5. Kapitel

 

Preston saß im Büro eines sehr sorgenvollen Bertie Capstick, hatte vor sich auf dem Schreibtisch die zehn fotokopierten Blätter ausgebreitet und las jedes einzelne genau durch.

»Wie viele Personen hatten den Briefumschlag in der Hand?« fragte er.

»Der Briefträger, selbstverständlich. Gott weiß, wie viele Sortierer in der Verteilerstelle. Hier im Haus die Leute am Empfang, der Bote, der die Morgenpost in die Büros bringt, und ich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie an dem Umschlag viel Freude haben werden.«

»Und die Papiere, die drinnen waren?«

»Nur ich, Johnny. Natürlich wußte ich nicht, worum's ging, bis ich sie herausgenommen hatte.«

Preston überlegte eine Weile.

»Abgesehen von der Person, die sie zur Post gab, könnten sie vielleicht die Fingerabdrücke desjenigen tragen, der die Papiere entwendet hat. Ich muß Scotland Yard bitten, sie auf Abdrücke zu untersuchen. Obwohl ich mir, ehrlich gesagt, keine großen Hoffnungen mache. Und jetzt zum Inhalt. Sieht nach einer hochrahmigen Sache aus.«

»Hoch, höher, am höchsten«, sagte Capstick düster. »Einiges davon ist äußerst sicherheitsempfindlich, betrifft unsere NATO- Verbündeten: Sofortmaßnahmen der NATO zur Abwehr verschiedener Bedrohungen durch die Sowjets - so in dieser Tonart.«

»All right«, sagte Preston, »gehen wir mal die Möglichkeiten durch. Ein Geduldsspiel. Angenommen, die Papiere wurden von einem verantwortungsbewußten Bürger an uns zurückgeschickt, der aus irgendeinem Grund nicht identifiziert werden möchte. Das gibt's; die Leute wollen einfach in nichts hineingezogen werden. Wo könnte unser Bürger sie gefunden haben? In einer Aktentasche, die in der Garderobe liegenblieb? In einem Taxi? In einem Club?«

Capstick schüttelte den Kopf.

»Nicht auf legale Weise, Johnny. Das Zeug da hätte unter gar keinen Umständen aus dem Haus gelangen dürfen, außer vielleicht in dem versiegelten Beutel hinüber ins Auswärtige Amt oder ins Cabinet Office. Es liegen keine Meldungen vor, daß sich jemand an einem solchen Beutel zu schaffen gemacht hat. Außerdem tragen die Papiere keinen Empfängervermerk, den sie haben müßten, wenn sie auf legalem Weg außer Haus gebracht worden wären. Selbst jemand, der zum erstenmal Zugang zu solchem Material hat, kennt die Regeln. Niemand, absolut niemand darf solches Material zur Durchsicht mit nach Hause nehmen. Beantwortet das Ihre Frage?«

»Mehr als genügend«, sagte Preston. »Das Zeug ist von außerhalb wieder ins Ministerium gekommen. Also muß es hinausgeschafft worden sein. Illegal. Grobe Nachlässigkeit oder eindeutiger Versuch des Geheimnisverrats?«

»Sehen Sie sich die jeweiligen Abfassungsdaten an«, sagte Capstick. »Diese zehn Blätter decken einen vollen Monat ab. Unmöglich, daß sie alle zusammen an einem bestimmten Tag auf einem bestimmten Schreibtisch gelandet sind. Sie müssen eine ganze Weile gesammelt worden sein.«

Preston steckte unter Zuhilfenahme seines Taschentuchs die zehn Dokumente vorsichtig wieder in den Umschlag, in dem sie gekommen waren.

»Ich muß sie in die Charles Street mitnehmen, Bertie. Darf ich mal telefonieren?«

Er rief in der Charles Street an und verlangte, sofort mit Sir Bernard Hemmings verbunden zu werden. Der Generaldirektor war im Haus, und nach einer Weile und einigem Drängen von seiten Prestons nahm er den Anruf persönlich entgegen. Preston bat nur um die Erlaubnis, sofort vorsprechen zu dürfen, und erhielt sie. Er legte den Hörer auf und wandte sich an Brigadegeneral Capstick.

»Bertie, tun Sie zunächst gar nichts, und sagen Sie kein Wort. Zu niemandem. Machen Sie Ihren Dienst wie an jedem anderen Tag. Ich melde mich wieder.«

Es kam nicht in Frage, daß er das Ministerium mit diesen Dokumenten, aber ohne Begleiter verließ. Brigadegeneral Capstick gab ihm einen seiner Wachmänner vom Eingang mit, einen stämmigen ehemaligen Gardesoldaten.

Preston trug die Dokumente in seiner Aktentasche aus dem Ministerium, nahm ein Taxi bis zu den Clarges Apartments und sah dem Fahrzeug nach, bis es verschwunden war. Dann erst ging er die letzten zweihundert Yards bis zur Zentrale in der Charles Street, wo er seinen Begleiter entlassen konnte.

Zehn Minuten später wurde Preston von Sir Bernard Hemmings empfangen.

Der alte Agentenfänger sah grau aus, als leide er Schmerzen, was häufig der Fall war. Von der Krankheit, die in ihm wütete, war äußerlich nichts zu sehen, doch die Untersuchungsergebnisse ließen keinen Zweifel zu. Ein Jahr, hatten die Ärzte gesagt, und nicht zu operieren. Am 1. September würde er das Pensionierungsalter erreichen, und da ihm noch Urlaub zustand, konnte er Mitte Juli aufhören, sechs Wochen vor seinem sechzigsten Geburtstag.

Vermutlich wäre er schon ausgeschieden, wenn nicht familiäre Verpflichtungen ihn zum Bleiben bestimmt hätten. Seine zweite Frau hatte eine Tochter mit in die Ehe gebracht, die der kinderlose Mann wie eine eigene liebte. Das Mädchen ging noch zur Schule. Eine vorzeitige Pensionierung hätte eine empfindliche Kürzung seiner Bezüge bewirkt, und er hätte seine Witwe und das Mädchen in bedrängten Verhältnissen zurücklassen müssen. Vernünftig oder nicht - er tat alles, um bis zum offiziellen Termin durchzuhalten und so den Seinen die vollen Ruhestandsbezüge hinterlassen zu können. Er hatte sein ganzes Leben im Dienst verbracht und keine anderen Besitztümer zu vererben.

Preston erklärte, was sich am Vormittag im Verteidigungsministerium ereignet hatte, und daß nach Capsticks Meinung die Dokumente unmöglich auf andere als absichtliche Weise aus dem Ministerium hatten herausgeschafft werden können.

»O mein Gott«, murmelte Sir Bernard. »Nicht noch einmal!« Noch nach Jahren quälte ihn die Erinnerung an Vassall und Prime und an die giftige Reaktion der Amerikaner, als sie davon erfuhren.

»Und wo wollen Sie anfangen, John?«

»Ich sagte Bertie Capstick, er solle zunächst Schweigen bewahren«, antwortete Preston. »Falls wir wirklich einen Verräter im Ministerium sitzen haben, dann erhebt sich eine zweite Frage. Wer hat das Zeug an uns zurückgeschickt? Ein ehrlicher Finder, ein Langfinger, eine Ehefrau mit Gewissensbissen? Wir wissen es nicht. Aber wenn wir den Absender finden, dann können wir vielleicht auch herausbringen, wo er oder sie das Zeug her hatte. Was uns eine Menge Arbeit ersparen würde. Von dem Briefumschlag erhoffe ich mir nicht viel - gewöhnliches braunes Papier, kann überall gekauft worden sein, normale Briefmarken, Adresse mit Filzstift in Blockbuchstaben geschrieben und durch viele unbekannte Hände gegangen. Aber auf den Papieren können Fingerabdrücke sein. Ich möchte sie gern alle von Scotland Yard untersuchen lassen - unter Aufsicht natürlich. Danach wissen wir vielleicht, wie wir weitermachen müssen.«

»Gut durchdacht. Sie kümmern sich um diese Seite der Angelegenheit«, sagte Sir Bernard. »Ich werde mit Tony Plumb und wahrscheinlich auch mit Perry Jones sprechen müssen.

Vielleicht kann ich mich zum Lunch mit ihnen treffen. Es hängt natürlich davon ab, was Perry Jones davon hält, aber wir müssen hier den Koordinierungsausschuß einschalten. Sie machen mit Ihrem Teil weiter, John, und halten mich auf dem laufenden. Wenn der Yard irgend etwas findet, will ich es wissen.«

Drüben in Scotland Yard war man sehr hilfsbereit und stellte Preston einen der besten Laborleute zur Verfügung. Preston stand neben dem zivilen Experten, der sorgfältig jedes einzelne Blatt einstäubte. Es ließ sich nicht vermeiden, daß der Mann auf jedem Blatt den Vermerk TOP SECRET zu sehen bekam.

»Hat sich drüben in Whitehall jemand danebenbenommen?« scherzte der Labortechniker. Preston schüttelte den Kopf.

»Nein. Nur dumm und nachlässig«, log er. »Das Zeug hätte in den Reißwolf gehört, nicht in den Papierkorb. Das Karnickel wird ganz schön was auf die Pfoten kriegen, wenn wir die Pfoten identifizieren können.«

Der Labortechniker verlor das Interesse. Als er fertig war, schüttelte er den Kopf.

»Nichts«, sagte er, »rein wie frischgefallener Schnee. Aber etwas kann ich Ihnen sagen. Die Papiere sind abgewischt worden. Eine Garnitur Abdrücke ist natürlich drauf, vermutlich Ihre.«

Preston nickte. Es ging den Mann nichts an, daß diese Garnitur Abdrücke von Brigadegeneral Capstick stammte.

»Das ist der springende Punkt«, sagte der Labortechniker. »Dieses Papier nimmt Fingerabdrücke fabelhaft an und hält sie wochenlang, vielleicht Monate. Es müßte mindestens noch eine zweite Garnitur drauf sein, vermutlich sogar mehrere. Zum Beispiel von der Bürokraft, die die Blätter vor Ihnen in der Hand gehabt hat. Aber nichts dergleichen. Sie sind mit einem Tuch abgewischt worden, bevor sie im Papierkorb landeten. Ich kann die Fasern sehen. Aber keine Abdrücke. Tut mir leid.«

Preston hatte ihm den Umschlag gar nicht erst gezeigt. Wer immer die Papiere abgewischt hatte, würde nicht seine Fingerabdrücke auf dem Umschlag hinterlassen. Außerdem würde der Umschlag verraten, daß die Geschichte von der schlampigen Bürokraft ein Schwindel war. Er nahm die zehn Geheimpapiere wieder an sich und ging. Capstick hat recht, dachte er. Es ist ein Leck, und zwar ein ganz übles. Es war drei Uhr nachmittags; er ging zurück in die Charles Street und wartete auf Sir Bernard. Sir Bernard hatte nach einigem Drängen erreicht, daß Sir Anthony Plumb, der Vorsitzende des Joint Intelligence Committee, des JIC, und Sir Peregrine Jones, beamteter Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, sich mit ihm zum Lunch verabredeten. Sie trafen sich im Nebenzimmer eines Clubs in St. James. Die dringliche Bitte des Generaldirektors von »Fünf« gab den beiden hohen Beamten sehr zu denken, und zerstreut bestellten sie ihren Lunch. Als der Kellner gegangen war, berichtete Sir Bernard ihnen, was sich ereignet hatte. Es verdarb beiden Herren den Appetit.

»Wenn Capstick mir wenigstens ein Wort gesagt hätte«, murrte Sir Perry Jones leicht verstimmt. »Verdammter Schock, so aus heiterem Himmel.«

»Ich glaube«, sagte Sir Bernard, »daß mein Mitarbeiter Preston ihn gebeten hat, noch eine Weile Stillschweigen zu bewahren, denn wenn wir wirklich einen Agenten in der Spitze des Ministeriums haben, darf der nicht Wind kriegen, daß wir die Dokumente zurückerhalten haben.«

Sir Peregrine brummte ein wenig besänftigt.

»Was meinen Sie, Perry?« fragte Sir Anthony Plumb. »Irgendeine Möglichkeit, daß die Fotokopien ohne böse Absicht oder einfach durch Schlamperei außer Haus gelangt sind?«

Der Beamte des Verteidigungsministeriums schüttelte den Kopf.

»Die undichte Stelle muß nicht unbedingt sehr weit oben sein«, sagte er. »Jeder wichtige Mann hat seinen Kreis von Mitarbeitern. Es müssen Kopien gemacht werden - manchmal müssen drei oder vier Leute von einem Originaldokument Kenntnis erhalten. Aber alle Kopien werden in eine Liste eingetragen und später vernichtet. Drei Kopien angefertigt, drei Kopien nach Gebrauch vernichtet. Der Haken ist: Ein hoher Beamter kann nicht seinen ganzen Kram selber in den Reißwolf stopfen. Er läßt das von einem seiner Mitarbeiter erledigen. Natürlich sind alle sicherheitsüberprüft, aber kein System ist völlig lückenlos. Hier handelt es sich um Kopien, die im Lauf eines ganzen Monats zusammengekommen und aus dem Ministerium herausgeschafft worden sind. Das kann weder von ungefähr noch durch Nachlässigkeit passiert sein. Es muß Absicht dahinterstecken. Verdammt...«

Er legte Messer und Gabel auf seinen fast unberührten Teller.

»Tut mir leid, Tony, aber ich glaube, es ist oberfaul.«

Sir Tony Plumbs Miene war ernst.

»Ich werde wohl einen limitierten Unterausschuß des JIC bilden müssen«, sagte er. »Einen sehr limitierten, in diesem Stadium. Nur Innenministerium, Auswärtiges Amt, Verteidigung, den Cabinet Secretary, die Chefs von Fünf und Sechs und jemand von GCHQ. Noch kleiner geht's nicht.«

Man kam überein, daß Sir Tony den Unterausschuß für den nächsten Vormittag einberufen und daß Hemmings ihn über Prestons etwaige Erfolge bei Scotland Yard informieren würde. Damit trennten sie sich.

Der komplette JIC ist ein ziemlich großer Ausschuß. Nicht nur ein halbes Dutzend Ministerien und mehrere Behörden sind darin vertreten, die drei Teilstreitkräfte und die beiden Nachrichtendienste, sondern auch die in London stationierten Vertreter Kanadas, Australiens, Neuseelands und natürlich die amerikanische CIA.

Plenarsitzungen sind eher selten und verlaufen ziemlich steif. In der Regel werden limitierte Unterausschüsse gebildet. Dort werden ganz bestimmte Probleme behandelt, und die Mitglieder kennen einander meist persönlich und können in kürzerer Zeit mehr Arbeit erledigen.

Der Unterausschuß, den Sir Anthony Plumb in seiner Eigenschaft als Koordinator der Nachrichtendienste am Vormittag des 21. Januar einberufen hatte, erhielt den Codenamen Paragon. Die Sitzung begann um zehn Uhr im Konferenzzimmer des Cabinet Office, dem Cabinet Office Briefing Room, kurz COBRA genannt. Der Raum liegt im zweiten Stock des Cabinet Office in Whitehall, ist vollklimatisiert und schalldicht und wird täglich nach Abhörvorrichtungen abgesucht.

Theoretisch war der Kabinettsminister, Sir Martin Flannery, der Gastgeber, er überließ den Vorsitz jedoch Sir Anthony. Sir Perry Jones vertrat das Verteidigungsministerium, Sir Patrick Strickland das Außenministerium und Sir Hubert Villiers das Innenministerium, das die politische Verantwortung für MI5 trägt.

GCHQ (Government Communications Headquarters), der »Horchposten« des Landes in Gloucestershire, der in einem hochtechnisierten Zeitalter so wichtig ist, daß er fast einem eigenen Nachrichtendienst gleichkommt, hatte seinen stellvertretenden Generaldirektor geschickt, da der Generaldirektor in Urlaub war.

Sir Bernard Hemmings kam aus der Charles Street und wurde von Brian Harcourt-Smith begleitet.

»Ich hielt es für besser, daß Brian vollständig im Bild ist«, hatte Hemmings Sir Anthony erklärt. Alle verstanden, daß er sagen wollte: »Falls ich an einer weiteren Sitzung nicht mehr teilnehmen kann.«

Schließlich saß noch am Ende des langen Tisches, Sir Anthony Plumb gegenüber, mit unbeteiligter Miene Sir Nigel Irvine, Chef des Geheimen Nachrichtendienstes oder MI6.

MI5 hat einen Generaldirektor, MI6 hat seltsamerweise keinen. MI6 hat einen Chef, der in der Geheimdienstwelt und in Whitehall einfach als »C« bekannt ist, wie immer sein Name lauten mag. Dieses »C« steht auch nicht, was noch seltsamer anmutet, als Abkürzung für »Chef«. Sondern der erste Leiter von MI6 hieß Mansfield-Cummings, und das »C« entspricht dem Anfangsbuchstaben des zweiten Namensteils. Ian Fleming, der Meister der Raffinesse, benutzte den Anfangsbuchstaben »M« des ersten Namens teils zur Benennung des Chefs in seinen James-Bond-Romanen.

Insgesamt saßen neun Männer um den Tisch - sieben davon geadelt -, die zusammen mehr Macht und Einfluß repräsentierten als irgend jemand sonst im Königreich. Alle kannten einander gut und redeten sich mit Vornamen an. Jeder konnte die beiden stellvertretenden Generaldirektoren mit Vornamen anreden, sie hingegen nannten die hohen Herren »Sir«. Das verstand sich von selbst.

Sir Anthony Plumb eröffnete die Sitzung mit einer kurzen Darstellung der Entdeckung vom Vortag, die betroffenes Gemurmel hervorrief. Dann erhielt Bernard Hemmings das Wort. Der Chef von »Fünf« lieferte weitere Details, einschließlich der Fehlanzeige von Scotland Yard. Der letzte Redner, Sir Perry Jones, wies eindrücklich darauf hin, daß die Fotokopien unmöglich von ungefähr oder durch bloße Nachlässigkeit den Weg aus dem Ministerium gefunden haben konnten. Es mußte sich um eine absichtliche und heimliche Entwendung handeln.

Als er geendet hatte, herrschte Schweigen am Konferenztisch Ein einzelnes Wort hing drohend über der Runde: Schadensfeststellung. Wie lang war das schon so gegangen? Wie viele Dokumente waren beiseite geschafft worden? Und wohin? (Obwohl das ziemlich klar zu sein schien.) Und welche Art von Dokumenten? Wieviel Schaden war England und den NATO-Verbündeten zugefügt worden? Und wie, zum Teufel, sollte man es den Verbündeten beibringen?

»Wen haben Sie an die Sache angesetzt?« wollte Sir Martin Flannery von Hemmings wissen.

»Er heißt John Preston«, sagte Hemmings. »Leitet C. 1. (A). Brigadegeneral Capstick vom Verteidigungsministerium rief ihn an, als die Sendung mit der Post eintraf.«

»Wir könnten... äh... einen erfahreneren Mann damit betrauen«, schlug Brian Harcourt-Smith vor.

Sir Bernard Hemmings runzelte die Stirn.

»John Preston ist ein Späteinsteiger«, erklärte er. »Seit sechs Jahren bei uns. Ich habe volles Vertrauen zu ihm.

Es gibt noch einen anderen Grund. Wir müssen davon ausgehen, daß es sich um absichtlichen Verrat handelt.«

Sir Perry Jones nickte düster.

»Wir können ferner davon ausgehen«, fuhr Hemmings fort, »daß der Verantwortliche - ich will ihn oder sie einmal Chummy nennen - weiß, daß ihm diese Dokumente abhanden gekommen sind. Wir können hoffen, daß Chummy nicht weiß, daß sie anonym an das Ministerium zurückgeschickt wurden. Aber Chummy dürfte auf jeden Fall beunruhigt und auf der Hut sein. Wenn ich ein ganzes Team von Ermittlern ausschicke, wird Chummy wissen, daß er verspielt hat. Es fehlte gerade noch, daß er sich klammheimlich davonmacht und bei einer internationalen Pressekonferenz in Moskau die Starrolle spielt. Ich schlage vor, daß wir möglichst unauffällig vorgehen und versuchen, eine erste Fährte zu finden.

Da Preston als Leiter von C.1. (A) neu ist, kann er ohne weiteres die Runde durch die Ministerien machen und, scheinbar um sich zu informieren, die Sicherheitsmaßnahmen überprüfen. Eine bessere Tarnung können wir nicht finden. Mit ein bißchen Glück denkt Chummy sich nichts dabei.«

Sir Nigel Irvine am Tischende nickte zustimmend.

»Klingt vernünftig«, meinte er.

»Könnte eine Ihrer Quellen uns vielleicht auf eine Fährte bringen, Nigel?« fragte Sir Anthony Plumb.

»Werde einige Fühler ausstrecken«, erwiderte Irvine unverbindlich. Andrejew, dachte er; er mußte einen Treff mit Andrejew vereinbaren. »Und unsere tapferen Verbündeten?«

»Die Aufgabe, sie oder zumindest einige von ihnen zu informieren, dürfte Ihnen zufallen, Nigel«, erinnerte ihn Plumb. »Also, was meinen Sie?«

Sir Nigel war seit sieben Jahren auf seinem Posten und stand nun im letzten Jahr. Der kluge, erfahrene und nüchterne Mann war bei den alliierten Nachrichtendiensten von Europa und den USA hoch angesehen. Trotzdem - das Überbringen solcher Botschaft würde kein reines Vergnügen sein. Keine erfreuliche Abschiedsvorstellung.

Er dachte an Alan Fox, den sarkastischen und manchmal bissigen obersten Verbindungsoffizier der CIA in London. Für Alan würde diese Geschichte ein gefundenes Fressen sein. Er zuckte die Achseln und lächelte.

»Bernard hat recht. Chummy dürfte sich große Sorgen machen. Wir können wohl davon ausgehen, daß er so bald nicht wieder einen Stoß streng geheimer Unterlagen mitgehen läßt. Es wäre schön, wenn man unseren Verbündeten wenigstens einen gewissen Fortschritt melden könnte, Erfolg bei der Schadensfeststellung zum Beispiel. Ich möchte abwarten, was dieser Preston zuwege bringt. Zumindest ein Paar Tage.«

»Schadensfeststellung ist das A und O«, nickte Sir Anthony. »Und sie scheint fast unmöglich, ehe wir Chummy finden und überreden können, ein paar Fragen zu beantworten. Also dürften wir im Augenblick von Prestons Ergebnissen abhängen.«

Die Sitzung wurde aufgehoben. Die beamteten Unterstaatssekretäre eilten, um schleunigst ihre Minister im strengsten Vertrauen ins Bild zu setzen, und Sir Martin begab sich, wohl wissend, was ihm bevorstand, zum Tête-à-tête mit der weithin gefürchteten Mrs. Margaret Thatcher.

Am folgenden Tag trat in Moskau ein anderer Ausschuß zu seiner ersten Sitzung zusammen.

Major Pawlow hatte Philby kurz nach dem Mittagessen angerufen und ihm mitgeteilt, er werde den Genossen Oberst um achtzehn Uhr abholen; der Genosse Generalsekretär der KPdSU wünsche ihn zu sprechen. Philby vermutete (zu Recht), daß ihm die fünfstündige Warnfrist eingeräumt wurde, damit er nüchtern und korrekt gekleidet erscheinen könne.

Die Straßen waren um diese Tageszeit und bei dem heftigen Schneetreiben von dahinkriechenden Autos verstopft, aber der Tschaika mit dem MOC-Nummernschild war auf der Innenspur dahingerast, der für die Wlasti reserviert war, die Elite, die Stützen jener Gesellschaft, die Marx sich als klassenlos erträumt hatte: einer starr strukturierten Gesellschaft, in Schichten und Kasten eingeteilt, wie es nur eine riesige durch und durch bürokratische Hierarchie sein kann.

Als sie am Hotel Ukraina vorbeigekommen waren, hatte Philby geglaubt, sie würden zur Datscha nach Usowo hinausfahren, aber nach ein paar hundert Metern bog der Wagen zum Eisentor des gewaltigen achtstöckigen Baus am Kutuzowskij-Prospekt Nummer 26 ab. Philby staunte; es war eine seltene Ehre, die Privatwohnung eines Mitglieds des Politbüros betreten zu dürfen.

Den ganzen Gehsteig entlang waren Leute vom Neunten Direktorat in Zivil postiert, aber am Einfahrtstor standen sie in Uniform, dicken grauen Mänteln, Pelz-Tschapkas mit Ohrenklappen und den blauen Abzeichen der Kremlgarde.

Major Pawlow wies sich aus, und die Eisentore schwangen auf. Der Tschaika glitt in den Innenhof und hielt dort.

Wortlos führte der Major Philby in das Gebäude, durch zwei weitere Ausweiskontrollen, vorbei an einem verborgenen Metall-Detektor und einem Röntgen-Scanner, und in den Lift. In der dritten Etage stiegen sie aus; dieses Stockwerk gehörte allein dem Generalsekretär. Major Pawlow klopfte an eine Tür; sie öffnete sich, und dahinter stand ein weißgekleideter Butler, der Philby einließ. Der schweigende Major blieb zurück, die Tür wurde hinter Philby geschlossen. Diener nahmen ihm Mantel und Hut ab, und er wurde in ein großes Wohnzimmer komplimentiert, das sehr gut geheizt war - alte Leute frieren leicht -, aber erstaunlich einfach möbliert.

Im Gegensatz zu Leonid Breschnew, der viel für Schnörkel, Schwulst und Luxus übrig hatte, galt der Generalsekretär, was seinen privaten Geschmack anging, als Asket. Das Mobiliar aus schwedischer oder finnischer Fichte war spärlich, nüchtern und funktionell. Keine Antiquitäten, wenn man von zwei eindeutig unschätzbaren Bucharas absah. Um einen niedrigen Tisch waren vier Stühle gruppiert, der Platz für einen fünften Stuhl war freigelassen. Im Zimmer standen bereits - niemand würde sich ohne Erlaubnis gesetzt haben - drei Männer. Philby kannte sie alle, und sie nickten ihm grüßend zu.

Der eine war Professor Wladimir Iljitsch Krilow, der an der Moskauer Universität Zeitgeschichte lehrte. Er war - und darin lag sein eigentlicher Wert - ein wandelndes Lexikon auf dem Gebiet der sozialistischen und kommunistischen Parteien Westeuropas, im besonderen Englands. Mehr noch, er gehörte dem Obersten Sowjet an, diesem aus lauter Jasagern bestehenden Einparteienparlament der UdSSR, ferner der Akademie der Wissenschaften, und betätigte sich häufig als Berater der internationalen Abteilung des Zentralkomitees, dessen Leiter der Generalsekretär früher gewesen war. Der Mann, dem man trotz seiner Zivilkleidung den Militär ansah, war General Pyotr Sergeiwitsch Martschenko. Philby kannte ihn nur flüchtig, wußte aber, daß er ein hoher Offizier in der GRU war, dem Geheimdienst der sowjetischen Streitkräfte. Martschenko war Fachmann in den Techniken zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, aber auch Destabilisierungsexperte. Sein Interesse hatte von jeher vor allem den Demokratien Westeuropas gegolten, deren Polizei und Verfassungsschutz er sein halbes Leben lang studiert hatte.

Der dritte war Dr. Josef Viktorowitsch Rogow, gleichfalls Mitglied der Akademie und seines Zeichens Physiker. Seinen Ruhm verdankte er jedoch einem anderen Titel, dem eines Schachgroßmeisters. Man wußte, daß er einer der wenigen persönlichen Freunde des Generalsekretärs war, ein Mann, den der Sowjetführer in der Vergangenheit mehrmals zugezogen hatte, wenn ihm dessen phantastisches Gehirn bei der Planung gewisser Operationen als unerläßliche Hilfe erschienen war.

Die vier Männer hatten zwei Minuten gewartet, als sich die Doppeltüren am Ende des Zimmers öffneten und der absolute Herrscher über Sowjetrußland, seine Satelliten und Kolonien erschien.

Er saß im Rollstuhl, der von einem Diener in weißer Jacke hereingeschoben wurde. Der Stuhl wurde an den freigebliebenen Platz gerollt.

»Bitte Platz zu nehmen«, sagte der Generalsekretär.

Philby war überrascht, wie sehr der Mann sich verändert hatte. Gesicht und Handrücken des Fünfundsiebzigjährigen waren mit braunen Altersflecken gesprenkelt. Die Operation am offenen Herzen, die 1985 durchgeführt worden war, schien erfolgreich gewesen zu sein, und der Schrittmacher arbeitete offenbar tadellos. Und doch wirkte der Mann gebrechlich. Das dichte, glänzende weiße Haar, das ihm auf den Plakaten zum Maifeiertag das Aussehen eines gütigen Hausarztes verlieh, war fast verschwunden. Um beide Augen zogen sich braune Ringe.

Zwei Kilometer vom Kutuzowskij-Prospekt entfernt, in der Nähe des alten Dorfes Kuntsewo, stand auf einem riesigen Areal inmitten eines Birkenwaldes, umzäunt von einer zwei Meter hohen Palisade, das ausschließlich den Mitgliedern des Zentralkomitees vorbehaltene Krankenhaus. Es war der erweiterte und modernisierte Bau der alten Klinik von Kuntsewo. Auf dem Gelände des Krankenhauses stand Stalins ehemalige Datscha, das überraschend bescheidene Landhaus, in dem der Diktator einen so großen Teil seiner Zeit verbracht hatte und in dem er schließlich gestorben war. Diese Datscha hatte man in die modernste Intensivstation im ganzen Land verwandelt, nur um des Mannes willen, der jetzt in seinem Rollstuhl saß und jeden einzelnen musterte.

In der Datscha von Kuntsewo standen sechs Top-Spezialisten ständig zur Verfügung, und zu ihnen begab sich der Generalsekretär jede Woche zur Behandlung. Sie hielten ihn am Leben, wie man sah - doch nur mit knapper Not.

Aber noch funktionierte das Gehirn hinter den eiskalten Augen, die durch die goldgefaßte Brille blickten. Der Generalsekretär blinzelte selten, und wenn, dann so langsam wie ein Raubvogel.

Er verschwendete keine Zeit mit Vorreden. Das tat er nie, wie Philby wußte. Er nickte den drei anderen Männern zu und sagte:

»Genossen, Sie haben den Bericht unseres Freundes, des Genossen Oberst Philby, gelesen.«

Es war keine Frage, aber die drei Männer nickten bejahend.

»Dann werden Sie nicht überrascht sein, zu erfahren, daß ich den Sieg der britischen Labour Party, und zwar des ultralinken Flügels dieser Partei, als vorrangiges Interesse der Sowjetunion betrachte. Folglich werden Sie einen streng geheimen Viererausschuß bilden und Methoden erarbeiten, mit deren Hilfe wir, ganz unter der Hand natürlich, zu diesem Sieg beitragen könnten.

Sie werden mit niemandem darüber sprechen. Schriftstücke werden, wenn überhaupt, persönlich abgefaßt. Notizen sind zu verbrennen. Besprechungen in Privatwohnungen abzuhalten. Keine Zusammenkünfte in der Öffentlichkeit. Von keinem Außenstehenden irgendeinen Rat einholen. Berichterstattung an mich persönlich, nach telefonischer Voranmeldung über Major Pawlow. Ich werde dann eine Sitzung einberufen, bei der Sie Ihre Vorschläge unterbreiten können.«

Philby war klar, daß der Sowjetführer die Geheimhaltung außerordentlich ernst nahm. Er hätte dieses Treffen in seinen Amtsräumen im Präsidium des Zentralkomitees abhalten können, dem mächtigen grauen Komplex am Nowaya Plosched, wo seit Stalin alle Sowjetführer ihren Amtssitz haben. Aber dann hätten andere Mitglieder des Politbüros sie ankommen oder abfahren sehen oder etwas darüber hören können. Der Generalsekretär wollte ganz offensichtlich einen Ausschuß, der so völlig seine Privatangelegenheit war, daß niemand sonst davon erfahren durfte.

Und noch etwas war seltsam. Niemand vom KGB war anwesend, obgleich das Erste Hauptdirektorat massenhaft Unterlagen über England sowie die entsprechenden Experten zur Verfügung hatte. Aus Gründen, die nur er selber kannte, wollte der gerissene Führer die ganze Sache von den Geheimdiensten fernhalten, deren Vorsitzender er einst gewesen war.

»Irgendwelche Fragen?«

Philby hob zögernd die Hand. Der Generalsekretär nickte.

»Genosse Generalsekretär, früher fuhr ich meinen Privatwagen selber. Das haben mir die Ärzte seit meinem Schlaganfall im vergangenen Jahr verboten. Jetzt fährt mich meine Frau. Aber in diesem besonderen Fall, im Hinblick auf die Geheimhaltung -«

»Ich werde Ihnen für die Dauer Ihres Auftrags einen Fahrer des KGB zuweisen«, sagte der Generalsekretär ruhig. Alle wußten, daß die drei anderen Männer, ihrem Rang entsprechend, bereits über Dienstwagen mit Fahrer verfügten.

Weitere Punkte waren nicht zu erörtern. Auf ein Nicken hin schob der Diener den Rollstuhl mit dessen Insassen wieder durch die Doppeltür hinaus. Die vier Berater standen auf und verließen die Wohnung. Zwei Tage später nahm der Albion- Ausschuß im Landhaus eines der beiden Akademiemitglieder seine intensive Tätigkeit auf.

Preston erzielte tatsächlich einige Fortschritte. Noch während die erste Sitzung von Paragon andauerte, steckte er in den Räumen der Registratur tief unter dem Verteidigungsministerium.

»Bertie«, hatte er zu Brigadegeneral Capstick gesagt, »für die Leute hier im Haus bin ich einfach ein neuer Besen, der sich überall wichtig macht. Streuen Sie aus, daß ich mich nur bei meinen eigenen Vorgesetzten lieb Kind machen möchte. Routineüberprüfung von Sicherheitsmaßnahmen, kein Grund zu Besorgnis, bloß eine Nervensäge.«

Capstick hatte also überall austrompetet, der neue Chef von C.1. (A) klappere sämtliche Ministerien ab, um zu zeigen, wie bienenfleißig er sei. Die Archivare warfen wehe Blicke gen Himmel und erfüllten Prestons Wünsche mit kaum verhüllter Erbitterung. Aber auf diese Weise erhielt er Zugang zu den Akten, zu den Listen über Aus- und Wiedereingänge, erfuhr die Namen der Empfänger und, was das Wichtigste war, die Ausleihdaten.

Einen ersten Durchbruch konnte er schon bald verzeichnen. Alle Dokumente bis auf eines hatten im Außenministerium und im Cabinet Office zur Verfügung gestanden, da sie alle mit Englands NATO-Verbündeten und den Fragen einer gemeinsamen NATO-Reaktion auf eine ganze Palette möglicher sowjetischer Initiativen zu tun hatten.

Aber ein Dokument war nicht aus dem Verteidigungsministerium gelangt. Der beamtete Unterstaatssekretär, Sir Peregrine Jones, war kürzlich aus Washington zurückgekehrt, wo er Gespräche mit dem Pentagon geführt hatte; es ging um gemeinsame Patrouillenfahrten englischer und amerikanischer Atom-U-Boote im Mittelmeer, im Zentral- und Südatlantik und im Indischen Ozean. Sir Peregrine hatte eine Zusammenfassung dieser Gespräche angefertigt und einigen »Mandarinen« innerhalb des Ministeriums zugehen lassen. Die Tatsache, daß dieses Papier, in Fotokopie, zu den gestohlenen Dokumenten gehörte, bedeutete zumindest, daß sich das Leck innerhalb des Verteidigungsministeriums befand.

Preston arbeitete die Verteilerliste von streng geheimen Dokumenten für die letzten paar Monate durch. Daraus ging hervor, daß die anonym zurückgeschickten Papiere einen Zeitraum von vier Wochen abdeckten. Ferner ging hervor, daß jeder Mandarin, über dessen Schreibtisch alle diese Dokumente gegangen waren, auch noch weitere erhalten hatte. Der Dieb hatte also eine Auswahl getroffen.

Wie Preston am Ende des darauffolgenden Tages festgestellt hatte, konnten vierundzwanzig Männer Zugang zu allen zehn Dokumenten gehabt haben.

Er überprüfte die Abwesenheitslisten, Auslandsreisen, Grippefälle und strich alle, die für die Zeit des Diebstahls nicht in Frage kamen.

Zweierlei erschwerte ihm die Arbeit: Er mußte pro forma eine Unzahl anderer Entnahmen überprüfen, um die Aufmerksamkeit nicht auf diese speziellen zehn Dokumente zu lenken. Auch Archivare klatschen, und die undichte Stelle konnte ebensogut weiter unten sein, bei den Sekretärinnen und Schreibkräften, die in der Kaffeepause einen Schwatz mit den Archivaren abhalten mochten. Zweitens konnte er nicht in den oberen Etagen auftauchen und nachprüfen, wie viele Fotokopien von den Originalen angefertigt worden waren. Wie er wußte, war es durchaus üblich, daß jemand ein streng geheimes Dokument offiziell auf seinen Namen »ausleihen« konnte, wenn er den Rat eines Kollegen einholen wollte. Dann wurde eine Fotokopie angefertigt, nummeriert und dem Kollegen gegeben. Sobald diese Fotokopie wieder zurückkam, wurde sie vernichtet - oder in diesem Fall auch nicht. Dann ging das Original wieder in die Registratur. Aber mehrere Augenpaare konnten die Fotokopie gesehen haben.

Um das zweite Problem zu lösen, begab Preston sich, zusammen mit Capstick, nach Einbruch der Dunkelheit wiederum ins Ministerium und verbrachte zwei Nächte in den oberen Etagen, die leer waren bis auf die uninteressierten Putzfrauen, und prüfte die Anzahl der gemachten Fotokopien nach. Wieder konnte er einige Namen streichen, denn manches Dokument war auch an einen Mann gegangen, der keine Kopien hatte anfertigen lassen, ehe er es wieder ins Archiv zurückschickte. Am 27. Januar legte Preston in der Charles Street einen Zwischenbericht über seine Nachforschungen vor.

Er wurde von Brian Harcourt-Smith empfangen.

»Gut, daß Sie was für uns haben, John«, sagte Harcourt- Smith. »Anthony Plumb hat schon zweimal angerufen. Die Leute von Paragon setzen ihm zu, wie's scheint. Schießen Sie los.«

»Erstens«, sagte Preston, »die Dokumente. Sie wurden sorgfältig ausgewählt, als habe unser Dieb nur genommen, was bei ihm bestellt wurde. Erfordert große Sachkenntnis. Ich glaube, das schließt alle unteren Ebenen endgültig aus. Die würden es machen wie die Elstern, einfach klauen, was sie erwischen können. Eine Hypothese, aber sie beschränkt die Anzahl. Es muß meiner Meinung nach jemand sein, der Erfahrung hat und den Inhalt beurteilen kann. Was Bürokräfte und Boten ausschließt. Auf keinen Fall ist das Leck im Archiv. Kein verletztes Siegel, keine unerlaubte Entnahme oder eigenmächtige Anfertigung von Fotokopien.«

Harcourt-Smith nickte.

»Also suchen Sie es weiter oben?«

»Ja, Brian. Und ich habe noch einen zweiten Grund dafür. Ich habe zwei Nächte damit zugebracht, jeder einzelnen Fotokopie genau nachzugehen. Es bestehen keine Unstimmigkeiten. Bleibt folglich nur eine Möglichkeit: die Entnahme beim Vernichten. Jemand hat drei Kopien für den Reißwolf gekriegt und nur zwei hineingeworfen, die dritte hat er außer Haus geschmuggelt. Jetzt zu den leitenden Beamten, die das getan haben könnten.

Vierundzwanzig hatten Zugang zu allen zehn Dokumenten. Ich glaube, zwölf davon kann ich streichen, weil sie nur Kopien bekommen, und zwar immer nur eine in dem Fall, daß man ihren Rat einholen will. Die Vorschriften sind eindeutig. Wer immer aus diesem Grund eine Kopie erhält, muß sie demjenigen zurückgeben, von dem er sie bekommen hat. Andernfalls würde er vorschriftswidrig handeln und Verdacht erregen. Zehn Kopien zurückzubehalten wäre unerhört. Bleiben die zwölf Männer, die die Originale aus dem Archiv bekommen haben.

Drei von ihnen waren aus verschiedenen Gründen an den Tagen, die auf den anonym zurückgeschickten Kopien als Entnahmedaten festgehalten sind, nicht anwesend. Sie haben die Dokumente zu anderen Zeiten aus dem Archiv geholt und müssen daher von unserer Liste gestrichen werden. Bleiben noch neun.

Von diesen neun haben vier keinerlei Kopien für eventuelle Berater machen lassen, und es ist unmöglich, eigenmächtig für sich selbst Kopien ohne Eintrag anzufertigen.«

»Dann waren's nur noch fünf«, murmelte Harcourt-Smith.

»Stimmt. Also - es ist nur eine Hypothese, aber mehr kann ich im Moment nicht bieten. Drei von diesen fünf hatten zur in Frage kommenden Zeit weitere Dokumente auf dem Schreibtisch, die von ähnlicher Art waren wie die entwendeten Papiere, und überdies weit interessanter, aber diese Dokumente wurden nicht gestohlen. Von Rechts wegen hätten sie geklaut werden müssen. Hiermit komme ich zu den zwei letzten Männern. Nichts Konkretes, nur erstklassige Verdächtige.«

Preston schob zwei Kladden über den Schreibtisch, die Harcourt-Smith neugierig durchsah.

»Sir Richard Peters und Mr. George Berenson«, las er. »Sir Richard ist als stellvertretender Unterstaatssekretär verantwortlich für Internationale Gemeinschaftsprojekte, und Mr. Berenson ist stellvertretender Leiter des Beschaffungsamts. Beide haben natürlich ihre eigenen Mitarbeiter.«

»Ja.«

»Aber die führen Sie nicht als Verdächtige auf? Darf ich fragen, warum?«

»Sie sind verdächtig«, sagte Preston. »Diese beiden Herren würden es wahrscheinlich ihren Untergebenen überlassen, die Kopien anzufertigen und später zu vernichten. Aber das erweitert den Kreis auf ein Dutzend Leute. Wenn man für die beiden Herren an der Spitze einen Sicherheitsbescheid ausstellen und mit ihrer Hilfe den schuldigen Mitarbeiter erwischen könnte, wäre das Ganze ein Kinderspiel. Ich möchte mit den beiden leitenden Herren anfangen.«

»Was verlangen Sie?« fragte Harcourt-Smith.

»Totale verdeckte Überwachung beider Männer über eine begrenzte Zeitspanne, einschließlich Postüberwachung und Abhören des Telefons«, sagte Preston.

»Ich werde den Paragon-Ausschuß darum bitten«, sagte Harcourt-Smith. »Aber die beiden Männer sind Leute an der Spitze. Wäre besser für Sie, wenn Sie recht hätten.«

Die zweite Paragon-Sitzung fand am Spätnachmittag desselben Tages in der COBRA statt. Harcourt-Smith vertrat Sir Bernard Hemmings. Jedem Anwesenden gab er eine Abschrift von Prestons Bericht. Die Männer lasen schweigend. Als alle fertig waren, fragte Sir Anthony Plumb: »Nun?«

»Scheint logisch«, sagte Sir Hubert Villiers.

»Ich finde, Mr. Preston hat in der kurzen Zeit gute Arbeit geleistet«, sagte Sir Nigel Irvine. Harcourt-Smith lächelte säuerlich.

»Natürlich kann es keiner dieser beiden Herren sein«, sagte er. »Eine Bürokraft, die die Papiere hätte vernichten sollen, könnte leicht alle zehn Dokumente entwendet haben.«

Brian Harcourt-Smith war das Produkt einer sehr unbedeutenden Privatschule und litt unter einer beträchtlichen und völlig unnötigen Verbitterung. Hinter der glatten Fassade steckte ein gewaltiges Haßpotential. Von Jugend an haßte er die scheinbare Mühelosigkeit, mit der die Männer um ihn herum mit dem Leben fertig wurden. Er haßte ihr unübersehbares dichtgeflochtenes Netz von Beziehungen und Freundschaften, das oft schon in der Schulzeit, an der Universität oder beim Militär geknüpft worden war und auf das sie jederzeit zurückgreifen konnten. Man nannte es das »Netz der alten Knaben« oder auch den »magischen Zirkel«, und am meisten haßte er, daß er nicht dazugehörte.

Eines Tages, so hatte er sich schon tausendmal geschworen, wenn er den Posten des Generaldirektors und sein Adelsprädikat haben würde, könnte er als ihresgleichen unter ihnen sitzen, und sie würden ihm zuhören, wirklich zuhören.

Sir Nigel Irvine, ein sensibler Mensch, erhaschte von seinem Platz am Tischende aus einen Ausdruck in Harcourt-Smiths Augen und war betroffen. Dieser Mann steckt voller Ressentiments, überlegte er. Sir Nigel war gleichaltrig mit Sir Bernard Hemmings, und sie hatten einen langen Weg gemeinsam zurückgelegt. Er sann über die Nachfolge im Herbst nach. Er sann über Harcourt-Smiths Ressentiments nach, über den versteckten Ehrgeiz und wohin beides führen mochte oder vielleicht schon geführt hatte.

»Jetzt wissen wir also, was Mr. Preston haben möchte«, sagte Sir Anthony Plumb. »Totale Überwachung. Soll er sie kriegen?«

Alle hoben die Hand.

Jeden Freitag wird bei MI5 die sogenannte »Bittsitzung« abgehalten. Den Vorsitz führt der Chef von »K«, als Leiter der Gemeinschaftsabteilungen. Bei dieser Konferenz bringen die übrigen Dienststellenleiter ihre Ansuchen um Hilfen vor, die sie für notwendig erachten - Geld, technische Dienste und Überwachung ihrer Lieblingsverdächtigen. Am stärksten wird immer der Leiter von »A« bedrängt, dem die Observanten unterstehen. In dieser Woche war die Konferenz, was die Observanten betraf, im voraus ausverkauft. Die Bittsteller fanden am Freitag, dem 30. Januar, die Krippe leer. Zwei Tage zuvor hatte Harcourt-Smith auf Anweisung des Paragon-Ausschusses Preston die gewünschten Observanten zugewiesen.

Bei je sechs Leuten pro Team (vier bilden den »Rahmen«, zwei sitzen in geparkten Autos) und vier Teams in jeweils vierundzwanzig Stunden, die zwei Personen zu überwachen hatten, waren achtundvierzig Leute gebunden. Einige Dienststellen regten sich zwar darüber auf, aber niemand konnte etwas dagegen machen.

»Wir haben zwei Ziele«, erklärten die Einsatzleiter in der Cork Street den Teams, »dies ist das eine, das das andere.

Das eine ist verheiratet, aber die Ehefrau ist zur Zeit auf dem Land. Sie wohnen im West End, und er geht morgens meist zu Fuß ins Ministerium, ungefähr eineinhalb Meilen. Das andere ist Junggeselle und wohnt in der Nähe von Edenbridge in Kent. Pendelt täglich mit dem Vorortszug hin und her. Wir fangen morgen an.«

Der technische Dienst kümmerte sich um das Telefon und die Post, und Sir Richard Peters und Mr. George Berenson kamen unters Mikroskop.

Kurz ehe die Observanten anrückten, wurde in Fontenoy House ein Päckchen abgegeben. Als der Adressat von seiner Arbeit nach Hause kam, nahm er es vom Portier in Empfang. Es enthielt eine aus Zirkonen angefertigte Kopie der Glen-Diamanten und wurde am nächsten Tag bei der Coutts-Bank deponiert.