3. Kapitel

 

John Preston erzielte seinen Durchbruch am folgenden Montag nachmittag.

Kurz nach vier Uhr traf eine Maschine der Austrian Airlines, aus Wien kommend, in Heathrow ein. Einer der Passagiere legte am Schalter für Reisende, die weder Staatsbürger des Vereinigten Königreichs noch der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft waren, einen österreichischen Paß vor, der auf den Namen Franz Winkler lautete.

Der Kontrollbeamte prüfte den wohlbekannten grüngebundenen Reisepaß mit dem goldenen Wappenadler, ohne mehr als die berufsmäßige Aufmerksamkeit zu zeigen. Der Paß war noch nie verlängert worden, trug ein halbes Dutzend europäischer Ein- und Ausreisestempel und hatte ein gültiges Visum für das Vereinigte Königreich.

Unter dem Schalter tippte die linke Hand des Beamten die Paßnummer ein, die auf jede Seite des Heftchens durchgestanzt war. Er warf einen Blick auf das Sichtgerät, klappte den Paß zu und gab ihn mit einem kurzen Lächeln seinem Eigentümer zurück.

»Vielen Dank, Sir. Und bitte der nächste.«

Als Herr Winkler seine Reisetasche aufnahm und durch die Sperre ging, hob der Beamte den Blick zu einem kleinen Fenster, das sechs Meter vor ihm lag. Zugleich drückte sein rechter Fuß einen Alarmknopf am Boden. Hinter dem Fenster hatte einer der Leute von Special Branch seinen Blick aufgefangen. Der Mann von der Paßkontrolle sah in Richtung von Herrn Winklers Rücken und nickte. Das Gesicht des Detektivs von Special Branch verschwand vom Fenster, und Sekunden später nahmen er und ein Kollege unauffällig die Beschattung des Österreichers auf. Ein weiterer Mann machte einen Wagen vor der Ankunftshalle startbereit.

Winkler hatte kein schweres Gepäck, daher ließ er das Kofferkarussell links liegen und marschierte stracks durch den grünen Zollkorridor. In der Halle verbrachte er einige Zeit am Schalter der Midland Bank, wo er Reiseschecks gegen SterlingWährung tauschte. Inzwischen konnte einer der SB-Leute von einer Galerie aus ein gutes Foto von ihm aufnehmen.

Als der Österreicher eines der vor Halle Zwei wartenden Taxis nahm, kletterten die SB-Beamten in ihre neutrale Limousine und folgten ihm. Der Fahrer konzentrierte sich darauf, das Taxi nicht aus den Augen zu verlieren; der ranghöhere SB-Mann informierte über Funk Scotland Yard, von wo aus die Information vorschriftsmäßig an die Charles Street weitergegeben wurde. Da »Sechs« grundsätzlich ebenfalls an jedem Einreisenden mit einem »präparierten« Paß interessiert war, machte Charles Street Meldung an Sentinel House.

Winkler fuhr mit dem Taxi bis Bayswater. An der Kreuzung Edgware Road und Sussex Gardens zahlte er und stieg aus. Dann ging er mit seiner Reisetasche Sussex Gardens entlang, dessen eine Seite fast ganz aus bescheidenen Frühstückspensionen besteht, von der Art, wie sie besonders Handlungsreisende und weniger begüterte späte Ankömmlinge vom nahe gelegenen Bahnhof Paddington bevorzugen.

Den Special-Branch-Männern, die auf der anderen Straßenseite in ihrem Wagen saßen, schien es, daß er kein Zimmer vorbestellt habe, denn er wanderte an den Häusern entlang, bis er ein Schild »Zimmer frei« sah. Dort trat er ein. Er mußte ein Zimmer bekommen haben, denn er kam nicht wieder heraus.

Eine Stunde nachdem Winklers Taxi von Heathrow abgefahren war, klingelte das Telefon in der Wohnung in Chelsea, wo Preston sich aufhielt. Sein Verbindungsmann in Sentinel House, der von Sir Nigel Anweisung hatte, mit Preston in Kontakt zu bleiben, meldete sich.

»Vor kurzem ist ein Joe in Heathrow gelandet«, sagte der Mann von MI6. »Kann eine Niete sein, aber seine Paßnummer hat kleine rote Lämpchen am Computer aktiviert. Name Franz Winkler, Österreicher, aus Wien eingeflogen.«

»Er ist doch hoffentlich nicht festgehalten worden?« sagte Preston. Er überlegte; Österreich ist angenehm nahe an der Tschechoslowakei und Ungarn. Als neutrales Land ist es außerdem eine gute Absprungstelle für Illegale aus dem Ostblock.

»Nein«, sagte der Mann in Sentinel House. »Laut unserer noch immer gültigen Anweisung sind sie ihm nachgefahren... Moment mal...« Ein paar Sekunden später war er wieder am Apparat. »Soeben haben sie ihn in einer kleinen Frühstückspension in Paddington abgeliefert.«

»Können Sie mich mit C verbinden?« fragte Preston.

Sir Nigel war in einer Besprechung, eilte jedoch sofort zurück in sein Büro.

»Ja, John?«

Preston setzte den Chef des SIS kurz über die wichtigsten Fakten ins Bild - sie hatten ihn bisher noch nicht erreicht.

»Glauben Sie, daß er der Mann ist, auf den Sie die ganze Zeit gewartet haben?«

»Er könnte ein Kurier sein«, sagte Preston. »Jedenfalls das Beste, was wir in den letzten sechs Wochen hereinbekommen haben.«

»Und was möchten Sie jetzt, John?«

»Ich möchte, daß Sechs die Observanten anfordert, damit sie die SB-Leute ablösen. Alle Berichte, die beim Observantenführer in Cork eingehen, sollen von einem Ihrer Leute sofort kontrolliert werden, ferner unverzüglich an Sentinel weitergegeben werden und von dort an mich. Wenn er sich mit jemandem trifft, sollen beide Männer observiert werden.«

»All right«, sagte Sir Nigel. »Ich veranlasse, daß die Observanten ihn übernehmen. Barry Banks wird im Funkraum von Cork sitzen und jede Entwicklung weitergeben.«

Der Chef rief persönlich den Direktor von Abteilung K an und gab seine Anweisung. Der Chef von »K« setzte sich mit seinem Kollegen von »A« in Verbindung, und ein Ablöseteam von Observanten machte sich auf den Weg nach Sussex Gardens in Paddington. Angeführt wurden sie auch diesmal wieder von Harry Burkinshaw.

Preston wanderte wie ein Tier im Käfig in der kleinen Wohnung auf und ab. Er wollte draußen sein auf den Straßen oder wenigstens im Mittelpunkt der Operation, nicht versteckt wie ein Geheimagent in seinem eigenen Land, Bauer in einem Machtspiel, das auf einer Ebene weit über ihm ausgetragen wurde.

Um sieben Uhr abends waren Harry Burkinshaws Leute an Ort und Stelle und hatten die SB-Männer abgelöst, die freudig nach Hause gingen. Es war ein schöner warmer Abend; die vier Observanten, die den »Rahmen« bildeten, postierten sich unauffällig rings um die Pension, einer ein Stück links vom Eingang, einer ein Stück weiter rechts, einer auf der anderen Straßenseite, der vierte an der Rückfront des Hauses. Die beiden Wagen stellten sich zwischen Dutzende anderer Autos, die entlang Sussex Gardens parkten, startbereit, falls Chummy ausrücken sollte. Alle sechs Observanten standen mittels Walkie-Talkies untereinander in Verbindung, Burkinshaw mit der Einsatzzentrale, dem Funkraum im Souterrain der Cork Street.

In der Cork Street saß Barry Banks, da dieser Einsatz von »Sechs« angefordert worden war, und alle warteten darauf, daß Winkler Kontakt aufnehme.

Nur leider tat er das nicht. Er tat überhaupt nichts. Er saß einfach in seinem Pensionszimmer hinter den Netzgardinen und rührte sich nicht. Um halb neun Uhr trat er aus der Tür, ging zu Fuß zu einem Restaurant an der Edgware Road, aß bescheiden zu Abend und kehrte in seine Pension zurück. Er hinterlegte nichts, holte keine Instruktionen ab, ließ nichts auf seinem Tisch liegen, sprach mit niemandem auf der Straße.

Aber zwei interessante Dinge hatte er doch getan. Auf dem Weg zum Restaurant war er jäh stehengeblieben, hatte sekundenlang in eine Spiegelglasscheibe gestarrt und kehrtgemacht.

Es ist einer der ältesten Tricks, um einen »Schatten« aufzuspüren, aber kein sehr guter Trick.

Als er das Restaurant verlassen hatte, blieb er am Bordstein stehen, wartete auf eine Lücke im Verkehrsstrom und sprintete über die Fahrbahn. Drüben blieb er wiederum stehen und spähte zurück, ob jemand hinter ihm hergesprintet war. Niemand. Winkler war nur Burkinshaws viertem Observanten recht nahe gekommen, der die ganze Zeit über auf der anderen Seite der Edgware Road gestanden hatte. Während Winkler in den Verkehrsstrom gespäht hatte, um zu sehen, wer Leben und Gesundheit riskieren würde, um ihn zu verfolgen, war der Observant direkt neben ihm gestanden und hatte scheinbar versucht, ein Taxi anzuhalten.

»Der ist garantiert ein falscher Fuffziger«, meldete Burkinshaw an Cork. »Sucht nach einem Schatten, aber nicht sehr geschickt.«

Burkinshaws Meldung erreichte Preston in seinem Versteck in Chelsea. Er atmete auf. Der Nebel lichtete sich.

Nach seinem Zickzacklauf in der Edgware Road kehrte Winkler in die Pension zurück und verbrachte dort den Rest der Nacht.

Inzwischen nahm im Souterrain von Sentinel House eine andere kleine Operation ihren wohldurchdachten Verlauf. Die Fotos, die auf dem Flughafen Heathrow von den SB-Leuten von Winkler gemacht worden waren, und weitere Aufnahmen auf der Straße in Bayswater waren jetzt entwickelt und ehrfürchtig der legendären Miß Blodwyn vorgelegt worden.

Die Identifizierung ausländischer Agenten oder solcher Ausländer, die möglicherweise Agenten sein könnten, bildet einen wichtigen Teil jeder Geheimdienstarbeit. Alle Dienststellen tragen dazu bei, indem sie Hunderte, ja Tausende von Fotos der Leute schießen, die für ihre Gegner arbeiten könnten. Sogar Verbündete landen in diesen SchnappschußAlben. Ausländische Diplomaten, Mitglieder von Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturdelegationen - alle werden routinemäßig fotografiert, besonders, aber nicht ausschließlich, wenn sie aus kommunistischen oder kommunistenfreundlichen Ländern kommen.

Die Archive wachsen und wachsen. Manchmal werden von derselben Person zwanzig Schnappschüsse zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten gemacht. Keiner wird je weggeworfen. Man braucht sie für eine spätere Identifizierung.

Wenn ein Russe namens Iwanow als Begleiter einer sowjetischen Handelsdelegation in Kanada auftaucht, so wird sein Foto fast immer von der Royal Canadian Mounted Police an die Kollegen in Washington, London und in den übrigen NATO-Staaten weitergegeben. Es ist gut möglich, daß dieses selbe Gesicht fünf Jahre früher als das eines Journalisten namens Kozlow fotografiert wurde, der zu den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten einer afrikanischen Republik gereist war. Sollten über den wahren Beruf jenes Herrn Iwanow, der die Schönheiten Ottawas in vollen Zügen genießt, Unklarheiten bestehen, so wird Herrn Kozlows Porträt alle Zweifel zerstreuen. Dieser Mann ist hauptamtlicher KGB-Spion.

Der Austausch solcher Fotos zwischen den Geheimdiensten der Alliierten, einschließlich der brillanten israelischen Mossad, ist permanent und umfassend. Nur sehr wenige Ostblockbürger, die in den Westen oder in die dritte Welt reisen, tauchen nicht in diesen Fotoalben in mindestens zwanzig demokratischen Hauptstädten auf. Und niemand, der in die Sowjetunion reist, endet nicht in der Schönheitsgalerie der Zentrale. Es klingt wie ein Witz, entspricht jedoch den Tatsachen: Während die »Vettern« von der CIA Datenbänke haben, in denen sie Abermillionen einzelner Gesichtszüge speichern, um den täglich eintreffenden Strom von Fotos zu meistern, hat England seine Blodwyn.

Blodwyn, eine ältere und arg ausgenützte Dame, die ständig von ihren jüngeren männlichen Kollegen um eine rasche Auskunft bedrängt wird, ist seit vierzig Jahren auf ihrem Posten und arbeitet in den unterirdischen Gewölben von Sentinel House, wo sie das umfangreiche Bildarchiv leitet, das »Familienalbum« von MI6. Es st alles andere als ein Album, vielmehr eine riesige Höhle mit endlosen Regalen voller Fotobänden, über die sie allein ein wahrhaft enzyklopädisches Wissen besitzt.

Blodwyns Gehirn ist der Datenbank der CIA ebenbürtig, manchmal sogar überlegen. Es speichert nicht etwa alle Einzelheiten über den Dreißigjährigen Krieg oder die Aktienindizes von Wall Street, sondern Gesichter. Nasenformen, Kinnlinien, Augenpartien; eine hängende Wange, der Schwung eines Lippenpaars, die Art, wie ein Glas oder eine Zigarette gehalten wird, das Aufblitzen eines Goldzahns, dessen lächelnder Besitzer in einer australischen Kneipe und Jahre später in einem Londoner Supermarkt geknipst wurde - das alles ist Wasser auf die Mühle dieses phänomenalen Gedächtnisses.

In jener Nacht, während Bayswater schlief und Burkinshaws Leute im Dunkeln wachten, saß Blodwyn an ihrem Tisch und starrte auf das Gesicht von Franz Winkler. Zwei junge Männer von »Sechs« warteten schweigend. Nach einer Stunde sagte sie lakonisch: »Fernost« und entschwand zwischen den Regalen. In den frühen Morgenstunden des Dienstag, 26. Mai, hatte sie ihn

identifiziert.

Es war kein gutes Foto, und es war fünf Jahre alt. Das Haar war damals dunkler gewesen, die Taille schlanker. Er stand höflich lächelnd neben dem Gesandten seines Landes bei einem Empfang in der indischen Botschaft.

Einer der jungen Männer blickte zweifelnd auf die beiden Fotos. »Sind Sie sicher, Blodwyn?«

Wenn Blicke lähmen könnten, wäre er von Stund an im Rollstuhl gefahren. Er trat schleunigst den Rückzug an und ging ans Telefon.

»Sie hat ihn«, sagte er. »Er ist Tscheche. War vor fünf Jahren irgendein Underling in der tschechischen Botschaft in Tokio. Name: Jiri Hayek.«

Der Anruf hatte Preston um drei Uhr morgens aufgeweckt. Er hörte zu, dankte dem Anrufer und legte den Hörer wieder auf. Er lächelte glücklich.

»Geschafft«, sagte er.

Um zehn Uhr vormittags war Winkler immer noch in seiner Pension. In der Cork Street hatte Simon Margery von K.2. (B), Sowjetische Satellitenstaaten/Tschechoslowakei, die Einsatzleitung übernommen. Schließlich gehörte der Fall jetzt in sein Ressort.

Barry Banks, der im Büro übernachtet hatte, war bei ihm und gab alle Entwicklungen auf dem üblichen Weg an Sentinel House weiter.

Zur gleichen Zeit rief John Preston den Justitiar an der US- Botschaft an, einen persönlichen Bekannten. Dieser »Legal Counsellor« an der Botschaft am Grosvenor Square ist stets der Londoner Vertreter des FBI. Preston brachte sein Anliegen vor und erhielt den Bescheid, er werde zurückgerufen, sobald die Antwort aus Amerika eintreffe, etwa in fünf bis sechs Stunden, da man den Zeitunterschied in Rechnung stellen müsse.

Um elf trat Winkler aus der Tür der Pension. Er ging wieder bis zur Edgware Road, stieg in ein Taxi und fuhr in Richtung Park Lane. An Hyde Park Corner bog das Taxi, gefolgt von zwei Wagen mit dem Observantenteam, in Piccadilly ein. Dort stieg Winkler in der Nähe des Piccadilly Circus aus und unternahm ein paar weitere primitive Versuche, einen Schatten abzuschütteln, den er noch nicht einmal geortet hatte.

»Jetzt geht's wieder los«, murmelte Len Stewart vor sich hin. Er hatte Burkinshaws Bericht gelesen und etwas Ähnliches erwartet. Winkler schoß plötzlich fast im Laufschritt in eine Passage, tauchte am anderen Ende wieder auf, schusselte den Gehsteig entlang und drehte sich nach dem Durchgang um, aus dem er soeben aufgetaucht war. Niemand kam heraus. Es war auch nicht nötig. Am südlichen Ende des Durchgangs hatte sich längst ein Observant postiert.

Die Observanten kennen London besser als jeder Polizist oder Taxifahrer. Sie wissen, wie viele Ausgänge jedes größere Gebäude hat, wo Durchgänge und Unterführungen verlaufen, wo sich enge Passagen befinden und wohin sie führen. Wohin immer ein Joe sich verdrücken will, ist ihm ein Observant bereits vorausgeeilt, einer kommt langsam nach, und zwei bilden die Flanke. Der »Rahmen« ist nicht zu sprengen, und nur ein sehr gewitzter Joe kann ihn überhaupt entdecken.

Überzeugt, daß ihm kein Schatten folge, betrat Winkler das Reisebüro der britischen Eisenbahnen in der Lower Regent Street. Dort erfragte er die Abfahrtszeiten der Züge nach Sheffield. Der Fußballfan mit dem Schottenhalstuch, der dicht neben ihm stand und heim nach Motherwell wollte, war einer der Observanten. Winkler kaufte eine Rückfahrkarte zweiter Klasse nach Sheffield, zahlte bar, notierte sich, daß der letzte Zug um neun Uhr fünfundzwanzig abends vom St. Pancras- Bahnhof abging, dankte dem Schalterbeamten und ging.

Er aß in der Nähe zu Mittag, kehrte nach Sussex Gardens zurück und blieb den ganzen Nachmittag dort.

Preston bekam die Meldung über die Fahrkarte nach Sheffield kurz nach ein Uhr. Er erwischte Sir Nigel Irvine gerade noch, als »C« sich auf den Weg zum Lunch in seinem Club machen wollte.

»Es kann blinder Alarm sein, aber es sieht aus, als wolle er die Stadt verlassen«, sagte Preston. »Vielleicht fährt er zu seinem Treff. Der könnte im Zug stattfinden oder in Sheffield. Vielleicht hat er so lang gezögert, weil es noch zu früh war. Es geht darum, Sir, wenn er London verläßt, dann brauchen wir einen Einsatzleiter, der mit den Observanten reist. Ich möchte dieser Einsatzleiter sein.«

»Ja, ich verstehe. Nicht einfach. Aber ich will sehen, was sich machen läßt.«

Sir Nigel seufzte. Essig mit dem Lunch, dachte er. Er ließ seinen Adjutanten kommen.

»Bestellen Sie meinen Lunch im White's ab. Meinen Wagen vorfahren lassen. Und ein Telegramm aufnehmen. In dieser Reihenfolge.«

Während der Adjutant sich an die beiden ersten Aufgaben machte, rief Sir Nigel Sir Bernard Hemmings in seinem Haus bei Farnham in Surrey an.

»Entschuldigen Sie die Störung, Bernard. Es tut sich etwas, und ich möchte Ihren Rat. Nein... lieber unter vier Augen. Könnte ich zu Ihnen hinauskommen? Prachtwetter ohnehin. Ja, gut, also dann gegen drei.«

»Das Telegramm?« sagte sein Adjutant.

»Ja.«

»An wen?«

»An mich.«

»Gewiß. Von wem?«

»Chef der Residentur in Wien.«

»Soll ich ihn benachrichtigen, Sir?«

»Nicht nötig. Sorgen Sie dafür, daß ich vom Chiffrierraum sein Telegramm in drei Minuten erhalte.«

»Selbstverständlich. Und der Text?«

Sir Nigel diktierte den Text. Daß er eine dringende Botschaft an sich selbst schickte, um zu rechtfertigen, was er ohnehin tun wollte, war ein alter Trick, den er von seinem einstigen Mentor, Sir Maurice Oldfield, gelernt hatte. Als der Chiffrierraum das Telegramm in der Form heraufschickte, in der es aus Wien eingegangen wäre, steckte der alte Fuchs es ein und ging hinunter zu seinem Wagen.

Er fand Sir Bernard in seinem Garten in Tilford, wo er, eine Decke auf den Knien, die warme Maisonne genoß.

»Wollte eigentlich heute reinkommen«, sagte der Generaldirektor von »Fünf« mit gutgespielter Munterkeit. »Aber morgen ganz bestimmt.«

»Gewiß, gewiß.«

»Also, wie kann ich helfen?«

»Kitzlig«, sagte Sir Nigel. »Jemand ist soeben aus Wien in London gelandet. Als österreichischer Geschäftsmann ausgewiesen. Aber das ist Schwindel. Wir konnten ihn gestern nacht identifizieren. Tschechischer Geheimagent, einer der Jungens vom StB. Kleiner Fisch, vermutlich ein Kurier.«

Sir Bernard nickte. »Ja, ich bin im Bilde. Auch hier draußen. Habe alles darüber erfahren. Meine Leute haben die Sache im Griff, nicht wahr?«

»Absolut. Nur, es sieht aus, als wolle er heute abend London verlassen. Richtung Norden. Fünf braucht einen Einsatzleiter, der mit den Observanten reist.«

»Selbstverständlich. Es wird sich jemand finden. Brian kann das erledigen.«

»Ja. Es ist natürlich Ihre Operation. Andererseits... Sie erinnern sich an die Affäre Berenson? Zwei Dinge konnten wir nie herausfinden. Hält Marais Verbindung über die Rezidentura hier in London oder benutzt er Kuriere, die von draußen geschickt werden? Und war Berenson der einzige Mann, den Marais führte, oder ist es ein ganzes Netz?«

»Ich weiß. Wir wollten diese Fragen auf Eis legen, bis wir von Marais ein paar Antworten kriegen würden.«

»Das stimmt. Aber heute bekam ich dieses Telegramm von meinem Residenten in Wien.«

Er holte das Telegramm hervor. Sir Bernard las es und hob die Brauen.

»Eine Verbindung zwischen den beiden? Wäre das möglich?«

»Es wäre möglich. Winkler, alias Hayek, scheint eine Art Kurier zu sein. Wien bestätigt, daß er nominell zum StB gehört, tatsächlich jedoch für den KGB arbeitet. Wir wissen, daß Marais in den letzten zwei Jahren, während er Berenson führte, zweimal in Wien gewesen ist. Jedesmal Kulturreisen, aber -«

»Das fehlende Glied?«

Sir Nigel zuckte die Achseln. Niemals übertreiben.

»Und wozu fährt er jetzt nach Sheffield?«

»Wenn wir das wüßten, Bernard. Gibt es in Yorkshire ein zweites Netz? Könnte Winkler Zulieferer für mehrere Netze sein?«

»Und was möchten Sie jetzt von Fünf? Noch mehr Observanten?«

»Nein, ich möchte John Preston. Wie Sie sich erinnern werden, ist er zuerst Berenson auf die Spur gekommen und dann Marais. Ich mag seinen Stil. Er war eine Weile in Urlaub. Anschließend hatte er eine kleine Grippe, wie ich hörte. Aber morgen soll er wieder anfangen. Nachdem er so lange weg war, hat er vermutlich ohnehin keine laufenden Fälle. Technisch gehört er zu See- und Flughäfen, C.5. (C). Aber Sie wissen, daß die Leute von K mehr als ausgelastet sind. Wenn er nur vorübergehend zu K abgestellt würde, könnten Sie ihn für dieses eine Mal zum Einsatzleiter bestimmen..«

»Well, ich weiß nicht recht, Nigel. Das ist wirklich Brians Sache...«

»Ich wäre schrecklich dankbar, Bernard. Schließlich hat Preston die Jagd nach Berenson vom Start an mitgemacht. Wenn Winkler auch dazugehört, dann könnte Preston vielleicht sogar ein Gesicht sehen, das ihm nicht neu ist.«

»All right«, sagte Sir Bernard. »Sie haben gewonnen. Ich werde die Anweisung von hier aus erteilen.«

»Ich könnte sie gleich mitnehmen, wenn Sie möchten«, sagte »C«. »Spart Ihnen die Mühe. Schicke meinen Fahrer mit dem Wisch hinüber in die Charles Street...«

Er verließ Tilford mit dem »Wisch« in der Tasche, einer schriftlichen Anweisung von Sir Bernard Hemmings, wonach John Preston vorübergehend an Referat K überstellt und zum Einsatzleiter der Operation Winkler ernannt wurde, sobald der Genannte die Hauptstadt verlassen würde.

Sir Nigel ließ zwei Kopien anfertigen, eine für sich und eine für John Preston. Das Original ging an die Charles Street. Brian Harcourt-Smith war nicht im Büro, daher blieb der Befehl auf seinem Schreibtisch liegen.

An diesem Abend um sieben Uhr verließ Preston die Wohnung in Chelsea zum letztenmal. Endlich war er wieder draußen in der frischen Luft und fühlte sich wohl.

In Sussex Gardens trat er leise hinter Harry Burkinshaw.

»Hallo, Harry.«

»Du lieber Gott, John Preston! Was machen Sie denn hier?«

»Bloß ein bißchen Luft schnappen.«

»Lassen Sie sich lieber nicht blicken. Wir haben einen Joe im Haus drüben auf der anderen Straßenseite.«

»Weiß ich. Und er will mit dem Zug um einundzwanzig Uhr fünfundzwanzig nach Sheffield fahren.«

»Woher wissen Sie das?«

Preston zog seine Kopie von Sir Bernards Anweisung aus der Tasche. Burkinshaw las sie durch.

»Wow! Vom Herrn Generaldirektor persönlich. Willkommen beim Verein. Aber bleiben Sie bloß außer Sicht.«

»Kann ich ein Walkie haben?«

Burkinshaw wies mit einer Kopfbewegung die Straße entlang.

»Um die Ecke am Radnor Place. Brauner Cortina. Im Handschuhfach liegt noch eins.«

»Ich warte im Wagen«, sagte Preston.

Burkinshaw wunderte sich. Niemand hatte ihm gesagt, daß Preston als Einsatzleiter mitkommen werde. Er hatte nicht einmal gewußt, daß Preston zur Tschechen-Abteilung gehörte. Aber die Unterschrift des GD war entscheidend. Er für seine Person würde einfach seinen Job weitermachen. Er zuckte die Achseln, schob wieder einmal ein Pfefferminzbonbon in den Mund und wartete weiter.

Um halb neun verließ Winkler die Pension. Er trug seine Reisetasche. Er hielt ein vorbeifahrendes Taxi an und nannte dem Fahrer das Ziel.

Als er aus der Tür getreten war, hatte Burkinshaw sein Team und seine beiden Wagen gerufen. Dann sprang er in den vorderen Wagen, und sie fuhren hundert Yards hinter dem Taxi durch die Edgware Road. Preston saß im zweiten Wagen. Nach zehn Minuten wußten sie, daß die Fahrt ostwärts zum Bahnhof ging. Burkinshaw gab die Meldung durch. Aus Cork kam Simon Margerys Stimme zurück:

»O. K., Harry, unser Einsatzleiter ist unterwegs.«

»Wir haben schon einen«, sagte Burkinshaw. »Er ist hier bei uns.«

Das war Margery neu. Er fragte nach dem Namen. Als er ihm genannt wurde, glaubte er, sich verhört zu haben.

»Er gehört ja nicht einmal zu K (B)«, wandte er ein.

»Jetzt schon«, sagte Burkinshaw ungerührt. »Ich hab' den Befehl gesehen. Unterschrieben vom Generaldirektor.«

Margery von Cork Street rief Charles an. Während der Konvoi in der Dämmerung nach Osten fuhr, brach in Charles Street das große Getue aus. Sir Bernards Anweisung wurde gesucht, gefunden und bestätigt. Margery warf erbittert die Arme hoch.

»Warum können diese Armleuchter von Charles sich nie beizeiten entschließen?« fragte er sich und die Welt. Er rief den Kollegen, den er zum St.-Pancras-Bahnhof geschickt hatte, wieder ab. Dann versuchte er, Brian Harcourt-Smith aufzustöbern, um ihm sein Leid zu klagen.

Auf dem Bahnhofsvorplatz bezahlte Winkler sein Taxi, durchschritt den Torbogen der Ziegelfassade, betrat die viktorianische Schalterhalle mit der hohen Kuppeldecke und studierte die Abfahrtstafel. Die vier Observanten und Preston mischten sich in den Strom der Reisenden und geleiteten ihren Joe in die Bahnhofshalle, eine Konstruktion aus Ziegeln und Eisen.

Der Zug nach Sheffield, mit Halt in Leicester, Derby und Chesterfield, stand auf Gleis zwei. Winkler ging den Bahnsteig entlang, vorbei an den drei Wagen erster Klasse und dem Büffetwagen bis zu den drei blaugepolsterten Waggons zweiter Klasse an der Spitze des Zuges. Er stieg in den mittleren Wagen, hievte seine Reisetasche ins Gepäcknetz, setzte sich und wartete in aller Ruhe auf die Abfahrt.

Es war ein Großraumwagen, und nach ein paar Minuten kam ein junger Farbiger herein, Kopfhörer aufgestülpt, einen Walkman an den Gürtel gehakt, und ließ sich drei Reihen von Winkler entfernt nieder. Sobald er saß, fing er an, im Takt der heißen Rhythmen, die ihm in die Ohren gellen mußten, mit dem Kopf zu nicken, schloß die Augen und gab sich dem Kunstgenuß hin. Einer von Burkinshaws Leuten war zur Stelle; aus seinen Kopfhörern kamen keine Reggaeklänge, sondern Harrys Instruktionen in Lautstärke fünf.

Einer von Burkinshaws Observanten übernahm den vordersten Wagen, Harry und John Preston setzten sich in den dritten, so daß Winkler eingerahmt war, und der vierte Mann nahm in der ersten Klasse am Zugende Platz, für den Fall, daß Winkler die Fliege machte, um einen etwaigen Schatten abzuschütteln.

Punkt neun Uhr fünfundzwanzig zischte der Intercity 125 aus dem Bahnhof St. Pancras und brauste nordwärts. Um neun Uhr dreißig hatte Simon Margery die Spur Harcourt-Smiths bis zum Speisesaal seines Clubs verfolgt und ließ ihn ans Telefon holen. Was der stellvertretende Generaldirektor von »Fünf« hörte, veranlaßte ihn, aus dem Club zu stürzen, in ein Taxi zu springen und quer durch West End bis zur Charles Street zu rasen.

Auf seinem Schreibtisch fand er die Anweisung, die Sir Bernard Hemmings am Nachmittag geschrieben hatte. Harcourt- Smith wurde weiß vor Wut. Er war jedoch ein äußerst beherrschter Mensch, und nachdem er die Sache ein paar Minuten lang überdacht hatte, griff er zum Telefon und bat die Vermittlung höflich wie stets, ihn mit der Privatwohnung des Justitiars seiner Dienststelle zu verbinden.

Der Justitiar amtiert häufig als Verbindungsmann zwischen dem Geheimdienst und Special Branch. Während Harcourt- Smith wartete, sah er die Abfahrtszeiten der Züge nach Sheffield nach. Der Justitiar wurde von seinem Sessel vor dem Fernsehgerät in Camberley aufgestört und meldete sich. »Special Branch muß für mich eine Festnahme durchführen«, sagte Harcourt-Smith. »Ich habe Grund, anzunehmen, daß ein illegal eingereister Mann, vermutlich ein Sowjetagent, sich der Überwachung entziehen könnte. Name Franz Winkler, angeblich österreichischer Staatsbürger. Grund der Festnahme:

Verdacht auf Besitz eines gefälschten Passes. Er wird mit dem Zug aus London um dreiundzwanzig Uhr neunundfünfzig in Sheffield eintreffen. Ja, ich weiß, die Zeit ist knapp. Deshalb ist es so dringend. Ja, bitte wenden Sie sich an den Commander Special Branch beim Yard, er soll seine Leute in Sheffield losschicken, damit sie bei Ankunft des Zuges die Verhaftung vornehmen können.«

In grimmiger Entschlossenheit legte er auf. Man konnte ihm John Preston als Außenführer der Observanten aufdrängen, aber die Festnahme eines Verdächtigen war Sache der Polizei und somit die seine.

Der Zug war fast leer. Die insgesamt sechzig Reisenden hätten in zwei der sechs Waggons reichlich Platz gehabt. Barney, der Observant im vordersten Wagen, hatte nur zehn völlig unschuldige Mitpassagiere. Er saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, so daß er durch das Türglas zwischen den beiden Wagen den obersten Teil von Winklers Kopf sehen konnte.

Im zweiten Waggon waren außer Ginger, dem jungen Farbigen mit den Kopfhörern, und seinem Schützling Winkler noch fünf Leute. Ein Dutzend Fahrgäste, dazu Preston und Burkinshaw teilten sich im dritten Wagen in sechzig Plätze. Eineinviertel Stunden lang tat Winkler gar nichts; er hatte nichts zu lesen bei sich; er starrte nur aus dem Fenster auf die dunkle Landschaft.

Um zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig, kurz vor Leicester, verlangsamte der Zug seine Fahrt, und in Winkler kam Bewegung. Er nahm seine Reisetasche herunter, ging durch den Wagen zum Vorplatz und ließ das Fenster der Tür herunter, die zum Bahnsteig führte. Ginger alarmierte die anderen, die sich bereit machten, wenn nötig sofort aufzubrechen.

Als der Zug hielt, drückte sich ein Mitreisender an Winkler vorbei.

»Entschuldigung, ist das schon Sheffield?« fragte Winkler.

»Nein, Leicester«, sagte der Mann und stieg aus.

»Aha, danke«, sagte Winkler. Er stellte die Reisetasche &, blieb aber am offenen Fenster stehen und blickte während des kurzen Aufenthalts ständig den Bahnsteig auf und ab. Als der Zug wieder anfuhr, kehrte er auf seinen Platz zurück und stellte auch die Reisetasche wieder ins Netz.

Um dreiundzwanzig Uhr zwölf, in Derby, wiederholte sich das Manöver. Diesmal fragte er einen Schaffner auf dem Bahnsteig des hallenden Betongewölbes, das den Bahnhof von Derby bildet.

»Derby«, rief der Schaffner. »Sheffield ist die übernächste.«

Wieder nutzte Winkler den Aufenthalt, um durch das offene Fenster zu spähen, und wieder kehrte er auf seinen Platz zurück und warf die Reisetasche ins Netz. Preston beobachtete ihn durch die Zwischentür.

Um dreiundzwanzig Uhr dreiundvierzig fuhren sie in Chesterfield ein, einem Bahnhof aus der Zeit der Queen Victoria, der jedoch sehr gepflegt wirkt mit seiner hellen Bemalung und den Blumenampeln. Diesmal ließ Winkler die Reisetasche liegen, ging aber wieder hinaus und lehnte sich aus dem Fenster, als einige Reisende ausstiegen und durch die Sperre eilten. Der Bahnsteig war schon wieder leer, ehe der Zug sich in Bewegung setzte. Als er anfuhr, riß Winkler die Tür auf, sprang auf den wegrollenden Beton und warf die Tür hinter sich zu.

Es kam selten vor, daß Burkinshaw von einem Joe überlistet wurde, aber später gestand er, Winkler habe ihn glatt aufs Kreuz gelegt. Alle vier Observanten hätten leicht noch aus dem Zug springen können, aber der Bahnsteig bot nicht die Spur einer Deckung, und sie wären so wenig aufgefallen wie eine Herde roter Elefanten. Winkler hätte sie unweigerlich gesehen und seinen Treff ausfallen lassen, wo immer der auch stattfinden sollte.

Preston und Burkinshaw rannten vor zur Plattform, Ginger kam aus dem vorderen Wagen herbei. Das Fenster war noch offen. Preston streckte den Kopf hinaus und blickte zurück. Winkler, der endlich sicher war, daß ihm niemand folgte, marschierte den Bahnsteig entlang, er wandte ihnen den Rücken zu.

»Harry, fahren Sie mit dem Team im Wagen hierher zurück«, schrie Preston. »Rufen Sie mich über Funk, wenn Sie nah genug sind. Ginger, machen Sie die Tür hinter mir zu.«

Er zog die Tür auf, stellte sich aufs Trittbrett, kauerte in der »Landeposition« der Fallschirmjäger nieder und sprang.

Fallschirmspringer schlagen mit einer Geschwindigkeit von etwa acht Meilen pro Stunde am Boden auf; die Seitengeschwindigkeit hängt vom Wind ab. Der Zug fuhr dreißig, als Preston auf die Böschung zusauste; er betete, daß er nicht gegen einen Betonpfosten oder auf einen großen Stein prallen möge. Er hatte Glück; das dichte Gras dämpfte den Aufprall ein wenig ab, dann rollte er sich ab, Knie zusammenpreßt, Ellbogen angelegt, Kopf eingezogen. Harry sagte später, er habe nicht hinsehen können. Ginger sagte, Preston sei gehopst wie ein Gummiball, die Böschung entlang und abwärts, auf die rollenden Räder zu. Als er endlich zum Halten kam, lag er im Graben zwischen dem Gras und dem Bahnkörper. Er rappelte sich auf, machte kehrt und hielt im Laufschritt auf die Lichter des Bahnhofs zu.

Als er die Sperre erreichte, schloß der Bahnbeamte gerade zu. Er blickte die lädierte Erscheinung in der zerrissenen Jacke erstaunt an.

»Der letzte Mann, der durch die Sperre ging«, sagte Preston, »klein, stämmig, grauer Regenmantel. Wohin ist er gegangen?«

Der Mann wies zum Bahnhofsvorplatz, und Preston rannte los. Zu spät fiel dem Beamten ein, daß er ihm die Fahrkarte nicht abgenommen hatte. Auf dem Vorplatz sah Preston die Schlußlichter eines Taxis aus dem Parkplatz in Richtung Stadt fahren. Es war das letzte Taxi. Er hätte über die Polizeistation den Taxifahrer ausfindig machen und fragen können, wohin er den Fahrgast gebracht habe, aber er wußte, daß Winkler das Taxi vor seinem eigentlichen Ziel verlassen und den Rest zu Fuß gehen würde. Neben ihm trat ein Schaffner den Kickstarter seines Mopeds.

»Ich muß mir Ihr Rad ausleihen«, sagte Preston.

»Hau bloß ab«, sagte der Schaffner. Preston hatte keine Zeit, sich auszuweisen oder herumzustreiten; die Schlußlichter des Taxis tauchten unter die neue Ringstraße und außer Sicht. Also versetzte Preston dem Mann einen Kinnhaken. Der Schaffner krachte zu Boden. Preston fing das umfallende Moped ab, zog es zwischen den Beinen des Mannes hervor, schwang sich hinauf und fuhr los.

Eine Verkehrsampel war sein Glück. Das Taxi war in die Corporation Street eingebogen, und Preston hätte es auf seinem Spirituskocher nie mehr erwischt, wenn die Ampel vor der Stadtbücherei nicht auf Rot gestanden hätte. Als das Taxi die Holywell Street entlang und in die Saltergate Street fuhr, war er hundert Yards hinter ihm; dann vergrößerte sich der Abstand, als der stärkere Motor die gerade halbe Meile der Autostraße entlangfuhr. Hätte Winkler sich in die ländliche Umgebung westlich von Chesterfield fahren lassen, so wäre er Preston mit Sicherheit entwischt.

Glücklicherweise leuchteten die Bremslichter des Taxis auf, als es nur noch ein Fleck in der Ferne war. Winkler stieg aus, wo die Saltergate in die Ashgate Road übergeht. Als Preston näher kam, konnte er Winkler sehen, der neben dem Taxi stand und die Straße auf und ab spähte. Weit und breit kein Verkehr; es blieb Preston nichts anderes übrig als weiterzufahren. Er ratterte an dem haltenden Taxi vorbei wie ein Mann, der spät von der Arbeit heimkehrt, schwenkte in die Foljambe Road ein und hielt an.

Winkler überquerte das Ende der Straße; Preston folgte ihm. Winkler sah sich kein einziges Mal mehr um. Er marschierte rund um die Begrenzung des Fußballplatzes von Chesterfield und in die Compton Street. Don trat er an eine Haustür und klopfte. Preston hatte sich von einer dunklen Stelle zur nächsten geschoben, die Straßenecke erreicht und sich hinter einem Busch im Garten des Eckhauses versteckt.

Ein Stück straßauf sah er in einem dunklen Haus Lichter angehen, und die Tür wurde geöffnet. Nach einem kurzen Wortwechsel auf der Schwelle ging Winkler hinein. Preston seufzte und ließ sich hinter seinem Busch zu einer langen Nachtwache nieder. Er konnte die Nummer des Hauses, in das Winkler gegangen war, nicht lesen, auch hatte er die Rückfront nicht im Blickfeld, aber er sah die hohe Mauer des Fußballplatzes direkt hinter dem Haus, also gab es dort vielleicht keinen Ausgang.

Um zwei Uhr morgens hörte er das schwache Geräusch in seinem Sprechgerät, als Burkinshaw in Reichweite gekommen war. Preston meldete sich und gab seinen Standort durch. Um halb drei hörte er leise Schritte und pfiff. Burkinshaw kam zu ihm ins Gebüsch.

»Alles in Ordnung, John?«

»Ja. Er ist dort drüben im Haus, zweites nach dem Baum, mit dem Licht hinter der Gardine.«

»Hab's. John, in Sheffield hat uns ein Empfangskomitee erwartet. Zwei von Special Branch und drei in Uniform. Von London hinbestellt. Haben Sie eine Festnahme verlangt?«

»Nie im Leben. Winkler ist ein Kurier. Ich will den großen Fisch. Vielleicht ist er dort im Haus. Was war mit dem Empfangskomitee?«

Burkinshaw lachte.

»Gott segne die britische Polizei. Sheffield liegt in Yorkshire, das hier ist Derbyshire. Sie müssen es am Morgen mit ihren Chief Constables ausschnapsen. Gibt Ihnen Zeit.«

»Mhm. Wo sind die anderen?«

»Hinten auf der Straße. Wir sind in einem Taxi zurückgekommen und haben es wieder weggeschickt. John, wir sind ohne Wagen. Sobald es hell wird, haben wir auf dieser Straße keine Deckung.«

»Stellen Sie zwei ans obere Ende und zwei hier ans untere«, sagte Preston. »Ich gehe zurück in die Stadt und bitte auf dem Polizeirevier um eine kleine Unterstützung. Wenn Chummy abschwirrt, sagen Sie es mir. Aber bleiben Sie ihm mit zwei Leuten auf den Fersen, zwei bleiben beim Haus.«

Er verließ den Garten und ging zu Fuß ins Zentrum von Chesterfield, wo er nach einiger Suche das Polizeirevier in der Beetwell Street fand. Im Gehen ging ihm ein Satz ständig im Kopf um. Irgend etwas an der Schau, die Winkler abgezogen hatte, ergab keinen Sinn.