und aufgewachsen, somit Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Überdies war er Offizier beim Staatssicherheitsdienst der DDR.

Er wußte nicht, worum es bei seiner Reise nach England ging, und er wollte es auch nicht wissen. Seine Instruktionen waren einfach, und er befolgte sie bis ins kleinste. Nachdem er Zoll- und Paßkontrolle ohne Schwierigkeiten durchlaufen hatte, nahm er ein Taxi und ließ sich zum Hotel Midland an der New Street bringen. Während der Fahrt und der Anmeldung im Hotel schonte er sorglich den linken Arm, der in einem Gipsverband steckte. Man hatte ihm eingeschärft, er dürfe unter gar keinen Umständen versuchen, seine Reisetasche mit dem »gebrochenen« Arm anzuheben.

Nachdem er auf sein Zimmer gegangen war und die Tür abgeschlossen hatte, begann er, den Gipsverband mit der kräftigen Stahlschere zu bearbeiten, die ganz unten in seinem Waschbeutel gesteckt hatte; vorsichtig schnitt er die perforierte Linie an der Innenseite des Unterarms entlang.

Als die Gipshülle ganz durchtrennt war, zog er sie so weit auseinander, daß er Arm, Gelenk und Hand frei bekam. Den leeren Gipsverband legte er in eine mitgebrachte Tragtüte aus Plastik.

Er blieb den ganzen Nachmittag in seinem Zimmer, so daß die Tagschicht am Empfang ihn nicht ohne den Gips zu sehen bekam, und verließ das Hotel erst spätabends, nach dem Personalwechsel.

Der Zeitungskiosk an der New Street Station war ihm als Treffpunkt genannt worden, und zur angegebenen Zeit näherte sich ihm eine Gestalt im schwarzledernen Motorraddreß. Der geflüsterte Austausch der Parole dauerte nur Sekunden, die Tüte wechselte den Träger, und die Gestalt im Lederanzug war verschwunden. Keiner der beiden Männer hatte die Blicke eines Passanten auf sich gezogen.

Bei Tagesanbruch, als die Nachtschicht noch im Dienst war, meldete der Däne sich im Hotel ab, nahm den Frühzug nach Manchester und flog vom dortigen Flughafen ab, wo niemand ihn bisher gesehen hatte, mit oder ohne Gipsverband. Er flog via Hamburg, war bei Sonnenuntergang wieder in Berlin und wechselte am Checkpoint Charlie als dänischer Staatsbürger auf die andere Seite der Mauer über. Drüben erwarteten ihn seine Leute, hörten sich seinen Bericht an und brachten ihn weg. Kurier Nummer drei hatte geliefert.

John Preston war ärgerlich. Die Urlaubswoche, die er mit Tommy hatte verbringen wollen, fiel ins Wasser. Der Dienstag war großenteils mit der Berichterstattung bei Harcourt-Smith vergangen, und Tommy hatte sich die Zeit mit Lesen und Fernsehen vertreiben müssen.

Am heutigen Mittwochvormittag hatte Preston sich nicht von dem geplanten gemeinsamen Besuch von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett abbringen lassen, aber am Nachmittag ging er ins Büro, um seinen schriftlichen Bericht zu beenden. Auf seinem Schreibtisch fand er einen Brief von Crichton, dem Personalchef, vor. Er las ihn und wollte seinen Augen nicht trauen.

Das Schreiben war, wie üblich, im liebenswürdigsten Ton gehalten. Ein Blick in die Akten habe gezeigt, daß Preston noch vier Wochen Urlaub zustünden; er kenne natürlich die Dienstvorschrift; das Fortschreiben von Urlaubsansprüchen werde aus naheliegenden Gründen nicht gern gesehen; unbedingt nötig, mit dem Urlaub auf dem laufenden zu sein; bla, bla, bla. Kurz, er habe seinen Resturlaub unverzüglich anzutreten, das heißt am nächsten Morgen.

»Verdammte Idioten!« beschimpfte er die Bürokraten im allgemeinen. »Brauchen einen Blindenhund, damit sie aufs Klo finden.«

Er rief die Personalabteilung an und verlangte energisch, Crichton persönlich zu sprechen.

»Tim, ich bin's, John Preston. Sagen Sie, was soll der Brief auf meinem Schreibtisch? Ich kann jetzt nicht Urlaub nehmen; ich arbeite an einem Fall, bin mittendrin... ja, ich weiß, es ist wichtig, daß man den Urlaub nicht übers Jahr hinaus verschiebt, aber dieser Fall ist auch wichtig, sogar noch verdammt viel wichtiger, also -«

Er hörte sich die Erklärung des Personalchefs an, wonach das ganze System zusammenbrechen müsse, wenn die Leute zuviel Urlaub zusammenkommen ließen, dann unterbrach er ihn.

»Tim, machen wir's kurz. Rufen Sie doch einfach Brian Harcourt-Smith an. Er wird bestätigen, daß ich an einem wichtigen Fall arbeite. Ich kann den Urlaub im Sommer nehmen.«

»John«, sagte Tim Crichton sanft, »dieser Brief wurde auf ausdrücklichen Befehl Brians geschrieben.«

Preston starrte eine ganze Weile das Telefon an.

»Ach so«, sagte er schließlich und legte auf.

»Wo gehen Sie hin?« fragte Bright, als Preston zur Tür stürzte.

»Ich brauche einen ordentlichen Drink«, sagte Preston.

Es war schon weit über die Lunchzeit, und die Bar war fast leer. Die letzten Hungrigen waren noch nicht von den ersten Durstigen abgelöst worden. In einer Ecke saß ein Paar aus der Charles Street beim Tête-à-tête, also schwang Preston sich auf einen Hocker an der Theke. Er wollte allein sein.

»Whisky«, sagte er, »einen doppelten.«

»Für mich das gleiche«, sagte eine Stimme neben ihm. »Und diese Runde geht an mich.«

Preston wandte sich um und sah Barry Banks von K.7.

»Hallo, John«, sagte Banks. »Kam gerade durch die Halle und sah Sie hier runterflitzen. Möchte Ihnen nur sagen, daß ich etwas für Sie habe. Der Meister läßt schön danken.«

»Ach ja, das. Keine Ursache.«

»Ich bring' es Ihnen morgen ins Büro«, sagte Banks.

»Nicht die Mühe wert«, sagte Preston bitter. »Wir feiern hier nämlich meine vier Wochen Urlaub. Ab morgen. Obligatorisch. Cheers.«

»Kein Grund zum Jammern«, sagte Banks beschwichtigend. »Die meisten Leute können's gar nicht erwarten, von hier rauszukommen.«

Er hatte schon bemerkt, daß Preston eine Laus über die Leber gelaufen sein mußte, und wollte seinem Kollegen von MI5 näheres darüber entlocken. Allerdings konnte er Preston nicht sagen, daß er von Sir Nigel Irvine den Auftrag hatte, Mr. Harcourt-Smiths schwarze Schafe zu hüten und zu berichten, was er dabei in Erfahrung brachte.

Nach einer Stunde und drei weiteren Whiskys war Preston noch immer in Trübsinn versunken.

»Vielleicht sollte ich meinen Abschied einreichen«, sagte er plötzlich. Banks, der ein guter Zuhörer war und nur dann und wann ein Wort dazwischenwarf, um weitere Informationen zu ergattern, war beunruhigt.

»Ziemlich drastisch«, sagte er. »Steht es so schlimm?«

»Hören Sie, Barry, es macht mir nichts aus, aus zwanzigtausend Fuß Höhe abzuspringen. Es macht mir nicht einmal etwas aus, einen Schuß abzukriegen, wenn der Fallschirm sich öffnet. Aber wenn der Schuß von der eigenen Flak stammt, krieg' ich eine Stinkwut. Ist das so absurd?«

»Finde ich absolut verständlich«, sagte Banks. »Und wer schießt auf Sie?«

»Der Schlaumeier ganz oben«, grollte Preston. »Habe wieder einmal einen Bericht geschrieben, der ihm offenbar nicht gefällt.«

»Wieder als KWV gelandet?«

Preston zuckte die Achseln.

»Wird er bestimmt.«

Die Tür ging auf, und ein Schwarm Leute drängte herein. In ihrer Mitte Brian Harcourt-Smith, umgeben von einigen seiner Abteilungsleiter. Preston leerte sein Glas.

»So, jetzt heißt's scheiden und meiden. Will mit meinem Jungen heute abend ins Kino gehen.«

Als Preston gegangen war, leerte auch Barry Banks sein Glas, überhörte eine Aufforderung, sich der Gruppe an der Theke anzuschließen, und ging in sein Büro. Von dort führte er ein langes Telefongespräch mit »C« in dessen Büro in Sentinel House.

Major Petrofski kam erst in den frühen Morgenstunden des Donnerstag wieder in Cherryhayes Close an. Den schwarzen Lederanzug und den Visierhelm hatte er zusammen mit der BMW in der Garage in Thetford gelassen. Als er den kleinen Ford leise auf den betonierten Platz vor seiner Garage fuhr, trug er einen unauffälligen Anzug und einen leichten Regenmantel. Niemand sah ihn oder die Tragtüte aus Plastik in seiner Hand, als er ins Haus ging.

Er verschloß die Tür hinter sich, ging nach oben und zog die Sockelschublade des Kleiderschranks auf. Sie enthielt ein Transistorradio. Er legte den leeren Gipsverband dazu.

Er beschäftigte sich mit keinem der beiden Gegenstände. Er wußte nicht, was sie enthielten, und er war auch nicht neugierig.

Das war Sache des Monteurs, der erst eintreffen und sich ans Werk machen würde, wenn alle notwendigen Einzelteile an Ort und Stelle waren.

Ehe er zu Bett ging, machte er sich eine Tasse Tee. Insgesamt sollten neun Kuriere kommen. Das bedeutete neun Treffs und neun Ausweichtreffs, fills die ersten nicht zustande kämen. Er hatte sie alle im Kopf und dazu noch weitere sechs für die drei zusätzlichen Kuriere, die notfalls als Ersatzleute benutzt werden müßten.

Einen von ihnen würde man jetzt in Marsch setzen müssen, da Kurier Nummer zwei nicht erschienen war. Petrofski hatte keine Ahnung warum. Major Wolkow im fernen Moskau kannte den Grund. Moskau hatte einen ausführlichen Bericht des Konsuls aus Glasgow erhalten, der seiner Regierung versichert hatte, sämtliche Effekten des toten Matrosen lägen wohlverschlossen im Polizeirevier Partick und würden auch bis auf weiteres dort bleiben.

Petrofski ging im Geist seine Liste durch. Kurier Nummer vier war in vier Tagen fällig, der Treff sollte im Londoner West End stattfinden. Der Morgen des 16. dämmerte bereits, als er einschlief. Als letztes hörte er noch das Gewimmer des Milchwagens und das Klappern der morgendlichen Zustellungen.

Diesmal trat Banks offener auf. Er wartete auf Preston am Eingang zu dessen Wohnblock, als der Mann von MI5 am Freitagnachmittag mit Tommy auf dem Beifahrersitz angefahren kam.

Die beiden waren im Luftfahrt-Museum von Hendon gewesen, wo der Junge, begeistert von den Kampfflugzeugen vergangener Zeiten, verkündet hatte, er wollte Pilot werden, wenn er erwachsen sei. Sein Vater wußte, daß er sich schon für mindestens sechs Berufe entschieden hatte und daß noch vor Jahresende weitere hinzukommen würden. Es war ein schöner Nachmittag gewesen.

Banks schien überrascht, als er den Jungen sah; er war offensichtlich nicht auf dessen Anwesenheit gefaßt gewesen. Er nickte und lächelte, und Preston stellte ihn als »jemand aus dem Büro« vor.

»Was ist jetzt wieder los?« fragte Preston.

»Einer meiner Kollegen möchte Sie nochmals sprechen«, sagte Banks vorsichtig.

»Vielleicht am Montag?« fragte Preston. Am Sonntag würde seine Woche mit Tommy enden. Dann mußte er den Jungen nach Mayfair zu Julia bringen.

»Eigentlich erwartet er Sie schon jetzt.«

»Wieder auf dem Rücksitz eines Autos?« fragte Preston.

»Ah, nein. Kleine Wohnung, die wir in Chelsea haben.«

Preston seufzte.

»Sagen Sie mir, wo es ist. Ich fahre hin, und Sie gehen inzwischen mit Tommy in der Nähe ein Eis essen.«

»Muß erst nachfragen«, sagte Banks.

Er betrat die nahe gelegene Telefonzelle. Preston und sein Sohn warteten beim Auto. Banks kam zurück und nickte.

»Geht in Ordnung«, sagte er und gab Preston einen Zettel. Preston fuhr los, während Tommy Banks den Weg zu seiner Lieblings-Eisdiele zeigte.

Die Wohnung war klein und diskret, in einem modernen Häuserblock nicht weit von der Chelsea Manor Street. Sir Nigel öffnete selber. Wie üblich war er ganz altväterliche Höflichkeit.

»Mein lieber John, wie nett, daß Sie gekommen sind.«

Wäre ihm von vier Muskelmännern ein Mensch, verschnürt wie ein Brathuhn, angeschleppt worden, er hätte gleichfalls gesagt: »Wie nett, daß Sie gekommen sind.«

Als sie in dem kleinen Wohnzimmer saßen, brachte der Meister Prestons ersten Bericht zum Vorschein.

»Aufrichtigen Dank. Außerordentlich interessant.«

»Aber offenbar nicht glaubwürdig.«

Sir Nigel warf dem Jüngeren einen scharfen Blick zu, wählte jedoch seine Worte mit Bedacht.

»Das möchte ich nicht unbedingt sagen.«

Dann lächelte er flüchtig und wechselte das Thema.

»Bitte nehmen Sie es Barry nicht übel, ich habe ihn gebeten, ein Auge auf Sie zu haben. Es scheint, daß Sie bei Ihrer Arbeit zur Zeit nicht allzu glücklich sind.«

»Ich arbeite zur Zeit nicht, Sir. Ich habe Zwangsurlaub.«

»Wie ich vermutete. Hängt mit irgendwas in Glasgow zusammen.«

»Haben Sie noch keinen Bericht über die Sache erhalten, die vergangene Woche dort passiert ist? Es ging um einen russischen Matrosen, den ich für einen Kurier halte. Das geht doch zweifellos Sechs an?«

»Der Bericht wird bestimmt bald kommen«, sagte Sir Nigel. »Würden Sie so freundlich sein und mich ins Bild setzen?«

Preston fing mit dem Anfang an und erzählte die ganze Geschichte, soweit er sie kannte. Sir Nigel wirkte sehr nachdenklich, und war es auch: Mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit nahm er jedes Wort in sich auf, und mit dem anderen Teil stellte er Berechnungen an.

Sie würden es nicht wirklich versuchen, oder doch? dachte er. Das vierte Protokoll würden sie nicht brechen? Oder doch? Verzweifelte Menschen greifen manchmal zu verzweifelten Maßnahmen, und er wußte aus verschiedenen Gründen, daß die UdSSR auf so manchem Gebiet, in der Nahrungsmittelproduktion, der Wirtschaft und in Afghanistan, in einer verzweifelten Lage war. Plötzlich wurde er gewahr, daß Preston aufgehört hatte zu sprechen.

»Bitte verzeihen Sie«, sagte er. »Was schließen Sie aus alledem?«

»Ich glaube, daß Semjonow kein Handelsmatrose war, sondern ein Geheimkurier. Es scheint mir unabweisbar. Er hat alles getan, um das, was er bei sich trug, zu schützen, und sich das Leben genommen, um dem zu entgehen, was er sich unter einem Verhör durch uns vorgestellt haben muß. Warum? Weil man ihm eingeschärft hatte, daß sein Auftrag von entscheidender Wichtigkeit sei.«

»Leuchtet ein«, gab Sir Nigel zu. »Folglich?«

»Folglich glaube ich, daß diese Poloniumscheibe für einen Empfänger bestimmt war, der sie entweder bei einem Treff oder aus einem toten Briefkasten bekommen sollte. Das bedeutet, daß dieser Mann sich hier aufhält, in England. Ich meine, wir sollten versuchen, ihn zu finden.«

Sir Nigel verzog das Gesicht.

»Wenn er ein Spitzenmann ist, dann könnten wir ebensogut eine Nadel im Heuhaufen suchen«, murmelte er.

»Ja, das weiß ich.«

»Um welche Befugnisse hätten Sie nachgesucht, wenn Sie nicht in Zwangsurlaub geschickt worden wären?«

»Ich glaube, Sir Nigel, daß mit einer einzigen Poloniumscheibe niemand etwas anfangen kann. Was immer der Illegale vorhaben mag, er braucht noch weiteres Zubehör. Nun scheint es, daß derjenige - wer immer das sein mag -, der Semjonow herübergeschickt hat, aus ganz bestimmten Gründen entschlossen ist, nicht die Diplomatenpost der Sowjetbotschaft zu benutzen. Ich weiß nicht, warum, denn es wäre soviel einfacher gewesen, ein kleines bleigefüttertes Päckchen per Diplomatenpost nach England zu schicken und es von einem der N-Leute in einem toten Briefkasten deponieren zu lassen, wo der Mann vor Ort es hätte abholen können. Also frage ich mich, warum das nicht gemacht wurde. Und die Antwort lautet schlicht: Ich weiß es nicht.«

»Richtig«, räumte Sir Nigel ein. »Folglich?«

»Folglich kann es, wenn diese Lieferung für sich allein nutzlos ist, nicht dabei bleiben. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit müssen noch weitere Lieferungen kommen. Und sie werden offenbar entweder ahnungslosen Reisenden mitgegeben oder Kurieren, die als harmlose Seeleute oder Gott weiß was sonst auftreten.«

»Und was möchten Sie am liebsten unternehmen?« fragte Sir Nigel.

Preston holte tief Atem.

»Wenn es nach mir ginge«, sagte er betont, »würde ich alle Einreisen aus der Sowjetunion in den vergangenen vierzig, fünfzig, ja sogar hundert Tagen nachträglich überprüfen. Auf einen weiteren Straßenüberfall würde ich wohl kaum stoßen, aber es könnte sich ein anderer Zwischenfall ereignet haben. Wenn nicht, so würde ich die Kontrollen bei allen Einreisenden aus der UdSSR verschärfen, ja sogar aus dem gesamten Ostblock. Möglicherweise könnten wir auf diese Weise eine weitere Lieferung abfangen. Als Chef von C.5. (C) hätte ich das tun können.«

»Und jetzt, glauben Sie, haben Sie diese Möglichkeit nicht mehr?«

Preston schüttelte den Kopf.

»Selbst wenn ich morgen meine Arbeit wieder aufnehmen dürfte, würde man mir mit ziemlicher Sicherheit diesen Fall wegnehmen. Offenbar bin ich ein Panikmacher und Unruhestifter.«

Sir Nigel nickte nachdenklich.

»Grenzüberschreitungen zwischen Dienststellen gelten nicht gerade als feine Lebensart«, sagte er wie zu sich selbst. »Als ich Sie bat, für mich nach Südafrika zu fliegen, hat Sir Bernard seinen Segen dazu gegeben. Später erfuhr ich, diese Abstellung habe, obwohl sie nur kurzfristig war, bei gewissen Stellen in Charles zu - wie soll ich es ausdrücken - Mißhelligkeiten geführt.

Mir liegt wirklich nicht an einem offenen Zerwürfnis mit meinem Schwesterdienst. Andererseits bin ich, gleich Ihnen, der Ansicht, daß an diesem Eisberg mehr dran sein könnte als nur die Spitze. Also, Sie haben noch drei Wochen Urlaub. Wären Sie willens, während dieser Zeit an dem Fall zu arbeiten?«

»Für wen?« fragte Preston verblüfft.

»Für mich«, sagte Sir Nigel. »Ins Sentinel House könnten Sie nicht kommen. Man würde Sie sehen, es würde sich herumsprechen.«

»Wo sollte ich dann arbeiten?«

»Hier«, sagte »C«. »Es ist klein, aber behaglich. Ich bin befugt, genau die gleichen Informationen einzuholen wie Sie, wenn Sie an Ihrem Schreibtisch säßen. Jeder Zwischenfall, in den ein Bürger der Sowjetunion oder eines Ostblockstaats verwickelt ist, wird registriert, entweder schriftlich oder in einem Computer. Da Sie nicht zu den Akten oder zu dem Computer kommen können, sorge ich dafür, daß die Akten und die Computerausdrucke zu Ihnen kommen. Was sagen Sie dazu?«

»Wenn Charles Street dahinterkommt, bin ich in Fünf erledigt«, sagte Preston. Er dachte an sein Gehalt, seine Pension, an die Aussichten, in seinem Alter einen neuen Job zu bekommen; er dachte an Tommy.

»Wie lange, glauben Sie, wird unter der augenblicklichen Leitung noch Ihres Bleibens in Charles sein?« fragte Sir Nigel.

Preston lachte kurz auf.

»Nicht lange«, sagte er. »All right, Sir, ich mach's. Ich möchte an diesem Fall dranbleiben. Da steckt irgend etwas dahinter.«

Sir Nigel nickte anerkennend.

»Sie sind ein hartnäckiger Mensch, John. Ich habe viel für Hartnäckigkeit übrig. Sie macht sich fast immer bezahlt. Kommen Sie Montag um neun hierher. Zwei von meinen eigenen Jungens werden Sie erwarten. Sagen Sie ihnen nur, was Sie haben wollen, und sie werden es Ihnen bringen.«

Am selben Montagvormittag, an dem Preston in Chelsea mit seiner Arbeit anfing, landete der international berühmte tschechische Konzertpianist aus Prag auf dem Flugplatz Heathrow, da er am nächsten Abend ein Konzert in Wigmore Hall geben sollte.

Die Flughafenbehörden waren verständigt worden, und mit Rücksicht auf den hohen Gast wurden die Zoll- und Einreiseformalitäten so schonend wie möglich abgewickelt. Der greise Musiker wurde in der Ankunftshalle von einem Mitarbeiter der Konzertagentur Victor Hochhauser begrüßt und zusammen mit seinem kleinen Gefolge unverzüglich zu seiner Suite im Hotel Cumberland gebracht.

Das Gefolge bestand aus drei Personen: dem Garderobier, der sich hingebungsvoll um die Kleidung und sonstigen persönlichen Reiseutensilien des Maestro kümmerte; einer Sekretärin, die seine Fan-Post und Korrespondenz erledigte; und seinem Impresario, einem großen Mann mit Leichenbittermiene namens Lichka, der für Verhandlungen mit Konzertagenten und für die Finanzen zuständig war und ausschließlich von Natrontabletten zu leben schien.

An diesem Montag konsumierte Mr. Lichka ein ungewöhnlich großes Pillenquantum. Was er jetzt tun mußte, tat er sehr ungern, aber die Leute vom StB besaßen große Überredungskraft. Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hatte, widersetzte sich offen den Männern des StB, der tschechoslowakischen Geheimpolizei und Geheimdienstorganisation, oder ließ es darauf ankommen, zwecks weiterer Gespräche in ihr Hauptquartier vorgeladen zu werden, das gefürchtete Kloster. Die Leute hatten Lichka klargemacht, daß die Aufnahme seiner Enkelin in die Universität bedeutend leichter zu erreichen sei, wenn er ihnen helfen wolle, womit sie ihm auf höfliche Weise beigebracht hatten, daß das Mädchen andernfalls nicht die geringste Chance habe, zum Studium zugelassen zu werden.

Als sie ihm seine Schuhe zurückgaben, konnte er keine Spur einer Manipulation entdecken; er hatte sie, wie befohlen, auf dem Flug getragen und war mit ihnen durch den Flughafen Heathrow marschiert.

Am Abend trat ein Mann an die Hotelrezeption und fragte höflich nach Mr. Lichkas Zimmernummer. Sie wurde ihm ebenso höflich genannt. Fünf Minuten später, genau zu der Zeit, die ihm angegeben worden war, klopfte jemand leise an Lichkas Tür. Ein Zettel wurde unter der Tür durchgeschoben. Er las den verabredeten Code, öffnete die Tür einen Spalt weit und reichte eine Plastiktüte hinaus, in der das Paar Schuhe steckte. Eine unsichtbare Hand nahm die Tüte, und er schloß die Tür. Als er den Zettel in die Toilette gespült hatte, atmete er auf. Es war leichter gewesen, als er angenommen hatte. Jetzt, dachte er, wollen wir uns wieder unserer Musik zuwenden.

Noch vor Mitternacht lagen die Schuhe zusammen mit dem Gipsverband und dem Transistorradio in einer Schublade in einem stillen Winkel von Ipswich. Kurier Nummer vier hatte geliefert.

Sir Nigel Irvine suchte Preston am Freitagnachmittag in der Wohnung in Chelsea auf. Der Mann von MI5 sah erschöpft aus, und in der ganzen Wohnung stapelten sich Akten und Computerausdrucke.

Seit fünf Tagen arbeitete er, bisher ohne Erfolg. Er hatte mit den Leuten begonnen, die während der vergangenen vierzig Tage aus der UdSSR nach England eingereist waren. Es waren Hunderte gewesen. Delegationsmitglieder, Geschäftsleute, Journalisten, Gewerkschaftler, eine Chorgemeinschaft aus Georgien, eine Kosakentanztruppe; zehn Sportler und ihr ganzer Hofstaat und eine Gruppe von Ärzten, die zu einem Kongreß in Manchester reiste. Und das waren erst die Russen.

Ferner waren alle möglichen heimkehrenden Touristen aus der Sowjetunion gekommen; von den Kulturkonsumenten, die zur Eremitage von Leningrad gepilgert waren, über die Schulklasse, die in Kiew gesungen hatte, bis hin zu der Friedensdelegation, die der sowjetischen Propagandamaschinerie reichlich Nahrung geliefert hatte, indem sie bei Pressekonferenzen in Moskau und Charkow ihr eigenes Land schmähten.

Diese Liste enthielt noch nicht die Aeroflot-Crews, die im Rahmen des normalen Flugverkehrs ein- und ausreisten, so daß der Erste Offizier Romanow nicht erwähnt wurde.

Natürlich fand sich auch kein Hinweis auf einen Dänen, der aus Paris nach Birmingham gekommen und von Manchester aus wieder abgeflogen war.

Am Mittwoch hatte Preston begriffen, daß es zwei Möglichkeiten gab: bei den Einreisen aus der UdSSR bleiben, aber sechzig Tage zurückblättern; oder das Netz weiter auslegen und alle Einreisenden aus allen Ostblockländern erfassen. Das bedeutete Tausende und Abertausende von Überprüfungen. Er hatte beschlossen, bei der Vierzig-Tage-Frist zu bleiben, aber die Suche auf alle kommunistischen Staaten auszuweiten. Die Papierflut stieg ihm bald bis zum Gürtel. Die Zollbehörden waren ihm behilflich. Es hatte ein paar Beschlagnahmungen gegeben, aber immer nur wegen Überschreitung der Menge bei zollfreien Waren. Unter den beschlagnahmten Artikeln hatte sich nichts Rätselhaftes befunden. Bei der Einwanderungsstelle waren keine »aufgetakelten« Pässe vorgelegt worden, aber das war zu erwarten gewesen. Die ausgefallenen und phantastischen Schriftstücke, die manchmal von Reisenden aus der dritten Welt bei der Paßkontrolle vorgezeigt werden, kommen bei Leuten aus dem Ostblock niemals vor. Nicht einmal abgelaufene Pässe, die den häufigsten Grund für eine Zurückweisung durch die Einreisebehörde bilden. In den kommunistischen Ländern werden die Pässe der Ausreisenden so gründlich überprüft, daß eine Panne bei der Einreise in England kaum möglich ist.

»Und somit«, sagte Preston finster, »bleiben nur noch die Nichtüberprüfbaren. Die Handelsmatrosen, die, ohne kontrolliert zu werden, in über zwanzig Handelshäfen an Land gehen; die Besatzungen der schwimmenden Fischfabriken, die jetzt vor Schottland schippern; die Crews der Luftfahrtgesellschaften, die kaum jemals überprüft werden; und die Einreisenden mit Diplomatenstatus.«

»Ganz wie ich dachte«, sagte Sir Nigel. »Nicht leicht. Haben Sie denn eine Ahnung, wonach Sie suchen?«

»Ja, Sir. Am Montag habe ich einen Ihrer Jungens nach Aldermaston zu den Atomphysikern geschickt. Nach deren Ansicht dürfte die Poloniumscheibe sich zur Zündung einer Bombe eignen, die zugleich klein, unkompliziert in der Bauart und von relativ geringer Brisanz ist; wenn man bei einem atomaren Sprengkörper überhaupt von >relativ geringer Brisanz< sprechen kann.«

Er reichte Sir Nigel eine Liste.

»Das dürften in etwa die Dinge sein, die wir suchen.«

»C« studierte die Liste der Zubehörteile.

»Ist das alles, was man dazu braucht?« fragte er schließlich.

»Für das Baukastenmodell, ja. Ich hatte keine Ahnung, wie einfach die Dinger hergestellt werden können. Abgesehen vom spaltbaren Uran und dem Stahlpanzer könnte das Zeug fast überall versteckt werden, ohne aufzufallen.«

»Und wie soll es jetzt weitergehen, John?«

»Ich suche nach einem Bewegungsmuster, Sir Nigel. Die einzige Möglichkeit. Ein Muster aus Ein- und Ausreisen derselben Paßnummer. Wenn ein oder zwei Kuriere verwendet werden, so müssen die häufig ein- und ausreisen und dabei verschiedene Ein- und Ausreiseorte benutzen, wahrscheinlich auch verschiedene Abreiseorte im Ausland; sollte sich dabei ein Muster zeigen, so könnten wir eine landesweite Fahndung nach einer beschränkten Anzahl von Paßnummern auslösen. Es ist nicht viel, aber mehr habe ich nicht.«

Sir Nigel stand auf.

»Bleiben Sie dran, John. Ich verschaffe Ihnen Zugang zu allem, was Sie wollen. Inzwischen wollen wir beten, daß, wer immer unser Gegner sein mag, er nur einen einzigen Fehler macht, indem er denselben Kurier mehrmals einsetzt.«

Aber dazu war Major Wolkow zu gut. Er machte keinen Fehler. Er hatte keine Ahnung, was die Zubehörteile waren, noch wozu sie dienen sollten. Er wußte nur, daß er Befehl hatte, sie sicher nach England zu schaffen und rechtzeitig für eine Reihe von Treffs auf der Insel zu sorgen; er wußte, daß jeder Kurier Zeit und Ort seines ersten Treffs und des Ausweichtreffs im Kopf haben mußte und daß nichts über die KGB-Rezidentura an der Londoner Botschaft gehen durfte.

Er mußte neun Sendungen und zwölf wohl vorbereitete Geheimkuriere ins Land schmuggeln. Einige der Männer waren keine Profis, das wußte er, aber wenn ihre Tarnung hieb- und stichfest und ihre Reise Wochen und Monate im voraus arrangiert war, wie bei dem Tschechen Lichka, hatte er nichts dagegen.

Um Generalmajor Borisow nicht durch die Entnahme weiterer zwölf Illegaler und deren Legenden argwöhnisch zu machen, hatte er seine Netze über das Gebiet der UdSSR hinaus ausgeworfen und drei der »Schwester«-Dienste eingespannt: den tschechoslowakischen Geheimdienst StB, den polnischen SB und den alleruntertänigsten und blindlings gehorchenden Geheimdienst der DDR, die Hauptverwaltung Aufklärung, kurz FTVA.

Die Ostdeutschen hatten gegenüber den Polen und Tschechen in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich und England einen großen Vorzug. Wegen der ethnischen Identität von Ost- und Westdeutschen und der Tatsache, daß bereits Millionen früherer Ostdeutscher nach Westdeutschland geflohen sind, führt die HVA von ihrer Ostberliner Basis aus weit mehr Illegale im Westen als irgendein anderer Geheimdienst des Ostblocks.

Wolkow hatte nur zwei Russen einsetzen wollen, und zwar sollten sie als erste hinübergehen. Er konnte nicht wissen, daß einer von ihnen von Rowdys überfallen werden würde, und er hatte keine Ahnung, daß die Lieferung des falschen Matrosen nicht mehr in dem Glasgower Polizeirevier unter Verschluß lag. Er wandte stets dreifache Vorsichtsmaßnahmen an, weil das seiner Natur und seiner Ausbildung entsprach.

Für die restlichen sieben Sendungen benutzte er einen polnischen Kurier, zwei tschechische (einschließlich Lichka) und vier ostdeutsche. Auch den zehnten Kurier, den Ersatzmann für den toten Kurier Nummer zwei, stellten die Polen. Für die technischen Änderungen, die an zwei Motorfahrzeugen vorgenommen werden mußten, benutzte er sogar eine HVA- eigene Werkstätte in der Bundesrepublik, genau gesagt, in Braunschweig.

Nur die beiden Russen und der Tscheche Lichka reisten von Städten im Ostblock ab; und nun auch noch der zehnte Mann, der von der polnischen Luftfahrtgesellschaft LOT sein mußte.

Wolkow sorgte mit allen Mitteln dafür, daß keines der Muster, die Preston in der inzwischen zu einem Meer angewachsenen Papierflut suchte, zum Vorschein kam.

Sir Nigel Irvine versuchte, wie so viele Menschen, die in London arbeiten müssen, an den Wochenenden zum Luftschnappen aufs Land zu fahren. Die Woche über blieben er und Lady Irvine in London, aber sie besaßen ein kleines rustikales Cottage in Südwest-Dorset, auf der Insel Purbeck, in einem Dorf namens Langton Matravers.

An diesem Sonntag hatte »C« sich mit Tweedjacke und Hut ausgerüstet, einen kräftigen Eschenstock mitgenommen und war die Straßen und Wege entlangmarschiert, bis zu den Klippen über Chapman's Pool am St. Alban's Head. Die Sonne schien, aber der Wind war kühl. Die silbernen Haarbüschel, die über Sir Nigels Ohren unter dem Hut hervorlugten, flatterten wie kleine Flügel. Er schlug den Klippenpfad ein und wanderte in tiefen Gedanken dahin. Dann und wann blieb er stehen und blickte hinaus auf die schäumenden Wellenkämme des Ärmelkanals.

Er dachte über die Schlüsse nach, die sich aus Prestons erstem Bericht ziehen ließen, und darüber, wie auffallend sie mit dem übereinstimmten, was Sweeting in seiner Klause in Oxford ausgeknobelt hatte. Zufall? Leeres Stroh? Solide Anhaltspunkte? Oder nur ein Haufen Unsinn, den ein allzu phantasievoller Beamter und ein erfinderischer Gelehrter zusammengetragen hatten? Und wenn es kein Unsinn wäre, wo könnte die Verbindung zu einer kleinen Poloniumscheibe zu suchen sein, die sich aus Leningrad in ein Glasgower Polizeirevier verirrt hatte?

Wenn die Metallscheibe das war, wofür Wynne-Evans sie hielt, was bedeutete dies dann? Konnte es bedeuten, daß irgend jemand, weit jenseits dieser anbrandenden Wogen, wirklich versuchte, das vierte Protokoll zu brechen?

Und wenn ja, wer könnte dieser Jemand sein? Schebrikow und Kryutschow, im Auftrag des KGB? Nein, sie würden nie wagen, etwas Derartiges zu tun, es sei denn auf Befehl des Generalsekretärs. Und wenn es der Generalsekretär war, warum?

Und warum benutzte man nicht die Diplomatenpost? So viel einfacher, leichter, sicherer. Hier glaubte er, einen Grund erblicken zu können. Alles, was über die Botschaft ging, ging auch über die KGB-Rezidentura. Sir Nigel wußte besser als Schebrikow, Kryutschow oder der Generalsekretär, daß die Rezidentura infiltriert war. Er selber hatte seine Quelle Andrejew dort sitzen.

Das ergab einen Sinn. Der Generalsekretär hatte seit einiger Zeit allen Grund, wegen der Flut von Überläufern aus dem KGB bestürzt zu sein. Nach allem, was man erfuhr, hatte die Enttäuschung in Rußland auf allen Ebenen so weit um sich gegriffen, daß sogar die Elite der Elite davon erfaßt worden war. Zu den Desertionen, die Ende der siebziger Jahre eingesetzt hatten und während der achtziger Legion geworden waren, kamen noch die Massenausweisungen sowjetischer Diplomaten rund um die Welt, die mit den verzweifeltsten Mitteln versucht hatten, Agenten anzuwerben und nur erreichten, daß die Lage noch verzweifelter wurde, nachdem die als Diplomaten getarnten Agentenführer ausgewiesen wurden, und die Netze in größter Verwirrung zurückblieben. Sogar die Länder der dritten Welt, die noch vor einem Jahrzehnt nach der sowjetischen Pfeife tanzten, fanden zur Eigenständigkeit und wiesen Sowjetagenten wegen groben Verstoßes gegen die diplomatischen Spielregeln aus.

Ja, eine größere Operation unter Umgehung des KGB würde ins Bild passen. Sir Nigel hatte aus sicherer Quelle gehört, daß der Generalsekretär eine Art Verfolgungswahn entwickle, was eine westliche Infiltration des KGB anging. Wetten, so hieß es in Geheimdienstkreisen, daß auf jeden Verräter, der überläuft, einer kommt, der noch immer vor Ort arbeitet.

Dort drüben also gab es einen Mann, der Kuriere und ihre Lieferungen nach England schickte; gefährliche Lieferungen, die Anarchie und Chaos bringen sollten, in einem Ausmaß, das Sir Nigel noch nicht absehen konnte, aber immer weniger bezweifelte, je weiter er in seinen Überlegungen fortschritt. Und dieser Mann arbeitete für einen weiteren Mann, einen sehr hochgestellten, der diese kleine Insel gar nicht liebte.

»Aber du wirst sie nicht finden, John«, murmelte er in den gleichgültigen Wind. »Du bist gut, aber sie sind besser. Und sie halten die Trümpfe in der Hand.«

Sir Nigel war einer der letzten Grandseigneurs, Angehöriger einer aussterbenden Rasse, die auf allen Ebenen der Gesellschaft von neuen Männern eines anderen Typus ersetzt wurde, auch in den höchsten Regionen des Geheimdiensts, wo Kontinuität in Stil und Typus sozusagen zum Mobiliar gehörten.

Also blickte er hinaus über den Kanal, wie schon so viele Engländer vor ihm, und traf seine Entscheidung. Noch stand nicht fest, daß das Land seiner Väter ernstlich bedroht war; fest stand hingegen, daß die Möglichkeit einer solchen Bedrohung existierte. Aber das genügte.

An derselben Küste, ein Stück weiter östlich, stand auf den Dünen über der kleinen Hafenstadt Newhaven in Sussex gleichfalls ein Mann und blickte auf die anbrandenden Wogen des Ärmelkanals.

Er trug einen schwarzledernen Motorradanzug, den Helm hatte er auf den Sitz seiner geparkten BMW gelegt. Ein paar Sonntagsausflügler mit ihren Kindern spazierten über die Dünen, aber sie schenkten ihm keine Beachtung.

Er beobachtete das Näherkommen eines Fährschiffs, das schon vor einiger Zeit am Horizont aufgetaucht war und sich auf die schützende Hafenmole zupflügte. In einer halben Stunde würde die aus Dieppe kommende Cornouailles anlegen. Kurier Nummer fünf müßte an Bord sein.

Kurier Nummer fünf stand tatsächlich auf dem Vorderdeck und sah die englische Küste herankommen. Er gehörte zu den Nichtmotorisierten und hatte eine Fahrkarte für das Fährschiff plus Anschlußzug nach London.

Sein Paß lautete auf den Namen Anton Zelewski, und so lautete auch sein wirklicher Name. Ein Paß der Bundesrepublik Deutschland, wie der Kontrollbeamte feststellte, aber das war nichts Besonderes. Hunderttausende Westdeutsche haben polnisch klingende Namen. Zelewski wurde durchgewinkt.

Der Zoll untersuchte seinen Koffer und die Tragtasche mit den zollfreien Waren, die er auf dem Schiff gekauft hatte. Die Flasche Gin und die fünfundzwanzig Zigarren in einem ungeöffneten Kistchen standen ihm zu. Der Zollbeamte ließ ihn weitergehen und wandte sich einem anderen Reisenden zu.

Zelewski hatte wirklich im Duty-free-Shop der Cornouailles ein Kistchen mit fünfundzwanzig guten Zigarren gekauft. Dann hatte er sich in einen Waschraum zurückgezogen, die Tür verriegelt, die Duty-free-Etiketten von dem soeben gekauften Kistchen abgelöst und auf ein zweites, genau gleich aussehendes Kistchen geklebt, das er mitgebracht hatte. Der zollfreie Einkauf flog über Bord und verschwand im Meer.

Im Zug nach London suchte er das der Lokomotive am nächsten gelegene Erste-Klasse-Abteil auf, setzte sich auf den für ihn reservierten Fensterplatz und wartete. Kurz vor Lewes ging die Abteiltür auf und ein in schwarzes Leder gekleideter Mann erschien. Mit einem Blick überzeugte er sich, daß der Deutsche allein im Abteil war.

»Fährt dieser Zug direkt nach London?« fragte er in tadellosem Englisch.

»Ich glaube, er hält auch in Lewes«, erwiderte Zelewski.

Der Mann streckte die Hand aus. Zelewski reichte ihm das Zigarrenkistchen. Der Mann steckte es ins Oberteil seiner Lederjacke, zog den Reißverschluß hoch, nickte und entfernte sich. Als der Zug nach dem Halt in Lewes anfuhr, sah Zelewski den Mann noch einmal: Er stand auf dem Bahnsteig, von dem die Züge in Richtung Newhaven abfahren.

Noch vor Mitternacht lagen die Zigarren bei dem Radio, dem Gipsverband und den Schuhen in Ipswich. Kurier Nummer fünf hatte geliefert.