7. Kapitel

 

Am ersten Tag passierte nichts. In der Nacht, während die Belegschaft schlief, gingen Brigadegeneral Capstick und John Preston ins Verteidigungsministerium und stellten die Zahl der angefertigten Fotokopien fest: sieben; drei von George Berenson, je zwei von den zwei anderen hohen Tieren, denen das Papier über die Insel Ascension zugegangen war, und keine vom vierten Mann.

Am Abend des zweiten Tages tat Mr. Berenson etwas Seltsames. Die Observanten berichteten, er habe seine Wohnung in Belgravia verlassen und sich zu einer nahe gelegenen Telefonzelle begeben. Welche Nummer er wählte, konnten sie nicht feststellen. Er sagte nur ein paar Worte, hängte auf und ging wieder heim. Warum, fragte Preston sich, sollte Berenson das tun, obwohl er ein tadellos funktionierendes Telefon in seiner Wohnung hatte - wofür Preston sich verbürgen konnte, schließlich hörte er es laufend ab.

Am dritten Tag, dem Donnerstag, verließ George Berenson das Ministerium zur üblichen Zeit, nahm ein Taxi und fuhr nach St. John's Wood. In der dortigen, eher dörflich anmutenden High Street befand sich eine Eisdiele. Berenson ging hinein, setzte sich und bestellte ein Sundae, eine Spezialität des Hauses.

John Preston saß im Funkraum der Cork Street und wartete auf die Meldungen des Leiters des Observantenteams. Len Stewart, der Leiter von Team A, meldete sich.

»Ich habe zwei Leute drinnen«, sagte er, »und zwei hier draußen auf der Straße. Und meine Wagen.«

»Was macht er dort drinnen?« fragte Preston.

»Seh' ich nicht«, sagte Stewart über seinen Autofunk.

»Muß warten, bis mir die Leute in der Eisdiele etwas melden können.«

Mr. Berenson hatte es sich inzwischen in einer Nische bequem gemacht, aß sein Eiscreme-Sundae und füllte die letzten Felder des Kreuzworträtsels im Daily Telegraph aus, den er seiner Aktenmappe entnommen hatte. Er nahm keine Notiz von dem Pärchen in Jeans, das in der Ecke knutschte.

Nach einer halben Stunde verlangte Berenson die Rechnung, ging damit zur Kasse, zahlte und ging.

»Er ist wieder auf der Straße«, meldete Len Stewart. »Meine beiden Leute sind im Lokal geblieben. Er geht jetzt die High Street entlang. Sucht vermutlich ein Taxi. Ich kann jetzt meine Leute drinnen sehen. Sie bezahlen gerade an der Kasse.«

»Fragen Sie Ihre Leute, was er dort drinnen getan hat«, sagte Preston. Irgend etwas ist faul an der Sache, dachte er. Schön, es mochte eine besonders gute Eisdiele sein, aber die gab es auch in Mayfair und im West End, direkt am Weg vom Ministerium nach Belgravia. Warum sollte jemand bis über den Regent's Park hinaus nach St. John's Wood fahren, nur um ein Eis zu essen?

Stewarts Stimme meldete sich wieder.

»Jetzt kommt ein Taxi. Er winkt ihm. Moment, meine Leute aus der Eisdiele sind da.«

Das Funkgerät schwieg eine Weile. Dann:

»Offenbar hat er sein Eis gegessen und das Kreuzworträtsel im Daily Telegraph gelöst. Dann hat er bezahlt und das Lokal verlassen.«

»Und die Zeitung?« fragte Preston.

»Hat er liegenlassen... Moment... Dann ging der Inhaber zum Tisch, wischte ihn ab und nahm den leeren Eisbecher und die Zeitung mit nach hinten in die Küche... Jetzt sitzt er im Taxi und ist losgefahren. Was sollen wir tun... dranbleiben?«

Preston überlegte fieberhaft. Harry Burkinshaw und Team B waren von Sir Richard Peters abgezogen worden und hatten ein

paar Tage frei. Sie waren wochenlang in Regen, Kälte und Nebel draußen gewesen. Jetzt war nur ein Team im Einsatz. Wenn er dieses Team aufteilte und Berenson verlor, so daß dessen Treff unbemerkt über die Bühne gehen konnte, würde Harcourt-Smith ihm das Fell über die Ohren ziehen. Er faßte einen Entschluß.

»Len, schicken Sie einen Wagen hinter dem Taxi her. Ich weiß, das reicht nicht, wenn der Kerl sich zu Fuß davonmacht. Aber alle übrigen Leute müssen die Eisdiele im Auge behalten.«

»Wird gemacht«, sagte Len Stewart und ging aus der Leitung.

Preston hatte Glück. Das Taxi fuhr zu Mr. Berensons Club im West End und setzte ihn dort ab. Er ging hinein. Allerdings, dachte Preston, konnte der Treff auch dort stattfinden.

Len Stewart betrat die Eisdiele und blieb bis Ladenschluß bei einem Kaffee und dem Evening Standard sitzen. Nichts geschah. Als geschlossen wurde, forderte man ihn auf, zu gehen, und er tat es. Das auf der Straße verteilte Vier-Mann-Team sah, wie die Angestellten herauskamen, der Inhaber die Tür abschloß, die Lichter erloschen.

Von der Cork Street aus versuchte Preston, das Telefon der Eisdiele anzuzapfen und die Identität des Inhabers feststellen zu lassen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um einen Signor Benotti, einen legal eingewanderten gebürtigen Neapolitaner, der seit zwanzig Jahren ein untadeliges Leben führte. Um Mitternacht waren die Telefone in der Eisdiele und in Signor Benottis Wohnung in Swiss Cottage angezapft. Ohne Ergebnis.

Preston verbrachte eine schlaflose Nacht in der Cork Street. Um zwanzig Uhr war Stewarts Ablösung eingetroffen, die die Eisdiele und Benottis Haus die ganze Nacht hindurch beobachtete. Am Freitagmorgen um neun Uhr ging Benotti zu Fuß wieder in seine Eisdiele und öffnete sie um zehn Uhr. Um die gleiche Zeit rückten Stewart und die Tagschicht an. Um elf Uhr meldete sich Stewart.

»An der Vordertür hält ein kleiner Lieferwagen«, sagte er zu Preston. »Der Fahrer verlädt offenbar Großpackungen mit Eiscreme. Scheint, daß sie Kunden beliefern.«

Preston rührte in seiner zwanzigsten Tasse mit scheußlichem Kaffee. Die Müdigkeit trübte allmählich sein Denken.

»Weiß ich«, sagte er. »Es war am Telefon davon die Rede. Schicken Sie einen Wagen und zwei Leute hinter dem Lieferauto her. Jeden Empfänger einer Bestellung notieren.«

»Dann bleiben mir nur noch ein Wagen und zwei Mann, mich eingeschlossen«, sagte Stewart. »Verdammt dünn im Stadtverkehr.«

»In der Charles Street wird gerade die Einteilung besprochen. Ich will versuchen, ein Extrateam lockerzumachen«, sagte Preston.

Der Eiscremewagen belieferte an diesem Vormittag zwölf Kunden, alle in der Gegend St. John's Wood - Swiss Cottage, und zwei sehr viel weiter südlich, in Marylebone.

Einige Lieferungen gingen in große Wohnblocks, wo die Observanten Mühe hatten, nicht aufzufallen, aber sie notierten jede Adresse. Dann fuhr der Lieferwagen zur Eisdiele zurück.

Am Nachmittag machte er keine Tour.

»Bringen Sie mir doch die Liste auf dem Heimweg in der Cork Street vorbei«, sagte Preston zu Stewart.

An diesem Abend berichteten die Lauscher, Berenson habe in seiner Wohnung vier Telefonanrufe erhalten. In einem Fall habe der Anrufer behauptet, sich verwählt zu haben. Berenson selber habe nirgends angerufen. Alles sei auf Band. Ob Preston das Band abspielen wolle? Es sei nichts auch nur annähernd Verdächtiges darauf. Er hörte es trotzdem ab.

Am Samstagvormittag beschloß Preston, eine minimale Chance wahrzunehmen. Mit Hilfe eines vom Technischen Dienst installierten Bandgeräts und eines Vorrats an Ausreden für seine Gesprächspartner rief er sämtliche Empfänger der Eiscremelieferungen an und fragte, wenn eine Frau das Telefon abnahm, ob er ihren Mann sprechen könne. Da Samstag war, klappte es bei allen, bis auf einen.

Eine der Stimmen kam ihm entfernt bekannt vor. Woran lag es? An einer Spur von Akzent? Und wo konnte er sie schon gehört haben? Er stellte den Namen des Teilnehmers fest. Der Name sagte ihm nichts.

In einem Lokal in der Nähe nahm er einen freudlosen Lunch zu sich. Beim Kaffee kam ihm die Erleuchtung. Er hastete zurück in die Cork Street und spielte die Bänder nochmals ab. Möglich; nicht sicher, aber möglich.

Scotland Yard besitzt im gewaltigen Instrumentarium seiner kriminalwissenschaftlichen Abteilung auch ein Labor für Stimmenanalyse, das gute Dienste leistet, wenn ein mutmaßlicher Verbrecher, dessen Telefon abgehört wird, die Stimme auf dem Tonband nicht als die seine anerkennen will. Da MI5 nicht über derartige Vorrichtungen verfügt, muß man sich in solchen Fällen an Scotland Yard wenden, was im allgemeinen über Special Branch erledigt wird.

Preston rief Sergeant Lander an, erreichte ihn zu Hause, und Lander erwirkte einen Termin noch an diesem Samstagnachmittag im Labor für Stimmanalyse in Scotland Yard. Es war nur ein Techniker erreichbar, und der riß sich höchst widerwillig von der Fernsehübertragung des Fußballspiels los, aber er tat es und kam ins Labor. Der magere junge Mann mit den dicken Brillengläsern spielte Prestons Bänder ein halbes dutzendmal ab und beobachtete dabei den Bildschirm des Oszilloskops, wo eine auf- und absteigende leuchtende Kurve die geringfügigsten Schwingungen in Klang und Modulation der Stimmen sichtbar machte.

»Dieselbe Stimme«, sagte er schließlich. »Ganz klarer Fall.«

Am Sonntag identifizierte Preston den Sprecher mit dem leichten Akzent anhand der Diplomatenliste. Dann rief er einen befreundeten Mitarbeiter der naturwissenschaftlichen Fakultät der Londoner Universität an und verdarb ihm durch ein recht massives Ansinnen seinen freien Tag. Schließlich klingelte er Sir Bernard Hemmings in dessen Haus in Surrey an.

»Sieht aus, als hätten wir dem Paragon-Ausschuß etwas zu berichten, Sir«, sagte er. »Vielleicht gleich morgen vormittag.«

Der Paragon-Ausschuß trat um elf Uhr zusammen, und Sir Anthony Plumb forderte Preston zur Berichterstattung auf. Etwas wie Erwartung lag in der Luft, Sir Bernard Hemmings' Miene war ernst.

Preston schilderte so knapp wie möglich, was sich in den ersten beiden Tagen nach der Verteilung des Papiers über die Insel Ascension ereignet hatte. Die Erwähnung von Berensons seltsamem, sehr kurzem Anruf aus einer öffentlichen Telefonzelle am Mittwochabend rief Interesse wach.

»Haben Sie diesen Anruf auf Band?« fragte Sir Peregrine Jones.

»Nein, wir konnten nicht nah genug heran«, antwortete Preston.

»Um was, glauben Sie, ging es?«

»Ich glaube, Mr. Berenson avisierte seinem Einsatzleiter eine fällige Sendung, wobei er vermutlich einen Code für Ort und Zeitpunkt benutzte.«

»Haben Sie dafür irgendeinen Beweis?« fragte Sir Hubert Villiers vom Innenministerium.

»Nein, Sir.«

Preston sprach nun vom Besuch der Eisdiele, vom liegengelassenen Daily Telegraph und davon, daß die Zeitung vom Inhaber persönlich weggeräumt wurde.

»Konnten Sie die Zeitung sicherstellen?« fragte Sir Paddy Strickland.

»Nein, Sir, eine Polizeiaktion in der Eisdiele zu diesem Zeitpunkt hätte die Festnahme Mr. Benottis und vielleicht Mr. Berensons zur Folge haben können, aber Benotti hätte seine Unkenntnis beschwören können, daß irgend etwas in der Zeitung steckte, und Mr. Berenson hätte behaupten können, es habe sich um eine böse Fahrlässigkeit seinerseits gehandelt.«

»Aber Sie glauben, der Besuch der Eisdiele sei die >Zustellung< gewesen?« fragte Sir Anthony Plumb.

»Ich bin überzeugt davon«, sagte Preston. Er beschrieb sodann die Lieferung von Eiscreme an ein Dutzend Kunden am folgenden Vormittag, wie er von elf dieser Kunden Stimmproben hatte nehmen können, und daß Berenson am selben Abend noch einen »Falsch verbunden«-Anruf erhalten habe.

»Die Stimme des Mannes, der ihn an jenem Abend anrief und behauptete, er habe sich verwählt, sich entschuldigte und auflegte, war die Stimme eines der Eiscremekunden.«

Eine Weile herrschte Schweigen. »Könnte es nicht ein Zufall sein?« fragte Sir Hubert Villiers zweifelnd. »In dieser Stadt kommt es schrecklich oft zu völlig harmlosen falschen Verbindungen. Krieg' selber dauernd welche.«

»Ich habe es gestern mit einem Bekannten durchgerechnet, der Zugang zu einem Computer hat«, sagte Preston unbeirrt. »Die Chancen, daß ein Mann in einer Zwölf-Millionen-Stadt eine Eisdiele aufsucht und ein Sundae ißt; daß diese Eisdiele am darauffolgenden Vormittag zwölf Kunden beliefert; daß einer dieser Kunden um Mitternacht den Eiscremeesser >versehentlich< anruft, diese Chancen stehen eins zu einer Million. Der Anruf Freitagnacht bestätigte den Erhalt der Sendung.«

»Mal sehen, ob ich richtig verstanden habe«, sagte Sir Perry Jones. »Berenson ließ sich von seinen drei Kollegen deren Fotokopien meines fiktiven Papiers geben und gab vor, sie im Reißwolf zu vernichten. In Wahrheit behielt er eine zurück. Er steckte sie in seine Zeitung und ließ die in der Eisdiele liegen. Der Inhaber nahm die Zeitung an sich, steckte das Geheimdokument in eine Plastikhülle und stellte es am nächsten Vormittag dem Einsatzleiter in einer Packung Eiscreme zu. Der Einsatzleiter ließ Berenson dann wissen, daß er es erhalten habe.«

»So hat es sich meiner Meinung nach abgespielt«, sagte Preston.

»Eins zu einer Million, daß es ein Zufall ist«, grübelte Sir Anthony Plumb. »Nigel, wie sehen Sie die Sache?«

Der Chef des SIS schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht an Zufälle von eins zu einer Million«, sagte er. »Nicht in unserer Branche, was, Bernard? Nein, es war schon eine Zustellung, von der Quelle zum Einsatzleiter über einen Strohmann, Signor Benotti. John Preston sieht das ganz richtig. Gratuliere. Berenson ist unser Mann.«

»Und was haben Sie getan, nachdem Sie diese Entdeckung machten, Mr. Preston?« fragte Sir Anthony.

»Ich lasse seitdem statt Mr. Berenson den Einsatzleiter überwachen«, sagte Preston. »Ich habe ihn identifiziert. Heute vormittag haben die Observanten und ich ihn von seiner Wohnung in Marylebone, wo er als Junggeselle allein lebt, bis zu seinem Büro verfolgt. Er heißt Jan Marais.«

»Jan? Klingt tschechisch«, sagte Sir Perry Jones.

»Nicht ganz«, erwiderte Preston düster. »Jan Marais ist akkreditierter Diplomat und gehört zur Botschaft der Republik Südafrika.«

Betroffenes, ungläubiges Schweigen trat ein. Sir Paddy Strickland knurrte unter völliger Mißachtung des diplomatischen Sprachgebrauchs: »Verdammter Mist!« Aller Augen richteten sich auf Sir Nigel Irvine.

Er saß zutiefst erschüttert am Tischende. Wenn das stimmt, dachte er bei sich, dann mach' ich Hackfleisch aus dem Kerl.

Er dachte an General Henry Pienaar, den Chef des Nachrichtendienstes der Republik Südafrika, der Nachfolgeorganisation des unbeweint dahingeschiedenen BOSS. Wenn die Südafrikaner ein paar Londoner Ganoven für einen Einbruch in die Archive des Afrikanischen Nationalkongresses anheuerten, nun ja! Aber einen Spion in das britische Verteidigungsministerium einschleusen war, unter Geheimdiensten, eine Kriegserklärung.

»Ich wäre Ihnen dankbar, Gentlemen, wenn Sie mir ein paar Tage Zeit ließen, damit ich diese Angelegenheit ein wenig weiterverfolgen kann«, sagte Sir Nigel.

Zwei Tage später, am 4. März, frühstückte einer der wenigen britischen Minister, denen Mrs. Thatcher ihren Wunsch nach vorgezogenen allgemeinen Wahlen anvertraut hatte, mit seiner Frau im schönen Stadthaus des Ehepaars im Holland-Park-Viertel von London. Die Frau blätterte einen Stapel Reiseprospekte durch.

»Korfu ist hübsch«, sagte sie, »oder Kreta.«

Da sie keine Antwort erhielt, wurde sie deutlicher.

»Darling, wir sollten wirklich versuchen, in diesem Sommer vierzehn Tage wegzufahren und völlig auszuspannen. Es sind jetzt schließlich fast zwei Jahre. Wie wär's im Juni? Erst wenige Touristen unterwegs, und das Wetter ideal.«

»Nicht im Juni«, sagte der Minister, ohne aufzublicken.

»Aber der Juni ist wundervoll«, beharrte sie.

»Nicht im Juni«, wiederholte er. »Jederzeit, bloß nicht im Juni.«

Ihre Augen wurden groß.

»Was ist denn im Juni so Wichtiges?«

»Spielt keine Rolle.«

»Du schlauer alter Fuchs«, sagte sie gespannt. »Es geht um Margaret, wie? Das gemütliche Plauderstündchen in Chequers am vorletzten Sonntag. Sie ruft zu den Urnen. Wetten, daß ich recht habe?«

»Psst!«, machte ihr Mann, aber nach fünfundzwanzig Ehejahren wußte sie, wann sie ins Schwarze getroffen hatte. Sie blickte auf und sah ihre Tochter Emma auf der Türschwelle stehen.

»Gehst du weg, Darling?«

»Yeah«, sagte das Mädchen. »Bis dann.«

Emma Lockwood war neunzehn, Kunststudentin und in jugendlichem Überschwang mit Haut und Haaren dem Kult verfallen, der sich »Radical Politics« nannte. Sie verabscheute die politischen Ansichten ihres Vaters und versuchte, durch ihren eigenen Lebensstil dagegen zu protestieren. Zur milden Verzweiflung ihrer Eltern fehlte sie bei keiner Anti-Raketen-Demonstration und bei keiner der lautstarken Protestkundgebungen linker Gruppen. Zu ihren privaten Protestaktionen gehörte, daß sie mit Simon Devine schlief, Dozent an einem Polytechnikum, den sie bei einer Demo kennengelernt hatte.

Er war kein berauschender Liebhaber, aber Emma bewunderte ihn wegen seines fanatischen Trotzkismus' und des pathologischen Hasses auf die »Bourgeoisie«, Sammelbegriff für alle, die nicht seiner Meinung waren. Wer ihm energischer Widerpart hielt als die Bourgeois, wurde als Faschist eingestuft. Diesen Mann beglückte Emma des Abends auf seiner Schlafcouch mit dem Hinweis, den sie aufgeschnappt hatte, als sie in der Tür des elterlichen Frühstückszimmers stand.

Devine war Mitglied mehrerer revolutionärer Studentengruppen und schrieb Artikel für linksextreme Blätter, die sich durch großes Engagement und minimale Auflagen auszeichneten. Welchen Goldschatz Emma Lockwood ihm geliefert hatte, berichtete er zwei Tage später dem Redakteur einer kleinen Flugschrift während der Fertigstellung eines Pamphlets, worin Devine alle freiheitsliebenden Arbeiter der Cowley-Werke aufrief, den Fertigungsbetrieb lahmzulegen, um ihre Solidarität mit einem wegen Diebstahls entlassenen Kollegen zu demonstrieren.

Der Redakteur fand, zur Veröffentlichung in Form eines Artikels sei die Information zu vage, er wolle jedoch mit seinen Kollegen darüber sprechen; Devine solle das Gehörte unbedingt für sich behalten. Nachdem Devine gegangen war, sprach der Redakteur tatsächlich mit einem seiner Kollegen, seinem Verbindungsmann, und der Verbindungsmann gab die Information an seine Leitstelle in der Rezidentura an der sowjetischen Botschaft weiter. Am 10. März traf die Meldung in Moskau ein. Devine wäre entsetzt gewesen. Als glühender Anhänger von Trotzkis Forderung nach permanenter Revolution haßte er Moskau und das ganze Sowjetsystem.

Sir Nigel Irvine war erschüttert über die Enthüllung, daß der Einsatzleiter eines gefährlichen Spions innerhalb des britischen Regierungsapparats ein südafrikanischer Diplomat war, und er beschloß, den einzig möglichen Schritt zu tun: direkt an den südafrikanischen Geheimdienst NIS heranzutreten und eine Erklärung zu fordern.

Die Beziehung zwischen dem britischen SIS und dem südafrikanischen NIS (und dessen Vorgänger, dem BOSS) wäre von Politikern beider Staaten als nichtexistent bezeichnet worden. »Auf Armlänge« hätte eher der Wirklichkeit entsprochen. Die Beziehung existiert, ist jedoch aus politischen Gründen äußerst heikel. Wegen der weitverbreiteten Ablehnung der Apartheid wird sie in Großbritannien seit langem und unter jeder Regierung mißbilligt, unter den Labor-Regierungen stärker als unter den Konservativen.

Während der Labour-Jahre zwischen 1954 und 1979 wurde sie seltsamerweise wegen des Rhodesien-Konflikts geduldet.

Der Labour-Premier Harold Wilson sah ein, daß er, um seine Sanktionen durchzuführen, alle irgend erhältlichen Informationen über das Rhodesien Ian Smiths benötigte, und diese Informationen hatten vor allem die Südafrikaner.

Als die Rhodesien-Krise schließlich vorbei war, hatten im Mai 1979 die Konservativen wieder die Regierung übernommen, und die Beziehung wurde aufrechterhalten, diesmal wegen der besorgniserregenden Vorgänge in Namibia und Angola, wo die Südafrikaner zugegebenermaßen gute Netze aufgebaut hatten. Es war keineswegs eine einseitige Beziehung. Die Briten gaben einen Tip weiter, den sie aus der Bundesrepublik Deutschland über die DDR-Verbindungen der Frau des südafrikanischen Kommodore Dieter Gerhardt erhalten hatten - er wurde später als Sowjetspion festgenommen. Von den Briten stammte auch die Mitteilung an Südafrika, daß sowjetische »Illegale« in die Republik einreisten, was der SIS seinem umfassenden Aktenmaterial über solche Herrschaften entnahm.

Zu einem unerfreulichen Zwischenfall kam es nur 1967, als ein Agent des BOSS, ein gewisser Norman Blackburn, der im Zambezi Club als Barkeeper arbeitete, einem »Garden Girl« den Kopf verdrehte. Die »Garden Girls« sind Sekretärinnen in der Downing Street Nr. 10 und werden so genannt, weil ihr Büro an der Gartenseite des Hauses liegt.

Die betörte Helen (der Vorname genügt, sie hat inzwischen geheiratet und ein paar Kinder) übergab Blackburn mehrere Geheimdokumente, ehe die Affäre aufflog. Es gab Stunk, und Harold Wilson war fortan überzeugt, daß der BOSS an allen Übeln schuld sei, von Mißernten bis zum Wein, der nach dem Korken schmeckt.

Danach hielt die Beziehung sich in zivilisierteren Bahnen.

Die Briten haben, meist in Johannesburg, einen Residenten, was dem NIS bekannt ist, und führen auf südafrikanischem Territorium keine »operativen Maßnahmen« durch. Die Südafrikaner haben mit Wissen des SIS ein paar Geheimdienstleute in ihrer Londoner Botschaft sitzen und ein paar weitere außerhalb, auf die MI5 ein wachsames Auge hat. Letztere haben die Aufgabe, die Londoner Aktivitäten verschiedener südafrikanischer revolutionärer Organisationen wie ANC, SWAPO und so weiter zu überwachen. Solange die Südafrikaner sich auf diese Tätigkeit beschränken, läßt man sie gewähren.

Nunmehr erbat und erhielt der britische Resident in Johannesburg eine private Unterredung mit General Henry Pienaar und meldete seinem Chef in London, was der Leiter des NIS zu sagen hatte.

Sir Nigel berief für den 10. März eine Sitzung des Paragon-Ausschusses ein.

»Der große und gute General Pienaar schwört bei allem, was ihm heilig ist, daß er nichts von Jan Marais wisse. Er behauptet, Marais arbeite nicht für ihn und habe nie für ihn gearbeitet.«

»Sagt er die Wahrheit?« fragte Sir Paddy Strickland.

»Bei diesem Spiel sollte man nie davon ausgehen«, sagte Sir Nigel. »Aber möglich wäre es. Dafür spricht, daß er andernfalls schon vor drei Tagen erfahren hätte, daß wir Marais enttarnt haben. Wenn Marais sein Mann ist, mußte er wissen, daß wir uns bitter rächen werden. Er hat keinen seiner Leute hier abgezogen, was er bestimmt getan hätte, wenn er sich schuldig fühlte.«

»Aber was zum Teufel ist Marais dann?« fragte Sir Perry.

»Pienaar behauptet, er wolle das ebensogern wissen wie wir«, erwiderte »C«. »Er ist sogar damit einverstanden, einen von unseren Leuten zusammen mit seinen eigenen die Jagd aufnehmen zu lassen. Ich möchte einen Mann hinunterschicken.«

»Was läuft zur Zeit in Sachen Berenson und Marais?« wollte Sir Anthony Plumb, der die Abteilung Fünf vertrat, von Harcourt-Smith wissen.

»Beide werden unauffällig beschattet, aber zugepackt wird noch nicht. Keine Wohnungseinbrüche. Nur Post- und Telefonüberwachung und die Observanten, rund um die Uhr«, erwiderte Harcourt-Smith.

»Wieviel Zeit brauchen Sie noch, Nigel?« fragte Plumb.

»Zehn Tage.«

»All right, aber das ist wirklich das äußerste. In zehn Tagen müssen wir Berenson mit allem, was wir haben, auf die Pelle rücken und zur Schadensfeststellung schreiten, mit oder ohne seine gütige Mitwirkung.«

Anderntags rief Sir Nigel Irvine Sir Bernard Hemmings in dessen Haus in der Nähe von Farnham an.

»Bernard, es geht um Ihren Mann, diesen Preston. Ich weiß, es ist ungewöhnlich; könnte einen meiner eigenen Leute schicken und so weiter. Aber ich mag seine Arbeitsweise. Könnte ich ihn für den Trip nach Südafrika ausborgen?«

Sir Bernard war einverstanden. Preston flog in der Nacht vom 12. zum 13. März nach Johannesburg. Die Maschine war bereits unterwegs, als die Nachricht auf dem Schreibtisch von Brian Harcourt-Smith landete. Er war fuchsteufelswild, aber er wußte, daß er machtlos war.

Der Albion-Ausschuß erstattete dem Generalsekretär am Abend des 12. Bericht; die Sitzung fand in der Wohnung am Kutuzowskij-Prospekt statt.

»Und was, bitte, haben Sie mir mitzuteilen?« fragte der Sowjetführer ruhig.

Professor Krilow, Vorsitzender des Ausschusses, wies auf Großmeister Rogow, der die vor ihm liegende Akte aufschlug und vorzulesen begann.

Wie immer in Gegenwart des Generalsekretärs war Philby beeindruckt, ja fasziniert von der kolossalen und unbegrenzten Macht dieses Mannes. Bei der Ermittlungsarbeit der Ausschußmitglieder genügte die bloße Erwähnung seines Namens als der höchsten Autorität, daß ihnen alles in der UdSSR zugänglich gemacht und keine Fragen gestellt wurden. Philby, der das Phänomen der Macht und ihrer Anwendung gründlich studiert hatte, bewunderte die Rücksichtslosigkeit und Schläue, mit der sich der Generalsekretär die absolute Gewalt über jede Lebensfaser in der Sowjetunion gesichert hatte.

Seinen einflußreichen Posten als KGB-Chef hatte er seinerzeit nicht Breschnews Stimme zu verdanken gehabt, sondern der des Königsmachers im Hintergrund, der grauen Eminenz im Politbüro, dem Parteiideologen Mikhail Suslow. Dank dieses Stückes Unabhängigkeit von Breschnew und seiner privaten Mafia hatte er sichergestellt, daß der KGB niemals zu Breschnews gehorsamem Pudel wurde. Im Mai 1982, als Suslow gestorben und Breschnew ein todgeweihter Mann war, hatte er den KGB verlassen und war ins Zentralkomitee zurückgekehrt, ohne dabei in den Fehler Breschnews zu verfallen.

Er hatte im KGB General Fedortschuk als Vorsitzenden zurückgelassen, seinen getreuen Statthalter. Mit Hilfe der Partei hatte der jetzige Generalsekretär seine Stellung im Zentralkomitee unangreifbar gemacht, die kurzen Amtszeiten Andropows und Tschernenkos abgewartet und dann deren Nachfolge angetreten. Innerhalb weniger Monate hatte er alle Machtquellen unter seine Kontrolle gebracht: Partei, Streitkräfte, KGB und Innenministerium, das MWD. Er hatte sämtliche Trümpfe in der Hand, und niemand wagte, sich zu widersetzen oder eine Verschwörung gegen ihn anzuzetteln.

»Wir haben einen Plan ausgearbeitet, Genosse Generalsekretär«, sagte Dr. Rogow - in Gegenwart Dritter bediente er sich stets der formellen Anrede.

»Es handelt sich um einen konkreten Plan, eine aktive Maßnahme, das Vorhaben, bei der britischen Bevölkerung eine Destabilisierung auszulösen, gegen die das Attentat von Sarajewo und der Berliner Reichstagsbrand zu Bagatellen würden. Wir gaben dem Plan den Namen Aurora.«

Eine Stunde verging, bis Dr. Rogow alle Einzelheiten vorgelesen hatte. Von Zeit zu Zeit blickte er auf, um die Wirkung seiner Ausführungen festzustellen, aber der Generalsekretär war Meister in einem weit größeren Schachspiel, und sein Gesicht blieb ausdruckslos. Endlich hatte Dr. Rogow zu Ende gelesen. Eine Weile warteten sie schweigend.

»Nicht ohne Risiken«, sagte der Generalsekretär gelassen. »Was garantiert uns, daß kein Eigentor daraus wird, wie bei gewissen... anderen Operationen?«

Er hatte das Wort nicht ausgesprochen, aber alle wußten, was er meinte. In seinem letzten Jahr beim KGB hatte das betrübliche Mißlingen des Wojtyla-Attentats ihn schwer erschüttert. Es hatte drei Jahre gedauert, bis die Schockwellen und Anschuldigungen verebbt waren, und die UdSSR hatte genau jene Art weltweiter Publizität genossen, an der ihr am wenigsten gelegen war.

Im Vorfrühling 1981 hatte der bulgarische Geheimdienst gemeldet, seinen Leuten in der türkischen Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland sei ein seltsamer Fisch ins Netz gegangen.

Aus ethnischen, kulturellen und historischen Gründen war Bulgarien, Rußlands getreuester und gehorsamster Satellit, eng mit der Türkei und den Türken verbunden. Der Mann, den sie aufgefischt hatten, war überzeugter Terrorist, von der extremen Linken im Libanon ausgebildet, hatte in der Türkei im Auftrag der Grauen Wölfe gemordet, war aus dem Gefängnis ausgebrochen und in die Bundesrepublik Deutschland geflohen.

Das Absonderliche an ihm war, daß er aus persönlichen Gründen unbedingt den Papst töten wollte. Sollten sie Mehmed Ali Agca wieder ins Meer zurückwerfen oder ihn, mit Geld und falschen Papieren sowie einer Waffe versehen, laufenlassen?

Unter normalen Umständen hätte die Antwort des KGB vorsichtshalber gelautet: Umlegen. Aber die Umstände waren nicht normal. Karol Wojtyla, der erste Pole auf dem päpstlichen Stuhl, stellte eine ernste Gefahr dar. Polen war in Aufruhr; das kommunistische Regime konnte jeden Augenblick von den rebellischen Anhängern von Solidarinosc gestürzt werden.

Der Rebell Wojtyla hatte schon einmal Polen besucht, und das Ergebnis war, vom sowjetischen Standpunkt aus, verheerend gewesen. Man mußte ihn entweder bremsen oder seine Glaubwürdigkeit erschüttern. Der KGB antwortete den Bulgaren: Grünes Licht, aber wir wollen von nichts wissen. Im Mai 1981 wurde Agca mit Geld, falschen Papieren und einer Waffe nach Rom eskortiert, wo er nach seinem eigenen Kopf handeln konnte. Die Folge war, daß eine Menge Leute dabei den ihren verloren.

»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Ich glaube nicht, daß man die beiden Dinge miteinander vergleichen kann«, sagte Dr. Rogow, der im wesentlichen den Plan Aurora entworfen hatte und willens war, ihn zu verteidigen. »Das Wojtyla-Attentat war eine Katastrophe aus drei Gründen: Das Ziel wurde nicht tödlich getroffen; der Attentäter wurde lebend gefaßt; und das Entscheidende: es war keine hieb- und stichfeste Desinformation inszeniert worden, wonach man die Sache einer Verschwörung, zum Beispiel der italienischen oder amerikanischen extremen Rechten, hätte in die Schuhe schieben können. Eine Flut glaubhaften Beweismaterials hätte auf Abruf zur Veröffentlichung parat sein und der ganzen Welt klarmachen müssen, daß Agca im Auftrag der Rechten handelte.«

Der Generalsekretär nickte.

»Hier hingegen«, fuhr Rogow fort, »liegen die Dinge völlig anders. Für jedes Stadium sind Rückzugs- und Ausweichmöglichkeiten vorgesehen. Der Ausführende würde ein Spitzenprofi sein, der vor der Festnahme Selbstmord beginge. Das Material ist zumeist äußerlich harmlos und kann in keinem Fall in die UdSSR zurückverfolgt werden. Der Ausführende darf Aurora nicht überleben. Und für die Folgezeit sind weitere Pläne ausgearbeitet, die das Geschehene unwiderleglich und überzeugend den Amerikanern zur Last legen.«

Der Generalsekretär wandte sich an General Martschenko.

»Würde es funktionieren?« fragte er. Die Ausschußmitglieder wurden unruhig. Es wäre leichter gewesen, wenn die Reaktion des Generalsekretärs erfahren und ihr dann beigepflichtet hätte. Aber er hielt sich bedeckt. Martschenko holte tief Atem.

»Es ist machbar«, bestätigte er. »Meiner Meinung nach würden zehn bis sechzehn Monate nötig sein, um den Plan in die Tat umzusetzen.«

»Genosse Oberst?« wandte der Generalsekretär sich an Philby.

Philbys Stottern verschlimmerte sich. Das war immer so, wenn er unter Streß stand.

»Was die Risiken angeht, so bin ich überfragt. Desgleichen was die technische Durchführbarkeit betrifft. Aber die Wirkung - ohne Zweifel würden mehr als zehn Prozent der britischen Wechselwähler spontan für die Labour Party stimmen.«

»Genosse Professor Krilow?«

»Ich muß abraten, Genosse Generalsekretär. Ich halte den Plan für extrem gefährlich. Er steht in krassem Widerspruch zu den Paragraphen des vierten Protokolls. Sollte dieses Abkommen je gebrochen werden, so könnte es zu unser aller Schaden sein.«

Der Generalsekretär schien in tiefes Nachdenken versunken, worin ihn wohlweislich niemand störte. Fünf Minuten lang blieben die Augen hinter den funkelnden Brillengläsern geschlossen. Dann hob er den Kopf.

»Es existieren keine Aufzeichnungen, keine Tonbänder, keine Spuren des Plans außerhalb dieses Zimmers?«

»Keine«, bekräftigten die vier Männer.

»Geben Sie mir sämtliche Akten und Kladden«, sagte der Generalsekretär. Als die Papiere vor ihm lagen, fuhr er in seiner üblichen monotonen Sprechweise fort:

»Das Ganze ist unglaublich leichtfertig, absurd, abenteuerlich und gefährlich«, leierte er. »Der Ausschuß ist aufgelöst. Ich wünsche, daß Sie zu Ihren beruflichen Pflichten zurückkehren und nie mehr weder den Albion-Ausschuß noch den Plan Aurora erwähnen.«

Er saß noch immer reglos da und starrte auf den Tisch, als die vier mit Schimpf und Schanden Entlassenen abzogen. Schweigend nahmen sie ihre Hüte und Mäntel, wobei sie es vermieden, einander anzusehen. Dann wurden sie zu ihren im Innenhof wartenden Wagen geleitet.

Unten angekommen, stieg jeder in sein Auto. Philby hatte in seinem privaten Wolga Platz genommen und wartete darauf, daß der Fahrer Gregoriew den Motor startete, aber der Mann tat nichts dergleichen. Die Limousinen der drei anderen fegten über das Geviert, durch die Ausfahrt und hinaus auf die Straße. Jemand klopfte an Philbys Fenster. Er kurbelte es herunter und blickte in das Gesicht von Major Pawlow.

»Würden Sie bitte mitkommen, Genosse Oberst.«

Philby befürchtete das Schlimmste. Er begriff jetzt, daß er zu viel wußte; er war der einzige Ausländer der Gruppe. Der Generalsekretär stand in dem Ruf, Risiken ein für allemal zu beseitigen. Philby folgte Major Pawlow wieder ins Haus. Zwei Minuten später stand er aufs neue im Wohnzimmer des Generalsekretärs. Der alte Mann saß noch immer in seinem Rollstuhl am niedrigen Couchtisch. Er bedeutete Philby, Platz zu nehmen. Der britische Verräter setzte sich verstört.

»Wie finden Sie ihn wirklich?« fragte der Generalsekretär leise. Philby schluckte.

»Genial, gewagt, gefährlich. Aber, wenn es funktioniert, höchst wirkungsvoll«, sagte er.

»Er ist brillant«, murmelte der Generalsekretär. »Und er wird ausgeführt. Aber unter meiner persönlichen Leitung. Das soll kein Gemeinschaftsunternehmen werden, sondern ausschließlich mein eigenes. Und Sie werden mir dabei eng zur Seite stehen.«

»Darf ich eine Frage stellen?« sagte Philby beherzt. »Warum ich? Ich bin Ausländer, auch wenn ich der Sowjetunion mein Leben lang gedient und ein Drittel meines Lebens hier verbracht habe. Ich bin dennoch Ausländer.«

»Stimmt«, erwiderte der Generalsekretär, »und Sie genießen niemandes Schutz außer dem meinen. Sie könnten keine Verschwörung gegen mich anzetteln.

Sie werden sich von Ihrer Frau und den Kindern verabschieden und den Fahrer entlassen. Dann beziehen Sie die Gästezimmer meiner Datscha in Usowo. Dort stellen Sie die Gruppe zusammen, die den Plan Aurora in Angriff nehmen soll. Alle nötigen Befugnisse werden Sie erhalten, und zwar durch mein Büro im Zentralkomitee. Sie selber werden nicht in Erscheinung treten.«

Er drückte auf einen Summer unter der Tischplatte.

»Während der ganzen Zeit werden Sie unter den Augen dieses Mannes arbeiten. Ich glaube, Sie kennen ihn bereits.«

Die Tür hatte sich geöffnet, in ihrem Rahmen stand Major Pawlow mit seinem teilnahmslosen kalten Gesicht.

»Er ist hochintelligent und außerordentlich argwöhnisch«, sagte der Generalsekretär anerkennend. »Und ich kann mich ganz auf ihn verlassen. Er ist übrigens mein Neffe.«

Als Philby aufstand, um dem Major zu folgen, reichte ihm der Generalsekretär ein Stück Papier. Es war ein Telex aus dem Ersten Hauptdirektorat, an den Generalsekretär der KPdSU persönlich gerichtet. Philby traute seinen Augen nicht.

»Ja«, sagte der Generalsekretär. »Es kam gestern. General Martschenko irrt, Sie werden keine zehn bis sechzehn Monate Zeit haben. Es scheint, daß Mrs. Thatcher ihren Schachzug für Juni plant. Wir müssen ihr mit dem unsrigen eine Woche zuvorkommen.«

Philby atmete langsam aus. Im Jahr 1917 entschieden zehn Tage über den Ausgang der russischen Revolution. Englands größtem Verräter aller Zeiten blieben genau neunzig Tage zur Vorbereitung einer ähnlichen Umwälzung, der britischen Revolution.