2. Kapitel

 

Erst am Sonntag darauf, dem 4. Januar, erreichte der Inhaber der Wohnung in Fontenoy House die Nummer, die er drei Tage lang stündlich angerufen hatte. Es war nur ein kurzes Gespräch, aber es hatte zur Folge, daß er sich kurz vor der Mittagsstunde mit einem anderen Mann traf, und zwar in einer verschwiegenen Nische der Gasträume eines stillen Hotels im West End.

Der Gesprächspartner war um die Sechzig, hatte eisengraues Haar und wirkte in seinem korrekten Anzug wie ein Staatsbeamter, was er in gewissem Sinn auch war. Er traf als zweiter ein, und während er Platz nahm, entschuldigte er sich. »Tut mir schrecklich leid, daß ich die letzten drei Tage nicht zu erreichen war«, sagte er. »Ich bin Junggeselle und war über Neujahr bei Freunden auf dem Land eingeladen. Also, wo brennt's?«

Der Wohnungsinhaber berichtete in kurzen, klaren Sätzen. Er hatte Zeit gehabt, sich genau zu überlegen, wie er die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen darstellen würde, und tat es in wohlgesetzten Worten. Der andere folgte dem Bericht mit wachsendem Ernst.

»Gewiß, Sie haben völlig recht«, sagte er schließlich. »Es könnte sehr gravierend sein. Haben Sie die Polizei benachrichtigt, als Sie Donnerstag nacht nach Hause kamen? Oder zu irgendeinem späteren Zeitpunkt?«

»Nein, ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen.«

»Wäre aber vielleicht besser gewesen. Nun, jetzt ist es ohnehin zu spät. Die Experten würden feststellen, daß der Tresor schon vor drei oder vier Tagen aufgesprengt wurde. Schwierig zu erklären. Es sei denn...«

»Ja?« fragte der Wohnungsinhaber hoffnungsvoll.

»Es sei denn, Sie könnten glaubhaft machen, der Spiegel sei an seinem alten Platz gewesen und alles so tipptopp in Ordnung, daß Sie drei Tage lang überhaupt nichts von dem Einbruch gemerkt haben.«

»Kaum«, sagte der Wohnungsinhaber. »Der Teppich war an allen vier Kanten umgeschlagen. Der Kerl muß an den Wänden entlanggegangen sein, um nicht auf die Druckfühler zu treten.«

»Ja«, überlegte der andere. »Die Polizei würde kaum schlucken, daß ein Einbrecher aus lauter Ordnungsliebe den Teppich geglättet und den Spiegel wieder aufgehängt hätte. So geht es demnach nicht. Und vermutlich wird man auch nicht vorgeben können, Sie hätten die letzten drei Tage anderswo verbracht.«

»Wo zum Beispiel? Jemand hätte mich sehen müssen. Aber es hat mich niemand gesehen. Im Club? Im Hotel? Ich hätte mich anmelden müssen.«

»Genau«, sagte sein Gegenüber. »Nein, so geht's auch nicht. Wie auch immer, die Würfel sind gefallen. Jetzt ist es zu spät, um die Polizei einzuschalten.«

»Aber was zum Teufel tu' ich dann?« fragte der Wohnungsinhaber. »Der Schmuck muß ganz einfach wiedergefunden werden.«

»Wie lange wird Ihre Frau noch wegbleiben?« fragte der andere.

»Schwer zu sagen. Es gefällt ihr in Yorkshire. Ein paar Wochen, hoffe ich.«

»Dann müssen wir dafür sorgen, daß der beschädigte Safe durch einen neuen, völlig gleichen ersetzt wird. Und wir brauchen eine Kopie der Glen-Diamanten. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen.«

»Aber was ist mit dem, was gestohlen wurde?« fragte der Wohnungsinhaber verzweifelt. »Die Dinger dürfen nicht einfach irgendwo herumschwirren. Ich muß sie zurückhaben.«

»Stimmt«, nickte der andere. »Nun, wie Sie sich denken können, haben meine Leute ihre Verbindungen zur Diamantenbranche. Ich werde Nachforschungen veranlassen. Die Schmuckstücke werden fast mit Sicherheit an einen der Schwerpunkte der Edelsteinschleiferei zur Umarbeitung geschickt. In ihrer jetzigen Form wären sie nicht abzusetzen. Zu leicht zu identifizieren. Ich will sehen, ob wir den Einbrecher fassen und die Dinger wiederbeschaffen können.«

Der Mann stand auf und schickte sich zum Gehen an. Der Wohnungsinhaber blieb sitzen, offensichtlich zutiefst besorgt. Der korrekt gekleidete Mann war nicht weniger erschüttert, ließ es sich jedoch nicht so anmerken.

»Sprechen Sie nicht darüber, und handeln Sie nicht auf eigene Faust«, riet er. »Sehen Sie zu, daß Ihre Frau so lange wie möglich auf dem Land bleibt. Benehmen Sie sich völlig normal. Seien Sie ganz ruhig, Sie werden von mir hören.«

Am Morgen darauf schloß sich John Preston dem gewaltigen Menschenstrom an, der sich nach den fünf arbeitsfreien Tagen der Neujahrswoche wieder in die Londoner City ergoß. Da Preston in South Kensington wohnte, fuhr er am liebsten mit der U-Bahn zur Arbeit. An der Goodge Street stieg er aus und ging die letzten vierhundert Meter zu Fuß, ein unauffälliger sechsundvierzigjähriger Mann mittlerer Größe und Figur im grauen Regenmantel und trotz der Kälte ohne Hut.

Fast am Ende der Gordon Street bog er in den Zugang zu einem ebenso unauffälligen Gebäude ein, das ein Bürohaus unter vielen anderen hätte sein können, solide, aber nicht modern, und mit dem Firmenschild einer Versicherungsgesellschaft versehen. Erst in der Eingangshalle zeigten sich gewisse Unterschiede zu den benachbarten Verwaltungsgebäuden.

Erstens waren drei Männer in der Halle, einer an der Tür, einer hinter dem Empfangspult und einer neben den Lifttüren; alle drei nach Maß und Gewicht höchst untypisch für

Policenakquisiteure. Falls ein argloser Bürger sich hierher verirrte, um ausgerechnet bei dieser und keiner anderen Gesellschaft einen Abschluß zu tätigen, so würde er barsch dahingehend beschieden werden, daß nur Leute mit einem Spezialausweis, der vor dem Auge des kleinen Computers unter der Empfangstheke Gnade fand, weiter kamen als bis in die Halle.

Der britische Sicherheitsdienst, besser bekannt als MI5, haust nicht nur in einem einzigen Gebäude. Er verteilt sich vielmehr, was ebenso umsichtig wie unpraktisch ist, auf vier Bürohäuser. Das Hauptquartier ist an der Charles Street, nicht mehr im alten Leconfield House, wie die Zeitungen gewöhnlich schreiben.

Die zweitgrößte Abteilung hat ihren Sitz in der Gordon Street und wird schlicht »Gordon« genannt, so wie das Hauptquartier kurz und bündig unter der Bezeichnung »Charles« läuft. Die beiden weiteren Gebäude liegen an der Cork Street (und werden als »Cork« bezeichnet), und eine bescheidene Nebenstelle an der Marlborough Street ist gleichfalls nur unter dem Namen der Straße bekannt.

Die Dienststelle ist in sechs Referate unterteilt, die über sämtliche Gebäude verstreut sind. Und einige Referate haben wiederum Unterabteilungen in den verschiedenen Häusern. Um unnötigen Verschleiß von Schuhwerk zu vermeiden, sind sämtliche Abteilungen durch ein hochgesichertes Telefonnetz miteinander verbunden und verfügen jeweils über ein unfehlbares Kontrollsystem, das jedem Unbefugten den Zutritt verwehrt.

Referat A besteht aus den Unterabteilungen Politik, Logistik, Standortverwaltung, Registratur/Datenverarbeitung, dem Büro des Justitiars und dem Observierungsdienst. Dort nistet jene ganz besondere straßenkundige und gerissene Spezies von Männern (und einigen Frauen) aller Altersstufen und Typen, aus der die besten Überwachungsteams der Welt gebildet werden können. Sogar die »Konkurrenz« gibt zu, daß die »Beschatter«

von MI5 auf eigenem Platz schlechthin unschlagbar sind.

Während der für Auslandsaufklärung zuständige Geheime Nachrichtendienst MI6 eine Anzahl von Amerikanismen in seinen Hausjargon aufgenommen hat, bedient sich der mit Schutzfunktion im Inland befasste Sicherheitsdienst MI5 noch immer weitgehend des guten alten Polizeijargons.

Er vermeidet Ausdrücke wie »surveillance operative« und nennt seine Observantenteams immer noch schlicht und einfach »Beschatter«.

Referat B befaßt sich mit Anwerbung, Personal, Sicherheitsüberprüfung, Beförderungen, Pensionen und Finanzen (will heißen Gehälter und Auslagen im Geschäftsinteresse).

Referat C ist verantwortlich für die Sicherheit in Behörden (Personal und Baulichkeiten), in Unternehmen mit Staatsaufträgen (hauptsächlich Privatfirmen, die auf dem Rüstungs- und Kommunikationssektor tätig sind), für die militärische Sicherheit (in enger Zusammenarbeit mit dem Abschirmdienst der Army) und für Sabotageabwehr (Vorsorge und Aufdeckung).

Es gab früher auch ein Referat D, das jedoch, dank der nur den Geheimdienstinsidern zugänglichen Logik, schon vor langer Zeit die Bezeichnung »Referat K« erhalten hat. Es ist eines der größten Referate, und seine größte Abteilung heißt nur »Sowjet«. Sie ist unterteilt in Operative Funktionen, Außendienst und Einsatztaktik. Ferner gehört zu »K« »Sowjetische Satelliten«, gleichfalls in die drei genannten Untergruppen aufgeteilt, dann »Forschung« und schließlich »Agenten«.

Selbstverständlich widmet »K« seine nicht unbeträchtlichen Aktivitäten der Überwachung des Heeres von Agenten der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten. Dieses Heer operiert von den verschiedenen Botschaften, Konsulaten, Gesandtschaften,

Handelsmissionen, Banken, Nachrichtenagenturen und Firmen aus, denen eine allzu nachsichtige britische Regierung die Niederlassung an allen Ecken und Enden der Hauptstadt und (im Fall der Konsulate) der Provinzen gestattet.

Referat K birgt auch ein bescheidenes Büro, dessen Insasse die Verbindung zwischen MI5 und der Schwesterorganisation MI6 aufrechterhält. Dieser Beamte ist ein Mann aus Gruppe Sechs, der in die Charles Street abkommandiert ist. Die Sektion trägt die Bezeichnung K.7.

Referat E (hier wird die alphabetische Reihenfolge wieder aufgenommen) befaßt sich mit dem internationalen Kommunismus und dessen Anhängern, die nach Großbritannien einreisen wollen, um dem Land Schaden zuzufügen, sowie mit der einheimischen Spielart, die zum gleichen Zweck ins Ausland reisen möchte. Die zu »E« gehörige Gruppe »Fernost« hat Verbindungsstellen in Hongkong, Neu Delhi, Canberra und Wellington, während »Übrige Gebiete« die ihren in Washington, Ottawa, in Westindien und anderen Freundstaaten unterhält.

Und schließlich Referat F, zu dem John Preston - jedenfalls bis zu diesem Vormittag - gehörte und das für politische Parteien (extreme Linke), politische Parteien (extreme Rechte), Forschung und Agenten zuständig ist,

Referat F haust an der Gordon Street in der vierten Etage, und dorthin, zu seinem Büro, begab Preston sich an jenem Januarmorgen. Er wiegte sich zwar nicht in der Annahme, sein vor drei Wochen eingereichter Bericht werde ihn zu Brian Harcourt-Smiths »Herzblatt des Monats« befördern, aber er glaubte noch immer, daß der Bericht den Weg zum Schreibtisch des Generaldirektors finden würde, zu Sir Bernard Hemmings.

Hemmings, davon war Preston überzeugt, würde die darin enthaltene Information und die zugegebenermaßen zum Teil auf Vermutungen gründenden Resultate an den Vorsitzenden des Koordinierungsausschusses weiterleiten oder an den

Unterstaatssekretär im Innenministerium, dem MI5 unterstellt ist. Ein guter Unterstaatssekretär würde vermutlich der Ansicht sein, daß sein Minister einen Blick in den Bericht werfen sollte, und der Innenminister könnte die Premierministerin darauf aufmerksam machen.

Die Notiz, die Preston bei seiner Ankunft auf dem Schreibtisch fand, belehrte ihn eines anderen. Nachdem er sie gelesen hatte, lehnte er sich zurück und überlegte. Wäre der Bericht an höhere Stellen weitergeleitet worden, so hätte es eine Menge Fragen gegeben, darauf war er vorbereitet gewesen. Er hätte die Antworten gewußt und gegeben, denn er war überzeugt, daß er recht hatte. Das heißt, als Leiter von F.1. (D) hätte er sie geben können, aber nicht, nachdem er in eine andere Abteilung versetzt worden war.

Nach einer Umbesetzung würde der neue Leiter von F.1. (D) den Preston-Report aufs Tapet bringen müssen. Preston wußte nur zu gut, daß zu seinem Nachfolger fast mit Sicherheit einer von Harcourt-Smiths getreuesten Schützlingen ausersehen war, der nichts dergleichen tun würde.

Er rief in der Registratur an. Ja, der Bericht war abgelegt worden. Er ließ sich das Aktenzeichen geben, nur für den Fall künftiger Wiedervorlage.

»Was sagen Sie? KWV?« fragte er ungläubig. »Schon gut, tut mir leid, ja, ich weiß, Sie können nichts dafür, Charlie. War nur eine Frage; kommt ein bißchen überraschend, weiter nichts.«

Er legte den Hörer auf und versank wieder in Gedanken. Gedanken, die man nicht über einen Vorgesetzten hegen darf, auch wenn die gegenseitige Sympathie gleich Null ist. Aber die Gedanken ließen sich nicht verdrängen. Zugegeben, wäre der Report weitergeleitet worden, so hätte man sich höheren Orts auch Gedanken über den Fraktionsführer der Labour-Opposition Neil Kinnock gemacht, der darüber nicht gerade entzückt gewesen wäre.

Es war ferner möglich, daß die nächsten, spätestens in siebzehn Monaten fälligen Wahlen die Labour Party gewinnen würde und daß Brian Harcourt-Smith sich in der Hoffnung wiegte, die neue Regierung werde nichts Eiligeres zu tun haben, als ihn zum Generaldirektor von MI5 zu ernennen. Daß man keine amtierenden oder vielleicht bald amtierenden einflußreichen Politiker vor den Kopf stoßen wollte, war alt wie die Welt. Ein Mann von schwachem und schwankendem Charakter oder von hochfliegendem Ehrgeiz mochte, um sich nicht durch Überbringung schlechter Nachrichten unbeliebt zu machen, durchaus die ganze Geschichte unter den Teppich kehren.

Jeder in der Dienststelle erinnerte sich noch an den Fall eines früheren Generaldirektors, Sir Roger Hollis. Das Rätsel war bis auf den heutigen Tag nicht völlig gelöst, obgleich Parteigänger beider Seiten ihre festumrissenen Ansichten hatten.

Damals, in den Jahren 1962 und 1963, hatte Roger Hollis die Affäre Christine Keeler bereits so in allen Einzelheiten gekannt, wie sie später ruchbar wurde. Wochen, wenn nicht Monate vor Ausbruch des Skandals hatte er bereits Berichte über die Partys in Clivenden in Händen, über Stephen Ward, der die Mädchen beschaffte und genau Buch führte, über den sowjetischen Attache Iwanow, der sich mit Britanniens Verteidigungsminister in die Gunst desselben Mädchens teilte. Dennoch hatte Roger Hollis stillgehalten, während das Beweismaterial sich türmte, und nie, wie es seine Pflicht gewesen wäre, um eine Audienz bei seinem Premier Harold Macmillan nachgesucht.

Macmillan war arglos in das offene Messer, das heißt in den Skandal, marschiert. Während des ganzen Sommers 1963 hatte die Affäre geschwelt und geschwärt und England im In- und Ausland Schaden zugefügt, ganz als hätte Moskau das Drehbuch geschrieben.

Noch nach Jahren wurden hitzige Debatten geführt: War Roger Hollis ein schlafmütziger Versager gewesen? Oder etwas viel, viel Schlimmeres?

»Ach, Scheiße!« knurrte Preston und verscheuchte seine Gedanken. Er las die Notiz noch einmal.

Sie kam vom Leiter von B.4 (Beförderungen) persönlich und eröffnete ihm, daß er mit sofortiger Wirkung versetzt und zum Leiter von C.1. (A) befördert sei. Es war in jenem Ton jovialen Wohlwollens gehalten, der den Schlag abmildern sollte.

»Nach Ansicht des Generaldirektors würde es eine große Hilfe sein, wenn alle freigewordenen Posten mit Jahresbeginn besetzt wären... sehr verbunden, wenn Sie sämtliche noch laufenden Vorgänge baldmöglichst erledigen und dem jungen Maxwell übergeben könnten, tunlichst schon in den nächsten Tagen.. meine aufrichtigen guten Wünsche für viel Erfolg auf Ihrem neuen Posten..«

Bla, bla, bla, dachte Preston. C.1 war, wie er wußte, Personen- und Objektschutz bei den Regierungseinrichtungen, und Abteilung A hieß in London. Er würde für die Sicherheit aller Ministerien Ihrer Majestät in London verantwortlich sein.

»Verdammter Polizistenjob«, fauchte er und fing an, sich telefonisch von den Leuten seines Teams zu verabschieden.

Eine Meile entfernt öffnete Jim Rawlings die Tür eines kleinen, aber exklusiven Londoner Juweliergeschäfts in einer stillen Straße, keine zweihundert Yards vom Verkehrslärm der Bond Street entfernt. Der Laden war dunkel, aber das Licht der wenigen Lampen fiel auf Schaukästen mit georgianischem Silber, und in den erleuchteten Vitrinentheken schimmerten Juwelen aus vergangenen Zeiten. Das Haus spezialisierte sich offensichtlich mehr auf alte Stücke als auf modernen Schmuck.

Rawlings trug einen adretten dunklen Anzug sowie ein Seidenhemd mit dezenter Krawatte und hatte ein mattglänzendes Diplomatenköfferchen bei sich. Die junge Dame hinter dem Ladentisch sah auf und maß ihn mit einem wohlgefälligen Blick. Mit seinen sechsunddreißig Jahren wirkte Rawlings schlank und sportlich und verkörperte jene Mischung aus Gentleman und hartem Burschen, die immer ankommt. Sie streckte die Brust heraus und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte Mr. Zablonsky sprechen. Persönlich.«

Sein Cockneyakzent verriet, daß er kaum Kunde sein dürfte. Ihr Lächeln erlosch.

»Sind Sie Vertreter?« fragte sie.

»Sagen Sie nur, Mr. James möchte ihn sprechen«, sagte Rawlings.

In diesem Augenblick öffnete sich die Spiegeltür im Hintergrund des Ladens, und Louis Zablonsky erschien. Er war ein kleiner dürrer Mann von sechsundfünfzig Jahren, sah jedoch älter aus.

»Mr. James«, strahlte er, »wie nett, Sie zu sehen. Bitte kommen Sie in mein Büro. Wie geht's immer?« Er komplimentierte Rawlings hinter den Ladentisch und in sein Allerheiligstes. »Alles in Ordnung, meine liebe Sandra.«

Als sie das kleine vollgestopfte Büro betreten hatten, schloß und verriegelte Zablonsky die spiegelbelegte Tür, durch die man in den Laden sehen konnte. Er bot Rawlings den Sessel vor dem altmodischen Schreibtisch an und setzte sich selber auf den Drehstuhl dahinter. Ein einzelner Strahler warf sein Lichtbündel auf die Schreibunterlage. Zablonsky beäugte Rawlings scharf.

»Also, Jim, worum geht's?«

»Ich hab' was für Sie, Louis, und es wird Ihnen gefallen. Reden Sie mir bloß nicht ein, es wär' Tinnef.«

Rawlings ließ den Diplomatenkoffer aufschnappen. Zablonsky breitete die Hände aus.

»Jim, hab' ich je -?« Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er sah, was Rawlings auf die Schreibunterlage dekorierte. Als alle Stücke ausgepackt waren, starrte er sie ungläubig an.

»Die Glen-Diamanten«, flüsterte er. »Sie haben glatt die Glen-Diamanten geklaut. Und noch kein Wort darüber in der Zeitung.«

»Vielleicht sind die Leute immer noch verreist«, sagte Rawlings. »Kein Alarm losgegangen. Ich bin gut, wie Sie wissen.«

»Der Beste, Jim, der Beste. Aber die Glen-Steine. Warum haben Sie mir nichts gesagt?«

Rawlings wußte, daß es für alle Beteiligten leichter wäre, wenn man schon vor dem Diebstahl einen Absatzweg für die Glen-Diamanten ausfindig gemacht hätte. Aber er arbeitete nach seiner eigenen Methode und war äußerst vorsichtig. Er traute keinem, am wenigsten einem Hehler, auch nicht einem As unter den Nobelhehlern wie Louis Zablonsky. Wenn ein Hehler der Polizei ins Netz geht und lange Jahre im Knast gewärtigen muß, kann er sich durchaus durch einen Tip über einen geplanten Bruch loszukaufen suchen. Der Abteilung »Schwerkriminalität« drüben in Scotland Yard war Zablonsky bekannt, auch wenn er keines der Gefängnisse Ihrer Majestät je von innen gesehen hatte. Deshalb ließ Rawlings nie im vorhinein ein Wort von seinen Raubzügen verlauten und erschien auch stets unangemeldet. Er blieb also die Antwort schuldig.

Zablonsky war ohnehin völlig in die Betrachtung der Juwelen versunken, die auf seiner Schreibunterlage funkelten. Auch er wußte, woher sie stammten, ohne daß es ihm hätte gesagt werden müssen.

Der neunte Herzog von Sheffield, der 1936 den Schmuck geerbt hatte, besaß zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, Lady Fiona Glen. Als er 1980 starb, gingen die Juwelen nicht an seinen Sohn, den Erben des Titels, sondern an die Tochter.

Der Herzog hatte, als sein Sohn 1974 das fünfundzwanzigste Jahr erreichte, zu seinem Kummer einsehen müssen, daß der exzentrische junge Mann das war, was in den Klatschspalten gern als »geborener Junggeselle« bezeichnet wird. Es würde keine hübschen Komtessen von Margate oder Herzoginnen von Sheffield mehr geben, die die berühmten Glen-Diamanten tragen könnten. Daher hatte er den Schmuck der Tochter vermacht.

Zablonsky wußte, daß Lady Fiona seit dem Tod des Herzogs die Juwelen von Zeit zu Zeit, mit widerwilliger Zustimmung der Versicherungsgesellschaft, zu tragen pflegte, gewöhnlich bei Wohltätigkeitsgalas, die sie recht häufig besuchte. Die übrige Zeit verbrachten sie dort, wo sie so viele Jahre verbracht hatten: in den Tresorräumen von Coutts an der Park Lane. Er lächelte.

»Die Wohltätigkeitsgala in Grosvenor House kurz vor Neujahr?« fragte er. Rawlings zuckte die Achseln. »Oh, Sie sind ein arger Schlingel, Jim. Aber so begabt.«

Zablonsky sprach fließend Polnisch, Jiddisch und Hebräisch, aber das Englische beherrschte er auch nach vierzig Jahren in London noch immer nicht völlig und sprach es mit deutlich polnischem Akzent. Auch benutzte er veraltete Ausdrücke, die er längst überholten Lehrbüchern entnommen hatte und die leicht als tuntenhaft mißverstanden werden konnten. Rawlings wußte, daß Louis Zablonsky keine »Tunte« war.

Zablonsky bewunderte noch immer die Diamanten, wie ein wahrer Kenner jedes Kunstwerk bewundert. Er erinnerte sich vage, irgendwo gelesen zu haben, daß Lady Fiona Glen Mitte der sechziger Jahre einen vielversprechenden jungen Staatsbeamten geheiratet hatte, der Mitte der Achtziger ein hohes Tier in einem Ministerium wurde, und daß das Paar irgendwo im West End dank Lady Fionas Privatvermögen auf großem Fuß lebte.

»Nun, was meinen Sie, Louis?«

»Ich bin beeindruckt, mein lieber Jim. Sehr beeindruckt. Aber auch ratlos. Das hier sind keine gewöhnlichen Steine. Jeder in der Diamantenbranche würde sie auf den ersten Blick erkennen.

Was soll ich mit ihnen anfangen?«

»Das frage ich Sie«, sagte Rawlings.

Louis Zablonsky breitete die Hände weit aus.

»Ich will Sie nicht belügen, Jim. Ich spreche frei heraus. Die Glen-Diamanten haben vermutlich einen Versicherungswert von siebenhundertfünfzigtausend Pfund, und etwa soviel brächten sie auch ein, wenn sie legitim durch Cartier verkauft würden. Aber das geht selbstverständlich nicht. Bleiben zwei Möglichkeiten. Zum einen, daß sich ein reicher Käufer findet, der die Glen-Diamanten haben will, obwohl er weiß, daß er sie nie zeigen kann oder zugeben, daß er sie besitzt - ein reicher Filz, der sich im stillen Kämmerchen an seinem Schatz berauscht. Solche Leute gibt es - aber sie sind rar. Sie würden vielleicht die Hälfte des Preises zahlen, den ich genannt habe.«

»Wann könnten Sie einen solchen Käufer finden?«

Zablonsky zuckte die Achseln.

»Dieses Jahr, nächstes Jahr, irgendwann, nie. Wir können ja keine Annonce in die Zeitung setzen.«

»Zu lang«, sagte Rawlings. »Die andere Möglichkeit?«

»Die Steine aus der Fassung brechen - das allein würde den Wert auf sechshunderttausend Pfund drücken; umschleifen und als vier Einzelstücke verkaufen. Dreihunderttausend Pfund könnte man kriegen. Aber der Schleifer will auch seinen Schnitt machen. Wenn ich selber diese Kosten übernehme, kann ich Ihnen noch um die hunderttausend Pfund geben - aber erst nach Feierabend. Erst wenn die Verkäufe getätigt sind.«

»Und was können Sie mir als Vorschuß geben? Ich kann nicht von der Luft leben, Louis.«

»Wer kann das schon?« sagte der alte Hehler. »Also: Für die Weißgoldfassung kriege ich auf dem Markt für Abfallgold vielleicht zweitausend Pfund. Wenn ich die vierzig kleinen Steine durch den regulären Markt schleuse, bringen sie, sagen wir, Zwölftausend. Macht zusammen vierzehntausend, die ich in Kürze beisammen hätte. Ich kann Ihnen die Hälfte als Vorschuß geben, in bar und sofort. Was meinen Sie?«

Sie redeten noch eine halbe Stunde und schlossen den Handel ab. Louis Zablonsky entnahm seinem Safe siebentausend Pfund.

Rawlings öffnete den Diplomatenkoffer und verstaute die Bündel gebrauchter Banknoten dann.

»Hübsch«, sagte Louis Zablonsky. »Zur Feier des Tages gekauft?«

Rawlings schüttelte den Kopf.

»War bei der Sore«, sagte er. Zablonsky machte »ts, ts, ts« und drohte Rawlings mit dem Finger.

»Weg damit, Jim. Nie was von einem Bruch zurückbehalten. Lohnt das Risiko nicht.«

Rawlings überlegte, nickte, verabschiedete sich und ging.

John Preston hatte sich zunächst von den Leuten seines Ermittlungsteams verabschiedet. Er freute sich, daß sie ihn ungern gehen sahen. Dann kam die Schreibtischarbeit. Bobby Maxwell war auf einen Sprung bei ihm gewesen.

Preston kannte ihn flüchtig. Maxwell war ein recht netter junger Mann, der es in »Fünf« zu etwas bringen wollte und seine beste Chance darin sah, daß er dem aufgehenden Stern Brian Harcourt-Smiths folgte. Preston konnte es ihm nicht verübeln.

Er selber war erst 1981 mit einundvierzig Jahren direkt vom Army Intelligence Corps übernommen worden. Er wußte, daß er es nie bis an die Spitze bringen konnte. Abteilungsleiter war ungefähr das Höchste für einen Späteinsteiger.

Der Posten des Generaldirektors ging zum Leidwesen der Belegschaft von »Fünf« gelegentlich an einen Außenseiter, wenn sich unter den Insidern kein eindeutig passender Kandidat fand. Der stellvertretende Generaldirektor jedoch, sämtliche

Leiter der sechs Referate und der meisten Abteilungen innerhalb der Referate waren traditionsgemäß langjährige Mitarbeiter.

Mit Maxwell hatte Preston vereinbart, daß er am Montag den Papierkram erledigen und den ganzen Dienstag darauf verwenden wolle, seinen Nachfolger über alle laufenden Vorgänge und Überwachungen zu unterrichten. Damit hatten sie sich mit gegenseitigen guten Wünschen bis zum nächsten Morgen getrennt.

Preston blickte auf die Uhr. Es würde eine lange Nacht werden. Er mußte sämtliche vorliegenden Akten aus seinem Bürosafe nehmen, aussortieren, was zur Ablage in die Registratur gehen konnte, und dann die halbe Nacht hindurch jeden noch nicht abgeschlossenen »Wisch« genau durchackern, um Maxwell am nächsten Morgen ins Bild setzen zu können.

Aber zuerst brauchte er einen ordentlichen Drink. Er fuhr mit dem Lift ins Souterrain, wo »Gordon« eine gutbestückte und gemütliche Bar eingerichtet hatte.

Louis Zablonsky arbeitete den ganzen Dienstag hinter der verschlossenen Tür seines Büros. Nur zweimal mußte er aus seinem Bau kommen, um einen Kunden persönlich zu bedienen. Im Geschäft herrschte an diesem Tag Flaute, wofür Zablonsky ausnahmsweise dankbar war.

Nachdem er das Jackett abgelegt und die Hemdärmel über die fast haarlosen Arme hochgerollt hatte, löste er die Glen- Diamanten behutsam aus ihren Weißgoldfassungen. Sowohl die beiden Zehnkaräter der Ohrgehänge als auch die Zwillinge in Diadem und Anhänger ließen sich mühelos und in kurzer Zeit lösen.

Als sie ausgefaßt waren, konnte er sie genauer prüfen. Sie waren wirklich prachtvoll, sie funkelten und sprühten im Licht. Er hatte bereits gewußt, daß sie bläulichweiß waren, vom Ersten Wasser, wie man früher sagte. Heute bezeichnete man sie nach der neuen GIA-Skala als »D-lupenrein«. Die vier Hauptstücke verwahrte er, nachdem er sie hinlänglich bewundert hatte, in einem Samtsäckchen. Daraufhin begann er mit der zeitraubenden Arbeit, die vierzig kleineren Steine aus dem Gold zu lösen. Während er hantierte, fiel das Licht von Zeit zu Zeit auf ein verblaßtes Mal, eine fünfstellige Zahl, an der Innenseite seines linken Unterarms. Für jeden, der die Herkunft solcher Male kannte, konnte die Nummer nur eines bedeuten. Es war die Tätowierung von Auschwitz.

Zablonsky wurde 1930 als dritter Sohn eines polnischjüdischen Juweliers in Warschau geboren. Beim Einmarsch der Deutschen war er neun Jahre alt gewesen, und ein Jahr später, 1940, wurde das Warschauer Getto eingeschlossen; fast vierhunderttausend Juden waren darin gefangen und durch minimale Lebensmittelzuteilung dem Hungertod preisgegeben.

Am 19. April 1943 unternahmen die neunzigtausend Überlebenden des Gettos, angeführt von den wenigen noch wehrhaften Männern, einen verzweifelten Aufstandsversuch.

Louis Zablonsky war gerade dreizehn geworden, aber so ausgemergelt und entkräftet, daß man ihn für einen Achtjährigen hätte halten können.

Als das Getto am 16. Mai 1943 von Einheiten der Waffen-SS unter General Jürgen Stroop erobert worden war, gehörte der Junge zu den wenigen, die den Massenerschießungen entgingen. Die meisten Bewohner, etwa sechzigtausend, waren bereits tot, im Granatbeschuß oder in den Straßenkämpfen gefallen, von einstürzenden Mauern erschlagen oder hingerichtet. Die verbliebenen dreißigtausend waren fast ausschließlich Greise, Frauen und kleine Kinder. Sie wurden zusammengetrieben, unter ihnen war Zablonsky. Die meisten kamen nach Treblinka und starben.

Eine jener Launen des Schicksals, die manchmal über Leben und Tod entscheiden, fügte es, daß der Zug, in dem Zablonsky transportiert wurde, eine Panne hatte. Der Viehwagen wurde an eine andere Lokomotive angehängt und landete in Auschwitz.

Louis Zablonsky war eigentlich für die Gaskammer bestimmt, doch als er seinen Beruf als »Juwelier« angab, wurde er zurückgestellt und mußte die Wertgegenstände, die noch immer bei den neu eingelieferten Juden gefunden wurden, sortieren und registrieren. Dann wurde er eines Tages in das Krankenrevier zitiert und dem lächelnden blonden Mann übergeben, den sie »den Engel« nannten und der seine perversen Experimente an heranwachsenden jungen Juden vornahm. Auf Joseph Mengeles Operationstisch wurde Louis Zablonsky ohne Betäubung kastriert.

Er fischte den letzten der vierzig kleineren Steine aus der Goldfassung und überzeugte sich, daß er keinen übersehen hatte. Er zählte die Steine und fing an, sie zu wiegen. Vierzig insgesamt; im Durchschnitt ein halbes Karat, meist jedoch kleiner. Nur geeignet für Verlobungsringe, aber alles in allem ungefähr zwölftausend Pfund. Er konnte sie über die Hatton Garden Street unauffällig absetzen. Bargeschäfte; er kannte seine Händler. Dann begann er, die Weißgoldfassungen zusammenzuquetschen.

Ende 1944 wurden die Überlebenden von Auschwitz in Gewaltmärschen westwärts getrieben, und Zablonsky landete in Bergen-Belsen, wo er schließlich, mehr tot als lebendig, von der britischen Army befreit wurde.

Nach langem Krankenhausaufenthalt wurde Zablonsky nach England gebracht und in die Obhut eines Nordlondoner Rabbi gegeben. Nach einer weiteren Genesungskur kam er zu einem Juwelier in die Lehre. In den frühen sechziger Jahren verließ er seinen Meister und eröffnete ein eigenes Juweliergeschäft im East End. Zehn Jahre später gründete er die jetzige, weit einträglichere Firma im West End.

Noch im East End, in der Hafengegend, hatte er angefangen, sich mit Edelsteinen zu befassen, die von Matrosen ins Land gebracht wurden - Smaragde aus Ceylon, Diamanten aus Afrika, Rubine aus Indien und Opale aus Australien. Mitte der achtziger Jahre hatten ihn seine beiden Geschäftszweige, der legale und der illegale, zum reichen Mann gemacht; er war einer der Spitzenhehler Londons, Experte für Diamanten, besaß eine ansehnliche Villa mit Garten in Golders Green und galt als Säule der dortigen Gemeinde.

Als die Weißgoldfassungen nur noch eine formlose Masse waren, warf er den Klumpen zu anderen Goldabfällen in sein Säckchen für Bruchgold. Er wartete, bis Sandra gegangen war, verschloß die Ladentür, räumte sein Büro auf, steckte die vier großen Steine ein und verließ das Gebäude. Auf dem Heimweg rief er von einer Telefonzelle aus eine Nummer in einem Ort nahe Antwerpen an, genau gesagt, in dem Dorf Nijlen. Von seiner Wohnung aus buchte er telefonisch bei British Airways einen Flug nach Brüssel für den nächsten Tag.

Entlang der Themse, am südlichen Flußufer, wo einst die verfallenden Ladekais eines sterbenden Hafens lagen, war von Anfang bis Mitte der achtziger Jahre ein gewaltiges Sanierungsprogramm im Gange gewesen. Es hatte zwischen den Neubauten riesige Schutthalden hinterlassen, Mondlandschaften, wo üppiger Grasbewuchs sich mit Bruchziegeln und Staub mischte. Es hieß, eines Tages würden sich hier neue Wohnblocks, Ladenstraßen und vielgeschossige Parkhäuser ausbreiten, aber wann das sein würde, wußte kein Mensch.

Bei warmem Wetter kampierten die Wermutbrüder in diesem Niemandsland, und wenn ein Südlondoner Ganove ein heißes Beweisstück verschwinden lassen wollte, so mußte er es nur zu einem dieser Trümmergrundstücke bringen und zu Asche verbrennen.

Am späten Abend dieses Donnerstags, des 6. Januar, marschierte Jim Rawlings über ein Areal von mehreren Hektar, stolperte im Dunkeln, wenn ihm unsichtbare Brocken Mauerwerk im Weg lagen. Hätte jemand ihn beobachtet, was nicht der Fall war, so hätte er gesehen, daß er in der einen Hand einen Zehn-Liter-Kanister trug (der mit Benzin gefüllt war) und in der anderen ein elegantes handgearbeitetes Diplomatenköfferchen aus Kalbsleder.

Louis Zablonsky passierte am Mittwochvormittag den Flughafen Heathrow ohne Schwierigkeiten. Mit seinem schweren Überzieher und dem weichen Tweedhut, eine Reisetasche in der Hand und eine gewaltige Bruyere-Pfeife zwischen den Zähnen, bewegte er sich in dem Strom der Geschäftsleute, die täglich von London nach Brüssel reisen.

In der Maschine beugte sich eine der Stewardessen zu ihm und flüsterte: »Tut mir leid, Sir, Sie dürfen an Bord nicht rauchen.« Zablonsky entschuldigte sich überschwenglich und steckte die Pfeife in die Tasche. Ohne Bedauern. Er war Nichtraucher, und selbst wenn er die Pfeife angezündet hätte, hätte sie nicht besonders gut gezogen. Nicht, solange vier birnenförmige achtundfünfzigfacettige Diamanten unter dem festgedrückten Tabak im Pfeifenkopf steckten.

In Brüssel-National mietete er einen Wagen und fuhr auf der Autobahn nordwärts über Zaventem Richtung Mecheln, wo er nach rechts abbog und Lier und Nijlen im Nordosten ansteuerte.

Hauptsitz der Diamantenindustrie Belgiens ist Antwerpen, und dort wiederum ist es vor allem die Pelikaanstraat und Umgebung, wo die großen Firmen ihre Ausstellungsräume und Ateliers haben. Aber wie die meisten Industrien ist auch das Diamantengeschäft auf ein Heer kleiner Zulieferer angewiesen, auf freie Mitarbeiter und selbständige Ein-Mann-Betriebe, die auf Vertragsbasis Fassungen liefern und das Reinigen und Umschleifen besorgen.

Einige dieser Heimarbeiter leben auch in Antwerpen, zumeist Juden osteuropäischer Herkunft. Doch östlich von Antwerpen liegt die Gemeinde Kempen, eine Ansammlung schmucker

Dörfer, in denen gleichfalls Dutzende dieser kleinen Werkstätten für die Antwerpener Industrie tätig sind. Im Zentrum von Kempen liegt Nijlen, zu beiden Seiten der Hauptstraße und der Bahnlinie Lier - Herenthals.

Dort, in der Mittleren Molenstraat, lebte ein gewisser Raoul Levy, ein polnischer Jude, der sich nach dem Krieg in Belgien angesiedelt hatte und zufällig ein Vetter zweiten Grades von Louis Zablonsky aus London war. Der verwitwete Levy war Diamantenschleifer und wohnte an der Westseite der Molenstraat in einem kleinen schmucken Backsteinhäuschen, an dessen Rückseite seine Werkstatt lag. Dorthin fuhr Zablonsky. Kurz nach dem Mittagessen traf er bei seinem Verwandten ein.

Eine Stunde lang verhandelten sie, dann waren sie einig: Levy würde die Steine umschleifen und darauf achten, daß zwar so wenig wie möglich an Gewicht verlorenging, die Steine aber doch nicht mehr identifizierbar waren. Als Entgelt einigten sie sich auf fünfzigtausend Pfund, eine Hälfte als Anzahlung, die andere nach Verkauf des vierten Steins. Zablonsky verabschiedete sich und kehrte nach London zurück.

Der Haken bei Raoul Levy war nicht etwa, daß er ungeschickt gewesen wäre; aber er war einsam. Die ganze Woche über freute er sich schon auf seine einzige Abwechslung, die Bahnfahrt nach Antwerpen, wo er am Abend das Stamm Café seiner Freunde aus der Branche aufsuchte, und mit ihnen fachsimpelte. Drei Tage nach Zablonskys Besuch ging Levy wieder in das Café und fachsimpelte einmal zu oft.

Während Louis Zablonsky in Belgien war, richtete John Preston sich in seinem neuen Büro in der zweiten Etage ein. Er war froh, daß er nicht aus »Gordon« in ein anderes Gebäude übersiedeln mußte.

Sein Vorgänger war zum Jahresende ausgeschieden, und der stellvertretende Leiter von C.1. (A), der nur ein paar Tage im Amt gewesen war, hatte zweifellos gehofft, selbst nachzurücken. Doch er trug die Enttäuschung mit guter Haltung und wies Preston in alle Obliegenheiten ein, die hauptsächlich in nervtötender Routine zu bestehen schienen.

Als Preston am Nachmittag allein war, überflog er die Liste der Regierungsgebäude, die zu seiner Sektion A gehörten. Sie war länger, als er vermutet hatte, aber die meisten Bauten waren nicht sicherheitsempfindlich, es sei denn wegen undichter Stellen, die politisch peinliche Folgen haben könnten. Eine Veröffentlichung von Geheimdokumenten, etwa über geplante Abstriche an den Sozialleistungen, lag immer im Bereich des Möglichen, da die Beamtengewerkschaften viele Mitglieder mit extrem linken politischen Ansichten geworben hatten, aber diese Sorge konnte man im allgemeinen den hauseigenen Sicherheitskräften des Ministeriums überlassen.

Prestons große Brocken waren das Auswärtige Amt, das Cabinet Office und das Verteidigungsministerium, die sämtlich Material astronomischer Geheimhaltungsstufen bergen. Aber sie verfügen auch alle über recht zuverlässige Sicherheitseinrichtungen, für die hauseigene Teams zuständig sind. Preston seufzte. Er griff zum Telefon und traf eine Reihe von Verabredungen mit den Sicherheitschefs aller wichtigen Ministerien, damit man sich kennenlernte.

Zwischendurch warf er immer wieder einen Blick auf den Stapel von Unterlagen, den er aus seinem zwei Stockwerke höher gelegenen alten Büro mit heruntergenommen hatte. Während er auf den Rückruf eines der Sicherheitschefs wartete, der gerade nicht erreichbar gewesen war, stand er auf, öffnete seinen neuen Bürosafe und legte die Akten Stück für Stück hinein. Die letzte enthielt seinen Bericht vom Vormonat, seine persönliche Kopie. Abgesehen von dem Exemplar, das, wie er wußte, im Archiv zur letzten Ruhe gebettet war, existierte keine weitere Kopie. Er zuckte die Achseln und legte den Bericht ganz hinten in den Safe. Vermutlich würde ihn niemand mehr sehen wollen, aber er wollte ihn verwahren, als Erinnerung an alte Zeiten. Schließlich hatte er höllisch lang über der Fertigstellung geschwitzt.