6. Kapitel
General Jewgenij Karpow stieg die letzten Stufen zum dritten Stock des Wohnblocks am Mira-Prospekt hinauf und klingelte. Nach ein paar Minuten wurde geöffnet. Philbys Frau stand in der Tür. Von drinnen konnte Karpow die kleinen Jungen hören, die beim Tee saßen. Er war absichtlich erst um achtzehn Uhr gekommen, da er annahm, daß die Kinder dann von der Schule zurück sein würden.
»Hallo, Erita.«
Sie warf mit einer kleinen Abwehrbewegung den Kopf zurück. Die Dame war also auf der Hut. Vielleicht wußte sie, daß Karpow nicht zu den Bewunderern ihres Mannes zählte.
»Genosse General.«
»Ist Kim zu Hause?«
»Nein. Er ist fort.«
Nicht »er ist ausgegangen«, sondern »er ist fort«, dachte Karpow. Er heuchelte Überraschung.
»Oh, ich hatte gehofft, ihn zu erwischen. Wissen Sie, wann er zurückkommt?«
»Nein.«
»Könnte ich ihn irgendwo erreichen?«
»Keine Ahnung.«
Karpow überlegte. Was hatte Philby doch damals bei diesem Kryutschow-Essen gesagt?... Irgend etwas der Art, daß er seit seinem Schlaganfall nicht mehr selber chauffieren dürfe. Karpow hatte in der Tiefgarage nachgesehen. Philbys Wolga stand unten.
»Ich dachte, Sie würden ihn jetzt immer fahren, Erita.«
Sie lächelte ein wenig. Nicht wie eine Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde. Eher das Lächeln einer Frau, deren Mann eine Beförderung erfahren hat.
»Nicht mehr. Er hat einen Fahrer.«
»Donnerwetter. Nun, tut mir leid, daß ich ihn verpaßt habe. Ich versuch's ein andermal, wenn er zurück ist.«
In tiefen Gedanken stieg er die Treppen hinunter. Einem Oberst a. D. stand kein eigener Fahrer zu. Von seiner Wohnung, zwei Straßen hinter dem Hotel Ukraina, aus rief er die Fahrbereitschaft des KGB an und verlangte den Dienstleiter. Der Name Karpow verfehlte seine Wirkung nicht. Der General trug ziemlich dick auf.
»Ich bin im allgemeinen sparsam mit Belobigungen. Aber Ehre, wem Ehre gebührt.«
»Danke, Genosse General.«
»Dieser Mann, der meinen Freund, den Genossen Oberst Philby fährt. Der Oberst hält viel von ihm. Nennt ihn einen erstklassigen Fahrer. Möchte ihn unbedingt haben, falls mein eigener Fahrer einmal krank sein sollte.«
»Nochmals vielen Dank, Genosse General. Ich werde es dem Fahrer Gregoriew bestellen.«
Karpow legte auf. Fahrer Gregoriew. Nie gehört. Aber ein kleiner Schwatz mit dem Mann könnte nicht schaden.
Am nächsten Morgen, dem 8. April, glitt die Akademik Komarow in den Clyde, da ihr Bestimmungshafen Glasgow war. In Greenock nahm sie den Lotsen und zwei Zollbeamte an Bord. Der Kapitän lud zum üblichen Glas in seiner Kajüte ein und legte die Papiere vor, wonach das Schiff aus Leningrad kam und nur tote Last führte, da es Zubehörteile für Hochleistungspumpen der Firma Cathcart abholen sollte. Die Zöllner überprüften die Mannschaftsliste, merkten sich jedoch keine einzelnen Namen. Später würde man feststellen, daß der Leichtmatrose Konstantin Semjonow auf dieser Liste aufgeführt war.
Wenn ein sowjetischer Illegaler auf dem Seeweg in ein Land kommt, steht sein Name im allgemeinen nicht auf der Liste der Schiffsbesatzung. Er kauert in einem winzigen Verschlag, einem Raum, der so geschickt in den Schiffskörper eingefügt und so gut versteckt ist, daß ihn auch die gründlichste Suchmannschaft nicht finden würde. Wenn dieser Mann dann zufällig oder aus operativen Gründen nicht wieder mit demselben Schiff zurückfahren kann, entsteht keine Unstimmigkeit in der Besatzungsliste. Aber dies hier war ein Schnellschuß gewesen. Für Umdispositionen war keine Zeit geblieben.
Der neue Matrose war mit den Männern aus Moskau erst in Leningrad eingetroffen, als die Komarow kurz vor dem Auslaufen zu ihrer termingebundenen Frachtfahrt nach Glasgow stand; dem Kapitän und dem zuständigen Polit-Offizier blieb nichts anderes übrig, als ihn auf die Mannschaftsliste zu setzen. Sein Seefahrtbuch war in Ordnung, und es hieß, er werde auch die Rückreise mitmachen.
Trotz alledem hatte der Mann eine eigene Kajüte bezogen und die ganze Überfahrt darin zugebracht, während die beiden echten Matrosen, die diese Kajüte hatten räumen müssen, zu ihrer Erbitterung in Schlafsäcken auf dem Boden der Offiziersmesse nächtigen mußten. Als der schottische Lotse an Bord kam, waren diese Schlafsäcke weggeräumt. Drunten in seiner Kajüte wartete Kurier Nummer zwei aus verständlichen Gründen ungeduldig auf die Mitternacht.
Als der Clyde-Lotse auf der Brücke der Komarow sein Frühstücksbrot kaute, während die Felder von Strathclyde vorüberglitten, war in Moskau schon Mittag. Karpow rief wieder die Fahrbereitschaft des KGB an. Wie er wußte, hatte jetzt ein anderer Dienstleiter Schicht.
»Sieht aus, als kriegte mein Fahrer die Grippe«, sagte er. »Heute will er noch durchhalten, aber morgen gebe ich ihm frei.«
»Ich werde dafür sorgen, daß Sie Ersatz bekommen, General.«
»Ich möchte am liebsten den Fahrer Gregoriew. Ist er frei?« Man hörte Papier rascheln, als der Dienstleiter seine Listen durchsah.
»Ja, Genosse General. Er war abkommandiert, ist aber wieder verfügbar.«
»Gut. Er soll sich morgen früh um acht Uhr in meiner Moskauer Wohnung melden. Ich habe die Wagenschlüssel, und der Tschaika steht in der Tiefgarage.«
Wird immer rätselhafter, dachte er, als er den Hörer auflegte. Gregoriew hatte also Philby eine Zeitlang herumfahren müssen. Warum? Weil es so viele und weite Fahrten waren, zuviel für Erita? Oder weil Erita nicht wissen durfte, wohin er fuhr? Und jetzt war der Fahrer wieder zurück. Was sollte das heißen? Vermutlich, daß Philby sich jetzt irgendwo aufhielt und keinen Fahrer mehr benötigte, zumindest nicht, bis die Operation, mit der er zu tun hatte, abgeschlossen sein würde.
Am Abend teilte Karpow seinem dankbaren ständigen Fahrer mit, er könne den nächsten Tag freinehmen und seine Familie aufs Land kutschieren.
Am selben Mittwochabend war Sir Nigel Irvine in Oxford mit einem Freund zum Dinner verabredet.
Einer der Reize des Saint Anthony College in Oxford liegt darin, daß es, wie so viele einflußreiche englische Institutionen, für die Allgemeinheit gar nicht existiert.
Natürlich existiert es sehr wohl, aber es ist so klein und unauffällig, daß jeder, der den Blick über die Haine Academias auf den Britischen Inseln schweifen ließe, es vermutlich übersehen würde. Das Studienhaus ist klein, elegant und versteckt; es bietet keine Lehrgänge an, bildet keine Studenten aus, hat keine Examenskandidaten und daher auch keine Examen, und verleiht keinen akademischen Grad. Es hat ein paar ständige Professoren und Fellows, die manchmal gemeinsam im Haupthaus dinieren, aber in verschiedenen Vierteln der Stadt »Räume« bewohnen, und andere, die auswärts ansässig sind und nur zu Besuch kommen. Zuweilen werden Außenseiter geladen, die vor den Fellows sprechen - eine seltene Ehre -, und zuweilen arbeiten Professoren und Fellows für die höheren Etagen des britischen Establishments »Papiere« aus, die sehr ernst genommen werden. Die Finanzierung des College ist ebenso undurchsichtig wie alles übrige.
In Wahrheit ist Saint Anthony's eine Denkfabrik wo Superhirne, häufig mit breiter nichtakademischer Erfahrung, sich dem Studium einer einzigen Disziplin widmen: den politischen Tagesproblemen.
An diesem Abend also speiste Sir Nigel mit seinem Gastgeber, Professor Jeremy Sweeting, im Haupthaus, und nach einem ausgezeichneten Mahl nahm der Professor Sir Nigel mit in seine »Räume«, ein komfortables Haus am Stadtrand von Oxford, zu Portwein und Kaffee.
»Also, Nigel«, sagte Professor Sweeting, als sie eine Flasche Vintage Port aus dem Hause Taylor geöffnet und es sich am Kaminfeuer im Arbeitszimmer gemütlich gemacht hatten, »was kann ich für Sie tun?«
»Haben Sie zufällig von einer Sache gehört, Jeremy, die sich M. B. R. nennt?«
Professor Sweetings Portweinglas blieb auf halber Höhe schweben. Er starrte es eine ganze Weile an.
»Wirklich, Nigel, Sie verstehen es, einem den Abend zu verderben, wenn Sie's darauf angelegt haben. Woher haben Sie diese Buchstaben?«
Anstatt einer Antwort reichte Sir Nigel Irvine seinem Gastgeber den Preston-Bericht. Professor Sweeting las ihn sehr genau, was eine Stunde dauerte. Irvine wußte, daß der Professor, im Gegensatz zu John Preston, nicht gern reiste. Er begab sich nicht vor Ort. Aber er besaß ein enzyklopädisches Wissen über die marxistische Theorie und Praxis, den dialektischen Materialismus und die Lehren Lenins von der Anwendbarkeit der Theorie auf die Praxis der Machterringung. Sweetings widmete sich mit ganzer Hingabe der Lektüre und Analyse, dem Studium und dem kritischen Vergleich.
»Interessant«, sagte er, als er den Bericht zurückgab. »Verschiedener Ausgangspunkt, natürlich auch eine andere Einstellung und eine völlig verschiedene Methode. Aber wir sind zu den gleichen Antworten gelangt.«
»Und könnten Sie mir freundlichst sagen, zu welchen Antworten Sie gelangt sind?« fragte Sir Nigel höflich.
»Es ist natürlich nur Theorie«, gab Professor Sweeting zu bedenken. »Tausend Halme im Wind, die zusammen einen Heuballen ergeben können oder auch nicht. Also, folgendes habe ich seit Juni 1983 eruiert.«
Er redete zwei Stunden lang, und als Sir Nigel sich weit nach Mitternacht verabschiedete und sich nach London zurückfahren ließ, war er sehr nachdenklich.
Die Akademik Komarow lag am Finniestonkai im Herzen von Glasgow vor Anker, so daß der riesige Kran, der dort aufgestellt war, am folgenden Morgen die Pumpen an Bord hieven könnte. Zoll- oder Paßkontrollen finden hier nicht statt; ausländische Seeleute können ohne weiteres von Bord gehen, den Kai entlang und in die Straßen der Stadt.
Um Mitternacht, während Professor Sweeting noch immer dozierte, schritt der Leichtmatrose Semjonow die Gangway hinunter, folgte etwa hundert Yards weit dem Kai, machte einen Bogen um Betty's Bar, vor deren Tür ein paar betrunkene Seeleute noch immer ihr Recht auf einen einzigen weiteren Drink forderten, und schwenkte dann in die Finnieston Street ein.
Der Mann mit den Stulpenstiefeln, Kordhosen, dem Rollkragenpullover und Anorak fiel hier nicht auf. Unter dem Arm trug er einen Jutesack mit Zugband. Nach der Unterführung des Clydeside Expressway gelangte er zur Argyle Street, in die er links einbog, bis er Partick Cross erreichte. Er benützte keinen Stadtplan, sondern marschierte stracks weiter zur Hyndland Road. Nach einer Meile erreichte er eine weitere große Durchfahrtsstraße, die Great Western Road. Er hatte sich seinen Weg schon Tage zuvor genau eingeprägt.
Jetzt zog er seine Uhr zu Rate: sie sagte ihm, daß er noch eine halbe Stunde Zeit hatte; und bis zum Treffpunkt waren es kaum zehn Minuten zu gehen. Er wandte sich nach links und marschierte in Richtung des Hotels Pond, nahe am Bootsteich kurz hinter der BP-Tankstelle, deren Lichter bereits in der Ferne blinkten. Er hatte fast schon die Bushaltestelle an der Kreuzung Great Western und Hughenden Road erreicht, als er die jungen Leute sah. Sie lungerten im Wartehäuschen der Haltestelle herum. Es war halb zwei Uhr morgens, und sie waren zu fünft.
In manchen Gegenden Englands werden sie Skinheads oder Punks genannt, aber in Glasgow heißen sie Neds. Seinjonow überlegte, ob er auf die andere Straßenseite gehen sollte, aber es war schon zu spät. Einer der Neds rief ihn an, und alle quollen aus dem Wartehäuschen. Semjonow konnte ein bißchen Englisch, aber dieses breite, breiige Säuferschottisch war zuviel für ihn. Sie blockierten den Gehsteig, und er trat auf die Fahrbahn. Einer packte ihn am Arm und schrie auf ihn ein. Die Frage des Rowdys lautete:
»Wa hasn da innem Sack da?«
Semjonow verstand ihn nicht, deshalb schüttelte er den Kopf und wollte weitergehen. Schon waren sie über ihm, und er stürzte unter einem Hagel von Schlägen zu Boden. Als er im Rinnstein lag, begannen sie, ihn zu treten. Undeutlich fühlte er Finger, die an seinem Jutesack zerrten, und er preßte ihn mit beiden Händen an sich und rollte sich auf den Bauch, so daß ihn die Tritte an Hinterkopf und Nieren trafen.
Devonshire Terrace, eine Reihe solider vierstöckiger Mittelklassehäuser aus braunen und grauen Sandsteinquadern, liegt an dieser Kreuzung. Im obersten Stockwerk eines dieser Häuser lag Mrs. Sylvester, alt, verwitwet, allein und von Arthritis verkrümmt, schlaflos im Bett. Sie hörte das Geschrei, das von der Straße heraufdrang, und humpelte ans Fenster. Nach einem kurzen Blick schleppte sie sich wieder durchs Zimmer zum Telefon, wählte 999 und verlangte die Polizei. Sie gab der Vermittlung an, zu welcher Kreuzung der Streifenwagen fahren solle, legte jedoch auf, als sie nach ihrem Namen und der Adresse gefragt wurde. Anständige Bürger, und die Bürger von Devonshire Terrace sind sehr anständig, wollen mit dergleichen nichts zu tun haben.
Die Constables Alistair Craig und Hugh McBain saßen in ihrem Streifenwagen am Ende der Great Western, am Hillhead, als der Funkspruch durchkam. Es war so gut wie kein Verkehr, und sie erreichten die Bushaltestelle in neunzig Sekunden. Die Neds hörten die Sirene und sahen das Blaulicht, ließen ab von dem Jutesack und rannten davon, über den Rasenstreifen, der die Hughenden Road von der Great Western trennt, so daß der Wagen ihnen nicht folgen konnte. Bis Police Constable Craig aus dem Streifenwagen sprang, waren sie nur noch entschwindende Schatten, jede Verfolgung wäre sinnlos gewesen. Ohnehin mußten die Polizisten sich zuerst um das Opfer kümmern.
Craig beugte sich über den Mann. Er lag zusammengekrümmt wie ein Fötus und war bewußtlos.
»Ambulanz, Hughie«, rief er zu Police Constable McBain hinüber, und der Fahrer gab die Meldung durch. Nach sechs Minuten war der Krankenwagen von der Western Infirmary zur Stelle. Die beiden Beamten hatten vorschriftsgemäß in der Zwischenzeit den Verletzten nicht berührt, sondern nur eine Decke über ihn gebreitet.
Die Sanitäter hoben den schlaffen Körper behutsam auf eine Rollbahre und schoben sie ins Fahrzeug. Als sie die Decke um den Mann schlugen, hob Craig den Jutesack auf und legte ihn in den Krankenwagen.
»Du fährst mit ihm, ich komm' nach«, rief McBain, und Craig stieg gleichfalls in den Ambulanzwagen. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie alle bei der Notaufnahmestation ankamen. Die Sanitäter rollten den Verletzten rasch durch die Schwingtüren, den Korridor entlang, um zwei Ecken und in den rückwärtigen Teil der Unfallstation. Da es sich um eine Notaufnahme handelte, mußten sie nicht durch den allgemeinen Wartesaal, wo die übliche frühmorgendliche Ansammlung von Süffeln ihre Platzwunden und Quetschungen versorgen lassen wollten, die sie sich bei Zusammenstößen mit unnachgiebigen Objekten zugezogen hatten.
Craig wartete am Eingang auf McBain, der den Streifenwagen parkte.
»Du kümmerst dich um die Aufnahmeformulare, Hughie, und ich mach' mich auf die Socken und seh' zu, ob ich Name und Adresse erfahren kann.«
McBain seufzte. Immer diese endlosen Aufnahmeformulare. Craig hob den Jutesack vom Boden auf und folgte der Bahre den Korridor entlang zur Unfallstation. Diese Abteilung der Western Infirmary besteht aus einem Durchgang mit Schwingtüren an beiden Enden und zwölf durch Vorhänge abgeteilten Kabinen, sechs auf jeder Seite des Mittelgangs. Elf Kabinen werden zu Untersuchungen benutzt; die zwölfte ist das Schwesternzimmer, gleich neben dem rückwärtigen Eingang, durch den die Bahren hereingefahren werden. Die Türen am anderen Ende haben in den Füllungen Spiegelglas und führen ins Wartezimmer, wo die gehfähigen Patienten sitzen und warten, bis sie an der Reihe sind.
Craig ließ McBain mit den Aufnahmeformularen in der Eingangshalle zurück und ging durch die Spiegeltüren zu den Untersuchungsräumen. Am anderen Ende des Ganges sah er die Bahre mit dem bewußtlosen Mann stehen. Die Stationsschwester warf den üblichen ersten Blick auf den Patienten - auf jeden Fall lebte er - und wies die Krankenträger an, ihn in einer der Untersuchungskabinen auf den Behandlungstisch zu legen, damit die Bahre wieder in den Notdienstwagen gebracht werden konnte. Die Männer wählten die Kabine, die dem Schwesternzimmer gegenüberlag.
Der Assistenzarzt, ein Inder namens Mehta, wurde geholt. Er ließ von den Krankenträgern den Oberkörper des Patienten freimachen - an der Hose waren keine Blutspuren - und führte eine längere Untersuchung durch, ehe er eine Röntgenaufnahme anordnete. Dann wandte er sich dem nächsten Notfall zu, einem Verkehrsopfer.
Die Stationsschwester rief in der Röntgenabteilung an, aber die war im Moment belegt. Man würde Bescheid geben, sobald sie frei war. Sie setzte Wasser auf, um sich eine Tasse Tee zu machen. Police Constable Craig, der sich überzeugt hatte, daß sein namenloser Schützling noch immer bewußtlos in der Kabine lag, nahm den Anorak des Mannes an sich, ging über den Gang ins Schwesternzimmer und legte Jacke und Jutesack auf den Tisch.
»Hätten Sie vielleicht eine Tasse von dem Gebräu für mich übrig?« fragte er die Schwester in dem kameradschaftlichen Ton der Nachtarbeiter, die mit vereinten Kräften im Chaos einer Großstadt wieder Ordnung schaffen.
»Hätt' ich schon«, sagte sie, »seh' bloß nicht ein, warum ich für euresgleichen was übrig haben sollte.«
Craig grinste. Er tastete die Taschen des Anoraks ab und brachte ein Seefahrtbuch zum Vorschein. Es trug das Foto des Mannes, der drüben in der Kabine lag, und war in zwei Sprachen ausgestellt, in Russisch und in Französisch. Er beherrschte keine von beiden. Die kyrillische Schrift konnte er nicht lesen, aber der Name war im französischen Teil in lateinischen Buchstaben geschrieben.
»Wer ist denn unser Jimmy?« fragte die Stationsschwester, während sie zwei Tassen Tee eingoß.
»Sieht aus wie ein Matrose, und ein russischer noch dazu«, sagte Craig verwirrt. Ein Bürger Glasgows, den eine Bande von Neds zusammenschlug, war kein Problem; ein Ausländer und zudem ein Russe, das konnte durchaus eines sein. In der Hoffnung, herauszufinden, von welchem Schiff der Mann war, leerte Craig den Jutesack.
Er enthielt weiter nichts als einen dicken Wollpullover, der um eine runde Tabaksdose mit Schraubdeckel gewickelt war. In der Dose war kein Tabak, sondern Watte, und darin steckten drei kleine Scheiben, zwei aus Aluminium, zwischen ihnen eine dritte aus stumpfgrauem Metall, etwa fünf Zentimeter im Durchmesser. Craig betrachtete die Scheiben ohne Interesse, legte sie in ihr Wattebett zurück, schraubte den Deckel wieder zu und legte die Dose neben das Seefahrtbuch auf den Tisch.
Er wußte nicht, daß das Opfer des Überfalls zu sich gekommen war und durch den Vorhang der Kabine zu ihm herüberspähte. Er wußte hingegen, daß er beim Revier anrufen und melden mußte, er habe da einen schwerverletzten Russen aufgegabelt.
»Darf ich mal das Telefon benutzen, Schatz?« fragte er die Schwester und streckte die Hand nach dem Hörer aus.
»Mit Schatz geht hier gar nichts«, gab die Schwester zurück, die um einiges älter war als der vierundzwanzigjährige Craig. »Mein Gott, die werden jeden Tag jünger.«
Police Constable Craig begann zu wählen. Was Konstantin Semjonow in diesem Augenblick durch den Kopf ging, wird man nie erfahren. Vermutlich hatte er durch die Tritte an den Hinterkopf eine Gehirnerschütterung erlitten, er war benommen und verwirrt und sah auf der anderen Seite des Korridors die unverwechselbare schwarze Uniform eines britischen Polizisten, der ihm den Rücken zuwandte. Und auf dem Tisch, neben der Hand des Polizisten, sah er sein Seefahrtbuch und den Gegenstand, den er hatte nach England bringen und dem Agenten am Bootsteich übergeben sollen. Er hatte beobachtet, wie der Beamte den Gegenstand prüfte - er selber hatte nie gewagt, die Dose zu öffnen -, und jetzt telefonierte der Mann. Vielleicht sah Semjonow sich im Geist bereits endlosen Verhören dritten Grads in einem modrigen Keller unter dem Polizeipräsidium von Strathclyde unterworfen.
Ehe Police Constable Craig wußte, wie ihm geschah, stieß ihn ein Ellbogen brutal beiseite. Ein nackter Arm schoß vor, griff nach der Blechdose und packte sie. Craig reagierte prompt, er ließ den Hörer fallen und umklammerte den ausgestreckten Arm.
»Was zum Teufel, Jimmy -« schrie er; dann fiel ihm ein, daß der arme Kerl vermutlich phantasierte, also packte er ihn und versuchte, ihn festzuhalten. Die Dose, die der Russe in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden. Eine Sekunde lang starrte Semjonow den schottischen Polizisten an, dann riß er sich los und rannte davon. »He Jimmy, bleib doch stehen!« schrie Craig, während er hinter dem Flüchtigen den Korridor entlangpolterte.
Shortie Patterson war ein notorischer Trunkenbold. Dank lebenslangen fleißigen Konsums von Alkohol in jeder Form war er nicht nur arbeitslos, sondern arbeitsunfähig. Er war kein gewöhnlicher Trinker; er hatte den Alkoholismus zur Kunstform entwickelt. Am Vortag hatte er seine Unterstützung bezogen und stracks in die nächste Kneipe getragen, und um Mitternacht war er volltrunken gewesen. Auf dem Heimweg hatte ihn die Impertinenz eines Laternenpfahls verstimmt, der seine dringenden Bitten um das Geld für ein kleines Schnäpschen hartnäckig ignorierte, also hatte er dem Burschen eins verpaßt.
Jetzt kam er mit seiner gebrochenen Hand aus der Röntgenabteilung und tappte den Korridor entlang zu seiner Kabine, als ein Mann mit nacktem, übel zugerichtetem Oberkörper und blutig geschlagenem Gesicht aus dem hintersten Raum herausgerannt kam, ein Polizist ihm auf den Fersen. Shortie wußte, was er einem Leidensgefährten schuldig war. Für Polizisten hatte er ohnehin nichts übrig, sie taugten offenbar nur dazu, ihn aus völlig bequemen Straßengräben zu zerren und Leuten auszuliefern, die ihn zum Baden zwangen. Er ließ den Flüchtenden vorbeirennen, dann streckte er das Bein aus.
»Du verdammter Blödmann«, brüllte Craig, als er zu Boden krachte. Bis er sich wieder aufgerappelt hatte, war der Russe schon zehn Yards weiter.
Semjonow sauste durch die Spiegeltüren in den Warteraum, übersah die schmale Tür ins Freie zu seiner Linken und rannte rechts durch die breiten Doppeltüren. So kam er wieder in die Rollbahreneinfahrt, durch die er eine halbe Stunde zuvor gekarrt worden war. Er wandte sich erneut nach rechts, doch dort kam ihm eine Bahre entgegen, geleitet von einem Arzt und zwei Pflegerinnen mit Plasmaflaschen: Dr. Mehtas Verkehrsopfer. Die Bahre blockie rte den ganzen Korridor; hinter sich hörte er galoppierende Stiefel.
Linker Hand war ein quadratischer Vorraum mit zwei Lifttüren. Die eine schloß sich gerade vor einem leeren Lift. Er warf sich in den Spalt, kurz bevor die Tür ganz zuging. Als der Lift nach oben schwebte, hörte er den Polizisten wütend dagegen donnern. Er lehnte sich an die Wand und schloß erschöpft die Augen.
Police Constable Craig raste zur Treppe und lief hinauf. An jedem Absatz warf er einen Blick auf die Lämpchen über den Lifttüren. Der Aufzug fuhr noch immer nach oben. Craig langte erhitzt, zornig und außer Atem im zehnten und obersten Stockwerk an.
Semjonow war im zehnten Stock ausgestiegen. Er öffnete die nächstgelegene Tür, aber es war ein Saal voll schlafender Patienten. Eine zweite Tür war offen und führte zu einer Treppe. Er rannte sie hinauf und befand sich in einem Korridor, an dem nur Duschräume, eine Anrichte und Abstellräume lagen. Ganz hinten stand eine Tür offen, durch die warme, feuchte Nachtluft hereinkam. Sie führte auf das flache Dach des Gebäudes.
Police Constable Craig lag zwar um einiges zurück, schaffte aber schließlich doch die letzte Treppe und trat in die Nacht hinaus. Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er am nördlichen Dachrand die Gestalt eines Mannes ausmachen. Sein Zorn verrauchte. Ich würde vermutlich auch durchdrehen, dachte er, wenn ich zum Beispiel in einem Moskauer Krankenhaus aufwachen würde. Er bewegte sich langsam auf die Gestalt zu und hielt beide Hände hoch, um zu zeigen, daß sie leer waren.
»Na, komm schon, Jimmy oder Iwan oder wie du sonst heißt. Alles O. K. Du hast eins auf die Birne gekriegt, kein Beinbruch. Komm, wir gehen wieder runter.«
Im Widerschein der Stadt unter ihnen konnte er das Gesicht des Russen ganz deutlich erkennen. Der Mann beobachtete jeden seiner Schritte, bis Craig nur noch zwanzig Fuß von ihm entfernt war. Dann blickte er hinunter, holte tief Atem, schloß die Augen und sprang.
Ein paar Sekunden lang konnte Police Constable Craig es nicht glauben, auch nicht, nachdem er das dumpfe Klatschen gehört hatte, mit dem der Körper hundert Fuß weiter unten auf dem Angestelltenparkplatz aufgeschlagen war.
»Herrje«, keuchte er. »Jetzt sitz' ich in der Tinte.«
Mit zitternden Fingern griff er nach seinem Funkgerät und rief das Revier.
Hundert Yards hinter der BP-Tankstelle, eine halbe Meile von der Busstation entfernt, liegt der Bootsteich mit dem Hotel Pond. Von der Straße führen ein paar Steinstufen hinunter zum Spazierweg rings um den Teich, und am Fuß der Stufen stehen zwei Holzbänke.
Die stumme Gestalt im schwarzledernen Motorradanzug blickte auf die Uhr. Drei Uhr. Der Treff hätte um zwei sein sollen. Die höchste zulässige Verspätung betrug eine Stunde. Ein Ausweichtreff war vereinbart; an einer anderen Stelle, vierundzwanzig Stunden später. Er würde dort sein. Sollte der Kontaktmann nicht auftauchen, so würde er nochmals das Funkgerät benützen müssen. Er stand auf und entfernte sich. Police Constable Hugh McBain hatte, als die wilde Jagd durch das Wartezimmer der Unfallstation raste, seine Schreibarbeit gerade unterbrochen, um im Streifenwagen die genauen Zeiten des Überfalls und der notierten Notrufe zu überprüfen. Er sah seinen Partner Craig erst wieder, als dieser bleich und verstört ins Wartezimmer herunterkam.
»Alistair, hast du jetzt den Namen und die Adresse?« fragte McBain.
»Er ist... er war... ein russischer Matrose«, sagte Craig.
»O Mist, hat uns grade noch gefehlt. Wie heißt er?«
»Hughie, er ist vor ein paar Minuten.. vom Dach gesprungen.«
McBain ließ den Stift sinken und starrte seinen Partner ungläubig an. Dann entsann er sich seiner Ausbildung. Jeder Polizist weiß, wenn es brenzlig wird, gibt es nur eines: Man hält sich bedeckt und befolgt die Vorschriften bis zum letzten I- Punkt - keine Husarenstreiche, keine superschlauen Alleingänge.
»Hast du das Präsidium verständigt?«
»Aye, kommt schon einer rüber.«
»Holen wir den Doktor«, sagte McBain.
Sie fanden Dr. Mehta, den die Neuzugänge in dieser Nacht bereits an den Rand der Erschöpfung gebracht hatten. Er ging mit ihnen zum Parkplatz, beugte sich keine zwei Minuten lang über den unförmigen zerschmetterten Körper, erklärte ihn für tot und sich daher für nicht mehr zuständig und kehrte zu seinen Pflichten zurück. Zwei Wärter brachten eine Decke, und eine halbe Stunde später fuhr ein Ambulanzwagen das Ding zum städtischen Leichenhaus am Jocelyn Square nahe dem Salt Market. Dort würden andere Hände den Rest der Kleidung entfernen - Schuhe, Socken, Hose, Unterhose, Gürtel und Armbanduhr -, alles mit Anhängern versehen und zur Aufbewahrung geben.
Im Krankenhaus waren noch weitere Formulare auszufüllen - auch die Einlieferungsformulare wurden zu den Akten genommen, obwohl sie jetzt keinem praktischen Zweck mehr dienen konnten -, und die beiden Polizisten registrierten und konfiszierten die übrigen Besitztümer des Toten. Die Liste lautete: 1 Anorak, 1 Rollkragenpullover, 1 Jutesack, 1 dicker Wollpullover (zusammengerollt), 1 runde Tabaksdose.
Noch ehe sie fertig waren, etwa eine Viertelstunde nach Craigs erster Meldung, erschienen ein Inspector und ein Sergeant vom Revier, beide in Uniform, und ersuchten um einen Arbeitsraum. Man stellte ihnen ein leeres Verwaltungsbüro zur Verfügung, wo sie die Berichte der beiden Constables entgegennahmen. Nach zehn Minuten schickte der Inspector den Sergeant zum Wagen, damit er den diensthabenden Chief Superintendent anfordere. Es war Donnerstag, der 9. April, vier Uhr morgens. In Moskau war es bereits acht.
General Jewgenij Karpow wartete, bis sie den Hauptverkehr von Südmoskau hinter sich hatten und zügig auf der Straße nach Jasjenewo dahinrollten, ehe er anfing, mit Gregoriew zu plaudern. Der dreißig Jahre alte Fahrer wußte offenbar, daß der General ihn ausdrücklich angefordert hatte, und zeigte sich beflissen.
»Na, fahren Sie gern für uns?«
»Sehr gern, Genosse General.« »Ja, da kommen Sie viel in der Gegend herum, wie? Besser, als in einem muffigen Büro zu sitzen.«
»Jawohl, Genosse General.«
»Unlängst meinen Freund Oberst Philby gefahren, wie ich höre.«
Kurzes Zögern. Verdammt, er hat Befehl, nicht darüber zu sprechen, dachte Karpow.
»Äh - jawohl, Genosse General.«
»Ist früher selbst gefahren, vor dem Schlaganfall.«
»Hat er mir gesagt, Genosse General.«
Am besten weitermachen.
»Wo haben Sie ihn denn hingefahren?«
Längere Pause. Karpow konnte das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel sehen. Er war unsicher, in der Klemme. »Ach, bloß in die Nähe von Moskau, Genosse General.« »An einen bestimmten Ort in der Nähe von Moskau?« »Nein, Genosse General. Bloß in die Nähe.« »Anhalten, Gregoriew.«
Der Tschaika scherte aus der reservierten Innenspur aus, suchte sich seinen Weg durch den nach Süden rollenden Verkehr und hielt schließlich in einer Parkbucht. Karpow beugte sich vor.
»Sie wissen, wer ich bin, Fahrer?« »Jawohl, Genosse General.« »Und Sie kennen meinen Rang im KGB?« »Jawohl, Genosse General. Generalleutnant.« »Dann lassen Sie gefälligst die Mätzchen, junger Mann. Wohin genau haben Sie ihn gefahren?«
Gregoriew schluckte. Karpow konnte sehen, daß er mit sich kämpfte. Die Frage war: Wer hatte ihm befohlen, über Philbys Fahrtziel Stillschweigen zu bewahren? Philby selber? Dann war er, Karpow, der Ranghöhere. Wenn jedoch der Befehl von weiter oben kam? In Wahrheit hatte Major Pawlow den Befehl erteilt und Gregoriew zu Tode erschreckt. Pawlow war nur Major, aber für einen Russen sind die Leute vom Ersten Hauptdirektorat unbekannte Größen, während ein Major der Kremlgarde... Trotzdem, General war General.
»Hauptsächlich zu irgendwelchen Besprechungen, Genosse General. Ein paar in Moskauer Wohnungen, aber ich bin nie hineingekommen und habe daher nicht gesehen, zu wem Oberst Philby gegangen ist.«
»Ein paar in Moskau.. Und die anderen?« »Meistens, nein, ich glaube immer in einer Datscha draußen in Zhukowka.«
Gehege des Zentralkomitees, dachte Karpow. »Wissen Sie, wessen Datscha das war?« »Nein, Genosse General. Ehrlich nicht. Er hat nur gesagt, wohin ich fahren soll. Dann habe ich immer im Wagen gewartet.«
»Wer ist sonst noch zu diesen Besprechungen erschienen?«
»Einmal, Genosse General, sind zwei Wagen gleichzeitig angekommen. Ich habe gesehen, wie der Mann aus dem anderen Wagen ausgestiegen und in die Datscha gegangen ist... «
»Und haben Sie ihn erkannt?«
»Jawohl, Genosse General. Bevor ich zur Fahrbereitschaft des KGB gekommen bin, war ich Fahrer bei der Armee. 1985 habe ich häufig einen Oberst vom GRU gefahren. Wir waren in Kandahar in Afghanistan stationiert. Dieser Offizier saß einmal bei meinem Oberst auf dem Rücksitz. Es war General Martschenko.«
Na, sieh mal an, dachte Karpow, mein alter Freund Pyotr Martschenko, Fachmann für Destabilisierung.
»Noch jemand bei diesen Besprechungen?«
»Nur noch ein Wagen, Genosse General. Wir Fahrer haben uns ein bißchen unterhalten - das stundenlange Warten und so. Aber der Kerl war zugeknöpft. Habe nur erfahren, daß er ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften herumkutschiert. Ehrlich, Genosse General, das ist alles, was ich weiß.«
»Weiterfahren, Gregoriew.«
Karpow lehnte sich zurück und sah zu, wie die Bäume vorüberflogen. Es waren also vier, und sie trafen sich, um irgend etwas für den Generalsekretär zu planen. Gastgeber war das Zentralkomitee, und die drei anderen waren Philby, Martschenko und ein nicht genanntes Mitglied der Akademie.
Morgen war Freitag, und die Wlasti würden so früh wie möglich Schluß machen und zu ihren Datschas fahren. Er wußte, daß Martschenko ein Landhaus in der Nähe von Peredelkino hatte, nicht weit von seinem eigenen entfernt. Er kannte auch Martschenkos schwache Seite und seufzte. Er würde eine größere Ladung Schnaps mitnehmen müssen. Und sich auf eine schwere Sitzung gefaßt machen.
Chief Superintendent Charlie Forbes hörte sich gelassen und genau an, was die Police Constables Craig und McBain ihm berichteten, nur dann und wann stellte er mit leiser Stimme eine Zwischenfrage. Er war überzeugt, daß die beiden die Wahrheit sagten, aber er war lang genug beim Bau, um zu wissen, daß auch die Wahrheit folgenschwer sein konnte.
Es war eine üble Geschichte. Technisch gesehen hatte der Russe sich in polizeilichem Gewahrsam befunden, auch wenn er im Krankenhaus lag. Police Constable Craig war mit ihm allein auf dem Dach gewesen. Es gab keinen einleuchtenden Grund, warum der Mann in die Tiefe gesprungen sein sollte. Forbes nahm wie alle übrigen an, daß der Mann infolge einer schweren Gehirnerschütterung zeitweilig geistesverwirrt und in Panik geraten war. Die ganze Sorge des Chief Superintendent galt den möglichen Konsequenzen für die Polizei von Strathclyde.
Man würde das Schiff suchen müssen, den Kapitän vernehmen, die Leiche formell identifizieren lassen, den sowjetischen Konsul informieren und natürlich die Presse, die verdammte Presse, und ein paar ihrer Vertreter würden nicht versäumen, zwischen den Zeilen ihr Lieblingsthema abzuhandeln, die Brutalität der Polizei. Verflixt, wenn die ihre gezielten Fragen stellten, könnte er ihnen nicht antworten. Warum sollte der Einfaltspinsel vom Dach gesprungen sein?
Um halb fünf war im Krankenhaus alles erledigt. Bei Tagesanbruch würde der ganze Zirkus losgehen. Forbes schickte seine Männer zurück ins Präsidium.
Um sechs hatten die beiden Polizisten ihre ausführlichen Rapporte fertig. Charlie Forbes saß in seinem Büro und schlug sich mit den vorschriftsmäßigen Erledigungen herum. Man versuchte, wahrscheinlich vergebens, die Dame ausfindig zu machen, die 999 gewählt hatte. Die Aussagen der beiden Sanitäter, die McBain über das Präsidium angefordert hatte, wurden zu Protokoll genommen. Wenigstens stand zweifelsfrei fest, daß die Neds den Mann mißhandelt hatten.
Die Stationsschwester hatte angegeben, was sie wußte, der vielgeplagte Dr. Mehta hatte seine Aussage gemacht, der Portier an der Notaufnahme hatte bestätigt, daß er gesehen hatte, wie der Mann mit dem nackten Oberkörper durch das Wartezimmer gerannt war und Craig hinterher. Danach, bei ihrem Wettlauf zum Dach, hatte niemand mehr die beiden Männer gesehen.
Forbes hatte das einzige sowjetische Schiff im Hafen als die Akademik Komarow identifiziert und einen Polizeiwagen hinausgeschickt, der den Kapitän zur Identifizierung des Toten abholen sollte; er hatte den sowjetischen Konsul aufgeweckt, der mit Sicherheit um neun Uhr im Präsidium anrücken würde, um offiziellen Protest einzulegen. Er hatte seinen eigenen Chief Constable alarmiert, desgleichen den Procurator Fiscal, der nach schottischem Recht auch das Amt des Staatsanwalts bekleidet.
Die persönlichen Besitztümer des Toten, die »Artikel«, waren allesamt verpackt und zum Revier Partick gebracht worden (der Überfall hatte in Partick stattgefunden), um dort unter Aufsicht des Staatsanwalts, der die Autopsie für zehn Uhr vormittags genehmigt hatte, in Verwahrung genommen zu werden. Charlie Forbes streckte sich und bestellte aus der Kantine Kaffee und Brötchen.
Während Chief Superintendent Forbes im Präsidium von Strathclyde an der Pitt Street die Schreibarbeit erledigte, unterzeichneten drüben im Revier die Police Constables Craig und McBain ihre Aussagen und begaben sich in die Kantine zum Frühstück. Beide Männer hatten Sorgen, und sie teilten diese Sorgen einem grauhaarigen Detective Sergeant von der zivilen Abteilung mit, der an ihrem Tisch saß. Nach dem Frühstück erbaten und erhielten sie die Erlaubnis, heimzugehen und zu schlafen.
Irgend etwas, was sie gesagt hatten, veranlaßte den Detective Sergeant, an das Münztelefon in der Halle vor der Kantine zu gehen und einen Anruf zu tätigen. Der Mann, den er beim Rasieren aufscheuchte, war Detective Inspector Carmichael, der aufmerksam zuhörte und seine Rasur höchst nachdenklich beendete. D. I. Carmichael gehörte Special Branch an.
Um halb acht stöberte Carmichael den Chief Inspector der uniformierten Abteilung auf, der der Autopsie beiwohnen würde, und fragte, ob er mitkommen könne. »Sie sind herzlich eingeladen«, sagte der Chief Inspector. »Städtisches Leichenhaus, um zehn Uhr.«
Im selben Leichenhaus, um acht Uhr morgens, starrte der Kapitän der Akademik Komarow, begleitet von seinem unvermeidlichen Polit-Offizier, auf einen Bildschirm, auf dem sich alsbald das zerschlagene Gesicht des Leichtmatrosen Semjonow zeigte. Er nickte langsam und murmelte etwas auf russisch.
»Ja, das ist er«, sagte der Polit-Offizier. »Wir möchten mit unserem Konsul sprechen.«
»Er wird um neun Uhr in die Pitt Street kommen«, sagte der uniformierte Sergeant, der sie begleitete. Beide Russen wirkten erschüttert und zahm. Muß schlimm sein, wenn man einen Schiffskameraden verliert, dachte der Sergeant.
Um neun Uhr wurde der sowjetische Konsul in das Büro von Chief Superintendent Forbes gebeten. Er sprach fließend englisch. Forbes bat ihn, Platz zu nehmen, und stürzte sich in die Schilderung der nächtlichen Ereignisse. Ehe er damit fertig war, brauste der Konsul auf.
»Ein schwerer Verstoß«, begann er. »Ich muß mich sofort mit der Sowjetbotschaft in London in Verbindung setzen...«
Es klopfte, und der Kapitän mit seinem Polit-Offizier wurden hereingeführt. Außer dem uniformierten Sergeant kam noch ein Mann in Zivil mit. Er nickte Forbes zu.
»Morgen, Sir. Kann ich hierbleiben?«
»Bitte, Carmichael. Sieht aus, als könnte es stürmisch werden.«
Aber nein. Der Polit-Offizier von der Akademik Komarow war kaum zehn Sekunden im Raum, als er den Konsul beiseite zog und hastig auf ihn einflüsterte. Der Konsul entschuldigte sich, und die beiden Männer gingen hinaus auf den Korridor. Nach drei Minuten kamen sie wieder herein. Der Konsul war förmlich und korrekt. Selbstverständlich werde er mit seiner Botschaft sprechen müssen. Er sei überzeugt, daß die Polizei von Strathclyde alles in ihrer Macht Stehende tun werde, um die Täter dingfest zu machen. Ob es möglich sei, den toten Seemann und seine Habseligkeiten an Bord der Akademik Komarow zu schaffen, die noch heute wieder nach Leningrad auslaufen werde?
Forbes war höflich, aber unerbittlich. Die Polizei werde alles unternehmen, um die Bande zu fassen. Inzwischen müsse die Leiche in der städtischen Leichenhalle verbleiben, und alle Effekten des Mannes würden im Polizeirevier von Partick unter Verschluß gehalten. Der Konsul nickte. Auch er wußte, was Vorschriften bedeuten. Und die beiden Männer gingen.
Um zehn Uhr betrat Carmichael den Autopsiesaal, wo Professor Harland sich die Hände wusch. Sie plauderten wie üblich über das Wetter, das bevorstehende Golfspiel und andere belanglose Dinge. Neben ihnen lag auf einer Steinplatte über dem Abfluß die zerschmetterte Leiche Semjonows.
»Darf ich ihn mal ansehen?« fragte Carmichael. Der Polizeipathologe nickte.
Zehn Minuten lang betrachtete Carmichael, was von Semjonow übriggeblieben war. Als der Professor zu schneiden begann, ging er, begab sich in sein Büro an der Pitt Street und rief eine Nummer in Edinburgh an, genau gesagt das schottische Gesundheitsministerium im Samt Andrew's House.
Dort sprach er mit einem pensionierten Assistant Commissioner, der aus einem ganz bestimmten Grund in diesem Ministerium saß: als Verbindungsmann zu MI5 in London.
Gegen Mittag klingelte das Telefon im Büro von C.4. (C) an der Gordon Street. Bright nahm das Gespräch entgegen, reichte dann aber Preston den Hörer.
»Für Sie. Er will mit niemand anderem sprechen.«
»Wer ist dort?«
»Gesundheitsministerium Edinburgh.«
Preston nahm den Hörer.
»Hier Preston.. Ja, guten Morgen.«
Er lauschte einige Minuten lang, seine Miene wurde ernst. Er kritzelte den Namen Carmichael auf einen Notizblock.
»Ja, ich komme wohl am besten rauf. Würden Sie Inspector Carmichael sagen, daß ich mit dem Drei-Uhr-Flug komme und ob er mich am Flughafen Glasgow abholen könnte? Vielen Dank.«
»Glasgow?« fragte Bright. »Was gibt's denn bei denen?« »Einen russischen Matrosen, der vom Dach gefallen ist und womöglich nicht genau das war, wofür er sich ausgab.
Ich bin morgen wieder da. Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten. Egal, Hauptsache, ich komme raus aus diesem Laden.«