KAPITEL 20
»Ihr Antrag auf gesetzlich-freiheitliche Informierung ist bearbeitet und genehmigt worden. Bitte folgen Sie den unten aufgelisteten Anweisungen, damit Sie die gewünschten Dokumente erhalten. Stellen Sie sicher, daß Ihr Identitätschip bereit ist.«
Janie starrte auf ihre Hand nieder. Dann lachte sie über sich selbst.
Du kannst den Chip nicht sehen, du Idiotin.
Weshalb schaute sie sich überhaupt um, als man sie anwies, ihn bereitzuhalten? Ziemlich bekümmert machte sie sich klar, daß sie im Begriff war, zu dem Roboter zu werden, den sie haben wollten.
Aber im Moment war dieses Verhalten erforderlich, um das zu bekommen, was sie haben wollte – daran führte kein Weg vorbei, wie traurig oder widerwärtig ihr das auch erscheinen mochte. Sie wurde an eine Adresse im GovNet verwiesen, und als sie dort ihre Identität angab, erwarteten sie die Personalakten der Stadt Burning Road und des Bezirks, in dem sie lag – und zwar aus dem Zeitraum zwei Jahre vor den Ausbrüchen bis zwei Jahre danach. Und dann kam das unerwartete Wunder – als sie die aktuellen Wählerverzeichnisse durchging, stellte sie fest, daß die Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes, die in der fraglichen Zeit das Büro leitete, durchaus noch lebte.
Sie waren in Scharen gestorben, genau wie die Ärzte, Mütter und Priester in Alejandros Pesttagebuch aus dem vierzehnten Jahrhundert. MR SAM in offizieller medizinischer Funktion überlebt zu haben war in etwa so, als hätte man mit einem Trupp Soldaten eine Sondermission durchgeführt und sei ungefähr als einziger zurückgekehrt. Es erweckte immer Zweifel, gefolgt von unausgesprochenen Anschuldigungen. Die betreffende Frau wohnte nicht mehr in der Nähe des Camps – überrascht mich nicht, dachte Janie, vermutlich hat man sie von dort verjagt –, aber sie war an einen Ort gezogen, der kaum eine Autostunde von Janies eigenem Zuhause entfernt lag.
Wenn sie selbst hinfuhr, würde sie vermutlich mehr erfahren als durch einen Anruf oder einen Brief. Sie überlegte, wieviel Benzin ihr noch blieb; höchstwahrscheinlich würde es nicht bis zum Jahresende reichen.
Dann werde ich eben zu Fuß gehen oder den Bus nehmen, wenn ich irgendwohin muß. Sie schickte der Frau eine Nachricht, in der sie anfragte, ob sie am folgenden Tag vorbeikommen könne.
Ich muß meinen Job kündigen, teilte sie Kristina per E-mail mit. Es fällt allmählich auf, daß ich dauernd freinehme.
»Das können Sie nicht«, sagte Kristina später zu ihr. »Sie würden damit die Autorität einer Angehörigen der Stiftung verlieren.«
Janie lachte fast. »Welche Autorität? Ich bin bloß Forschungsangestellte.«
»Bei der AMA hat es funktioniert, oder?«
Sie hat recht, dachte Janie. Es hat funktioniert.
»Was ist, wenn Sie wieder in eine Situation kommen, in der Sie diese Stellung brauchen? Und außerdem, Ihre Akte über die Zeit, die Sie dort gearbeitet haben, ist makellos; also wird Ihnen niemand Schwierigkeiten machen. Sie haben so ziemlich die geringste Fehlzeit von allen, die in Ihrer Abteilung arbeiten. Und außerdem, was kann Ihnen schon passieren? Sie hassen diesen Job doch.«
Natürlich wußte Kristina all das.
»Ja, ich hasse ihn. Aber ich will ihn trotzdem gut machen. Und bei all den Ablenkungen wird das immer schwerer.«
Die Ablenkungen häuften sich schnell und wurden in der Tat auffällig.
»Wie ich dem Dienstplan entnehme, gehen Sie in Urlaub«, hatte Chet am Vortag bemerkt, als sie einen ihrer kurzen Abstecher ins Büro gemacht hatte. Das war das zweite Mal, daß er in den letzten Tagen ihre immer häufigere Abwesenheit kommentierte. »Ich weiß, Sie haben viel außerhalb des Instituts zu tun, aber wir würden Sie doch ganz gern ab und zu mal sehen.«
Vorsicht war angesagt, weil die Dinge wieder aus dem Ruder zu laufen begannen. Sie erinnerte sich von London her daran, wie einen das beeinträchtigte, und fürchtete sich davor. Vielleicht würde dieser Trip nach Island ihr schließlich doch guttun – er würde sie zwingen, langsamer vorzugehen, ihre Lage neu zu orten, sich zu sammeln. »Ich bin mit meinen Projekten voll im Zeitplan«, setzte sie Chet ins Bild. »Selbstverständlich werde ich alles in bester Ordnung hinterlassen. Und außerdem bin ich sowieso nur ein paar Tage weg.«
»Auf dem Plan ist von einer Woche die Rede.«
»Das hatte ich ursprünglich auch vor, aber ich glaube nicht, daß ich die ganze Woche nehmen werde.«
Ach ja? sagte sein fragender Blick.
Sie zuckte mit den Schultern. »Es erscheint mir im Moment einfach nicht angebracht.«
Die Stadt in Berkshire lag hoch in den Hügeln, und beunruhigt beobachtete Janie die Benzinuhr, als der Volvo sich im zweiten Gang langsam bergauf quälte. Sie tröstete sich damit, daß sie die Rückfahrt weitgehend mit Hilfe der Schwerkraft bewältigen konnte.
Hier braucht man eine halbe Stunde bis zum nächsten Milchladen, dachte sie. Was machen die Leute bloß, wenn sie irgend etwas nötig haben?
Die Leute ritten auf Pferden. Auf den engen, gewundenen Straßen begegneten ihr Dutzende von Reitern. Die meisten hatten Pakete hinter sich auf dem Sattel, einige Pferde zogen sogar kleine Karren. Träumerisch stellte sich Janie geschnitzte Schilder an Sattlereien, Hufschmieden und mit Stroh bestreute Ladeneingänge in irgendeiner altmodischen Hauptstraße vor. In den Städten waren sie gesetzlich verboten; aber hier in den Bergen, wo Fahrräder aus naheliegenden Gründen nicht in Frage kamen, spielten Pferde im alltäglichen Leben wieder eine Rolle. Dünger war hier sicher keine knappe Ware mehr.
Sie sah auf der Straße nur ein oder zwei andere Autos, einen alten Pickup, der knirschend mit dem, was vom zweiten Gang noch übrig war, bergab holperte, und einen Wagen, der langsam hinter ihr fuhr. Es handelte sich um eines dieser rundum schwarzen Darth-Vader-Monstern mit Allradantrieb, in denen Janie sich immer Mafiosi oder sonstige Gangster vorstellte. Wie stets bei getönten Scheiben fragte sie sich, wer in dem Fahrzeug so wichtig sein mochte, daß er absolut nicht gesehen werden durfte und die Beschaffung von Benzin für ihn kein Problem war.
Vielleicht folgen sie mir, zog sie sich selbst auf. Sie mußte lächeln. Okay, dann fangt mich, wenn ihr könnt.
Sie fuhr langsamer, der Wagen hinter ihr drosselte seine Geschwindigkeit. Als sie schneller fuhr, beschleunigte der Darth Vader ebenfalls. Allmählich wurde sie ein bißchen nervös. Sie hörte auf, das Tempo zu wechseln, und fuhr stetig dahin. Das schwarze Fahrzeug hinter ihr tat exakt dasselbe.
Einen Augenblick lang überlegte sie, am Straßenrand anzuhalten, aber zwei Dinge hinderten sie daran: Die Straße war eng, unnötiges Halten gefährlich, und den Straßenschildern zufolge war sie ihrem Ziel recht nahe. Also kutschierte sie weiter, und als sie die richtige Einfahrt erreichte, überholte das schwarze Auto sie schnell, während sie abbog.
Nachdem sie die Straße verlassen hatte, blieb Janie einen Moment im Wagen sitzen und dachte über das nach, was sich gerade angedeutet hatte. Bekümmert stellte sie fest, daß sie zitterte; was als kleiner privater Scherz begonnen hatte, war allzu real geworden. Sie stieg aus und sah sich ein paar Minuten um, um ruhiger zu werden. Die Gegend war schön und abgelegen, und nach dem rustikalen Aussehen des Hauses hatte sie das Gefühl, ihr elektronischer Kumpan werde seiner menschlichen Bewohnerin nicht willkommen sein. Sie verstaute V. M. also sicher im verschlossenen Kofferraum des Volvo.
Als sie schließlich eintrat, begrüßt von einer anmutigen, lächelnden Linda Horn, fand sie sich in einem lichtdurchfluteten Raum mit perfektem Klima wieder, feuchter Luft, dem Geruch von Torf und Hunderten von Schmetterlingen, deren bunte Flügel überall lautlos flatterten. Sie saßen auf den Lampen und Büchern und Nippes; aber die meisten gab es auf der erstaunlichen Sammlung von Pflanzen. Es war, als sei in den niedrigen Bergen von Westmassachusetts wie durch Zauberei ein tropisches Wunderland entstanden. In einer Ecke des großen Raumes sah sie einen glänzenden Computer, dessen Bildschirm leuchtete.
»Meine Güte«, sagte Janie, während sie sich ehrfürchtig umsah.
»Das ist einfach … wunderbar. Aber wie …?«
»Mein Mann ist Ingenieur für Energietechnik«, antwortete Mrs. Horn. »Das hat er alles für mich eingerichtet.«
»Arbeitet er auch für andere Leute?«
Linda Horn lächelte. »Er ist jetzt im Ruhestand. Tut mir leid.«
»Also, wenn er jemals beschließt, seinen Ruhestand zu unterbrechen, werde ich seine erste Kundin sein.«
Die Frau lachte leise und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Es gibt einfach mal einen Punkt, wissen Sie.«
Ein kleiner, hellblauer Schmetterling landete auf Janies Schulter.
»Ja, das kann ich verstehen. Eine wundervolle Zuflucht haben Sie sich da geschaffen.«
»Es hat auch viel Arbeit gekostet. Wir gehören so einer Art Bewegung an. Von Leuten, die so leben möchten.«
Bewegung. Das war ein Wort aus einer früheren Generation, und es hatte eine gewichtige Nebenbedeutung. »Die Mitglieder müssen aber sehr verschwiegen sein.«
»O ja, das sind wir auch – aber es gibt eine Menge Familien, die sich so einrichten, und wir halten alle Kontakt.« Sie nickte in Richtung des Computers und lächelte. »Hier in der Gegend wohnen etliche Leute, die ziemlich engagiert sind«, erläuterte Mrs. Horn.
Janie sah sich wie hypnotisiert von dem, was sich ihren Blicken darbot, um. »Es muß eine ziemliche Herausforderung gewesen sein, all das in Gang zu bringen. Es ist so – perfekt.«
»Das größte Problem war der Grunderwerb. Sie brauchen mindestens hundert Morgen, um die Genehmigung für eine Anlage wie die unsere zu bekommen. Während unserer Ehe haben wir immer wieder ein paar Morgen dazugekauft, sonst wäre es uns nicht gelungen. Die Sonnenkollektoren nehmen nicht soviel Platz ein, aber die Windmühlen brauchen eine bestimmte Lage.«
Janie, die noch immer herumschaute, sagte: »Ich beglückwünsche Sie dazu. Es ist wirklich erstaunlich. So eine Lebensweise hat mich immer angezogen. Aber ich habe es nie geschafft, sie auch nur annähernd zu erreichen. Ich hatte einfach – zuviel zu tun.«
»Es ist nie zu spät«, tröstete Linda Horn.
»Oh, ich glaube nicht, daß ich je so etwas erleben werde, jedenfalls nicht in der näheren Zukunft. Aber der Grund, warum ich Sie sehen wollte, ist …«
Sie erklärte langsam und sorgfältig.
Lindas Stirn kräuselte sich, und kleine Falten erschienen darauf.
»Ich habe mich schon gefragt, wann wohl jemand anfangen würde, sich für die ganze Sache zu interessieren.«
Janie knabberte lautlos an einem Zitronenkeks, während Linda Horn alle Details des Vorfalls in Camp Meir schilderte.
»Labortests zeigten, daß einige der Sommergäste giardia lambda im Blut hatten. Und die Wasserproben aus dem Teich ergaben, daß das Wasser verseucht war. Aber wir selbst haben nie etwas gefunden. Auch die Blutuntersuchungen wurden woanders gemacht.«
Janie fragte sich, warum – man konnte das als Nachlässigkeit auslegen. »Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
»Ich habe für die Stadt gearbeitet, aber in so einer Situation hat der Bezirk das Sagen. Man wies mich an, die vorliegenden Tests als gültig zu akzeptieren. Sie wollten nicht, daß ich Geld ausgebe, um sie zu wiederholen. Ein paar von den Jungen hatten die richtigen Symptome …«
»Sie haben nicht zufällig die Unterlagen von damals aufgehoben?«
»Nein. Als die ganze Sache anfing, hatte ich keine Ahnung, daß sich das zu einer so zwielichtigen Angelegenheit auswachsen würde. Aber ich erinnere mich auch so recht deutlich. Hauptsächlich, weil die Krankenschwester des Camps sich weigerte, irgendwelche Hilfe unseres Amtes anzunehmen, als wir sie ihr anboten – und sonst war ihr unsere Hilfe immer willkommen. Ich meine – ein Lager voller halbwüchsiger Jungen? Hören Sie, es wäre ein Chaos gewesen, wenn sie alle gleichzeitig krank geworden wären. Also ist mir diese Reaktion als ungewöhnlich im Gedächtnis geblieben. Und es ist uns nie gelungen, die Ergebnisse zu reproduzieren, zu denen das Camp bei seinen Wasseruntersuchungen gelangt war. Sie erinnern sich vielleicht, daß damals alle Antibiotika knapp waren – wir durften keine prophylaktische Verwendung genehmigen –, und deshalb wollten wir solide Beweise.«
»Aber Ihr Amt hat in dem dortigen Wasser nie etwas gefunden.«
»Nein. Na ja, Moment – das stimmt nicht ganz. Wir fanden eine Stelle mit einer leicht erhöhten Konzentration von Giardia. Aber das stellte nicht wirklich eine gesundheitliche Gefahr dar, außerdem hatte das Wasser aus dieser Quelle überhaupt nichts mit der Wasserversorgung des Camps zu tun. Und sie benutzten den Teich angeblich auch nicht zum Schwimmen oder Bootfahren. Wir haben getestet und getestet, an vielen verschiedenen Stellen in der ganzen Gegend, aber nie mehr als diese kleine Spur gefunden.«
»Interessant.«
»Sehr. Aber trotzdem: Eines Tages erschien jemand von der Versicherung des Camps mit einer Handvoll offiziell aussehender Papiere in meinem Büro und erklärte, sie würden uns vor Gericht bringen, wenn wir sie daran hinderten, den Campern gegenüber ihre in loco parentis-Pflichten zu erfüllen. Sie hatten die meisten Eltern davon überzeugt, daß die Gefahr real sei.«
»Sie indessen glauben, daß sie es nicht war.«
»Was ich glaube, spielt keine Rolle. Ich kann nur von dem ausgehen, was die Wasseruntersuchungen ergaben, und die waren alle bis auf eine negativ.«
»Trotzdem erteilten Sie ihnen die Genehmigung, Antibiotika zu verteilen, also müssen Sie …«
»Gegen diese Leute bin ich nicht angekommen. Dr. Crowe. Sie waren ziemlich energisch. Der Bezirk und die Stadt kämpften bereits mit steuerlichen Problemen – wir hatten viel zuwenig Personal, und manchmal bekam ich mein Gehalt recht verspätet. Es schien keine große Gefahr zu sein, diesen Campern ein harmloses Medikament zu verabreichen, wenn die Stadt dadurch vor einer Klage bewahrt wurde.«
Nachdenklich trank Janie von ihrem Tee.
»So«, Linda schlug einen anderen Ton an, »wieso interessieren Sie sich eigentlich dafür? Ist das für Ihre Stiftung irgendwie von Belang?«
Janie stellte ihre Teetasse ab, bevor sie antwortete. »Eine Menge Jungen, deren einziger gleicher Nenner das Camp ist, erkrankten alle gleichzeitig an einer ähnlichen, seltenen Krankheit.«
»Und welche ist das?«
»Im Augenblick sollte ich Ihnen wohl nur andeuten, daß es sich um eine orthopädische Erkrankung mit neurologischen Komplikationen handelt. Die Details sind noch nicht alle geklärt.«
»Nun«, sagte Linda, während sie sich Tee nachschenkte, »mich jedenfalls überrascht das gar nicht.« Sie holte tief Luft und schaute starr vor sich hin, als durchkämme sie die Vergangenheit. »Unter irgendeinem albernen Vorwand bin ich an dem Tag, an dem die Behandlung durchgeführt wurde, ins Camp gefahren. Ich gebe zu, daß ich neugierig war, und als Gesundheitsbeamtin konnten sie mich nicht einfach wegschicken und sagen, ich sollte zu einer anderen Zeit wiederkommen. Ich habe ein paar von den Phiolen gesehen. Das Medikament, das sie den Kindern geben sollten, war Metronidazol. Die Injektionslösung ist fast vollkommen klar mit leicht gelblicher Färbung, und sie wird in transparenten Röhrchen mit Gummiverschlüssen geliefert. Damals gab es nur eine Firma, die sie noch herstellte, und sie lavierte sich so durch. Heute wird das Medikament übrigens gar nicht mehr hergestellt, falls Sie das interessiert.«
»Leider ist es heute nicht mehr wirksam.«
»Es wurde schon damals kaum noch verwendet, was ein weiterer Anlaß war zu Mißtrauen. Jedenfalls wurde das, was sie diesen Kindern injizierten, weißen, undurchsichtigen Plastikbehältern entnommen; aber ich kam nicht nahe genug heran, um die Farbe der Flüssigkeit in den Spritzen zu sehen. Und statt die leeren Behälter in einem biosicheren Container zu entsorgen, wie man es normalerweise gemacht hätte, steckten sie sie alle in eine Plastiktüte mit einer Art Schnappverschluß.«
»Sie hatten also nicht den Eindruck, daß sie entsorgt werden sollten?«
»Nein. Nein, ganz und gar nicht. Tatsächlich sah es für mich so aus, als führten sie über jeden einzelnen Buch.« Sie blickte Janie offen an. »Ich weiß noch, daß ich für den Rest des Tages so ein komisches, unheimliches Gefühl hatte. Und noch etwas – es waren zwei Beobachter da, die lächerlich fehl am Platz aussahen. Sie trugen Anzüge. Es war Juli und weit über dreißig Grad.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wer sie waren?«
»Keine! Aber im Camp trugen alle anderen diese blauen T-Shirts. An dem Tag hatte auch ich zufällig eines an.«
»Also fielen Sie nicht auf. Das haben Sie aber sicher nicht mit Absicht getan, oder?«
Linda lächelte ein wenig. »Ich besaß etliche von diesen Shirts. Sie haben sie immer verschenkt.« Achselzuckend ergänzte sie: »Mir steht eben diese Farbe.«
Stumm dachte Janie über Lindas Informationen nach. Viel mehr gab es anscheinend nicht zu fragen. Aber in diesem Haus fühlte sie sich so wohl, daß sie nicht aufbrechen mochte. Trotzdem war es Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen.
In der Hoffnung, es werde wie ein nachträglicher Einfall klingen, sagte sie: »Ach, übrigens, wie haben Sie es geschafft, während der Ausbrüche …«
»Am Leben zu bleiben?« Linda Horn lächelte. »Ich habe mich versteckt.«
So unbefangen wie möglich meinte Janie: »Aha … ich verstehe.«
»Hier«, fügte Linda hinzu. »Das Haus war noch nicht ganz fertig, aber das spielte für uns keine Rolle.«
»Ihr Mann und Sie hatten also dieses Haus, um sich … zu verstecken?«
Linda zog die Mundwinkel schief. »Wir haben die ganze Stadt Burning Road mitgenommen.«
Janie starrte sie überrascht an. »Die ganze Stadt?«
»Es war eine kleine Stadt.«
»Trotzdem«, sagte die Besucherin zweifelnd und sah sich um, »so groß ist das Haus doch nicht.«
»Es wurde ein Zeltlager eingerichtet. Die Leute aus der Stadt hatten darin mittlerweile Erfahrung. Wenn Sie sich die Mühe machen, in die Akten zu sehen, werden Sie feststellen, daß die Sterberate in Burning Road während der Ausbrüche für Ortsansässige bei Null lag. Es gab ein paar Hausbesetzer und Auswärtige, die starben …«
»Aber niemand aus der Stadt?«
»Kein einziger. Ein Jahr später kehrten wir alle zurück.«
»So ein Happy-End der Geschichte hätte ich nicht erwartet.«
»Niemand hätte das.«
»Die Leute aus der Stadt hatten großes Glück mit Ihnen. Na ja, es besteht Hoffnung, daß sie Sie in dieser Eigenschaft nicht noch einmal brauchen werden.«
»Oh, ich weiß nicht …«
Janie schwieg einen Moment und setzte sich noch mal. »Ich nehme an, mit dieser Bemerkung meinen Sie etwas – aber ich verstehe nicht ganz …«
»Ja, ich meine etwas. Ich weiß nur nicht, ob Sie davon gehört haben, das ist alles. Von der Wiederkehr von MR SAM. Es kursieren einige Gerüchte.«
Das kann nicht sein, dachte Janie. Das darf einfach nicht sein.
»Vor ein paar Tagen habe ich einen kleinen Artikel in einer Zeitung gelesen – tatsächlich stand er auf der Titelseite –, aber da war nicht von einer Rückkehr die Rede.«
»Dann halten sie es geheim.«
»Wann haben Sie das gehört … und wo …?«
»Leute in unserer Bewegung – wir sind wirklich eine große Familie, und wenn es irgendwelche Neuigkeiten über MR SAM gibt, verbreiten sie sich rasend schnell. Wir fangen alle an, ein bißchen nervös zu werden. Letzte Woche oder so hat es ein paar Fälle an der Westküste und auch in der Gegend von Seattle gegeben.«
»Allmächtiger.«
»Und was das Verwirrendste ist: Überall in Mexiko soll es Fälle geben, und dort unten lassen sie nichts darüber verlauten. Verdammt, sie halten es einfach unter der Decke!«
»Das haben sie früher auch schon getan.«
»Und auf diese Weise ist das Ganze außer Kontrolle geraten!«
»Okay, da haben wir sie wieder.«
Das Geräusch eines startenden Autos drang durch die Lautsprecher, dann das Knirschen von Kies unter den Reifen, kurz darauf Musik. Und dann ein grausiges Kreischen, als Janie auf ihre einzigartige Weise eine Arie von Maria Callas mitschmetterte.
Die Zuhörer zuckten zusammen. Die Lautstärke wurde verringert. »Sie hat ihn offenbar im Auto gelassen, als sie ins Haus ging.«
»Ich wüßte gern, warum. Was meinst du, Kristina?«
Die junge Frau sah sich unter der versammelten Gruppe um, die sie unverwandt anstarrte. »Ich weiß nicht«, wich sie aus. »Eigentlich nimmt sie ihn immer mit. Und sie hatte ihn ja auch bei sich – aber ist dann ohne ihn ins Haus gegangen.«
»Merkwürdig. Glaubst du, daß sie etwas ahnt?«
Rufen Sie mich an, lautete die E-mail der Frau aus dem Reisebüro, es geht um die Termine.
»Ihren Rückflug kann ich umbuchen«, sagte sie ein paar Minuten später am Telefon, »aber der Hinflug ist festgelegt. Sie müssen an einem bestimmten Tag einreisen. Das Management möchte zuviel Andrang bei der Einreisestelle vermeiden. Island ist klein – bis zu dem Jahr vor dem ersten Ausbruch stand die Nummer der Präsidentin noch im Telefonbuch.«
»Im Ernst? Ob ich die Nummer wohl bekommen und sie fragen könnte, ob sie mein Einreisedatum ändern kann?«
Das verneinte die Reisebürodame. »Sie können nicht einfach ein paar Einreisebeamte Überstunden machen lassen. Es gibt schlicht nicht genug Leute. Also beschränken sie die Zahl der Touristen.«
»Aber bei der Ausreise kann ich so ungefähr jeden Flug nehmen, den ich möchte?«
»Ja. Wo immer Sie einen Platz finden.«
Dann las Janie den Rest ihrer Post. Die nächste Botschaft war wieder unfreundlich, genau wie die, die sie vor ein paar Tagen bekommen hatte und in der sie aufgefordert wurde, aufzuhören, obwohl nicht erläutert war, womit.
Ich denke nicht daran, hatte sie tapfer geantwortet.
Janie nahm an, daß die Nachricht aus derselben Quelle stammte. Aber diesmal klang sie etwas schärfer als die erste.
Sie antwortete nicht, sondern löschte den bösartigen Satz, sobald sie ihn gelesen hatte.
Da Janie Rat und Gesellschaft brauchte, war sie sehr dankbar, daß Tom ihre kurzfristige Einladung zum Abendessen annahm.
»Du rufst mich zehn Minuten vorher an, und da bin ich schon«, sagte er, als sie sich im Restaurant trafen. »Ziemlich untertänig, findest du nicht?«
Sie lachte. »Wahrscheinlich hast du eine Verabredung mit einem Klon von Marilyn Monroe abgesagt, um mich zu treffen.«
»Schön wär’s! Aber du bist eine meiner wichtigsten Mandantinnen. Wenn ich zufällig so eine Verabredung gehabt hätte, hätte ich sie tatsächlich abgesagt.«
»Du Armer!«
»Na ja, nicht wirklich.« Er räusperte sich nervös. »Also, wann fliegst du? Bald, nehme ich an?«
»Ja, morgen.«
Tom senkte kurz den Blick und sagte dann: »Viel Spaß also. Aber wie ich gestern schon sagte – ich werde dich vermissen!«
Schweigen folgte, da beide ihre Gedanken nicht aussprachen.
»Wie lange bist du weg?«
»Weiß ich noch nicht. Ich muß morgen einreisen, da habe ich keine Wahl. Anscheinend herrschen sehr strenge Beschränkungen. Aber zurückfliegen kann ich jederzeit, solange ich mich an die Frist halte, für die das Visum gültig ist.«
»Und wie lange ist das?«
»Ich könnte bis zu einem Monat bleiben, wenn ich wollte.«
Seine Züge verfinsterten sich gerade lange genug, um Janie erkennen zu lassen, was er empfand – wenn er es auch zu verbergen suchte.
»Hör zu, Tom, sicher halte ich mich dort nicht länger als ein paar Tage auf. Ich habe im Augenblick viel zuviel mit dieser anderen Sache zu tun. Eigentlich würde ich am liebsten gar nicht fahren. Es laufen mir derzeit zu viele Dinge durcheinander.«
Sie sprachen nicht weiter und lächelten mechanisch, als der Kellner an ihren Tisch kam; schweigend hörten sie der Aufzählung der Spezialitäten zu. Der Einfachheit halber bestellten sie Suppe und Salat. Kaum war der Kellner außer Hörweite, sagte Tom: »Du bist also nicht mehr nur am Rande interessiert oder darauf aus, deine Zulassung zu erneuern?«
»Nein. Im Augenblick denke ich kaum noch an meine Zulassung. Es hat sich zu einer wesentlich größeren Sache entwickelt.«
»Ich bekomme allmählich das Gefühl, daß es dich irgendwie auf Trab bringt.«
Sein Verständnis tat ihr wohl. Strahlend beugte sie sich vor, und ihre Stimme klang erregt. »Ja, tut es. Ich kann dir gar nicht sagen, welchen Spaß es mir macht und wie unwichtig plötzlich alles andere erscheint. Aber ich wünschte, es wäre … sauberer. Seit den letzten paar Tagen verkompliziert sich einiges.«
Sie erzählte ihm von der zweiten bedrohlichen Botschaft und sah dann, wie er sich verschloß. Unwillkürlich stellte sie fest, daß er sich große Mühe gab, die Distanz zu wahren.
»Ich überlege, ob nicht vielleicht jemand nach meinem Haus sehen sollte, solange ich weg bin.«
»Das ist eine gute Idee. Kennst du jemanden, der das übernehmen könnte?«
»Ich habe daran gedacht, diese Kristina zu fragen, die – eh, ich weiß kein besseres Wort dafür – die mich führt.«
»Interessante Ausdrucksweise!«
»Na ja, so ungefähr fühlt es sich an. Wie soll ich es sonst nennen? Ich komme mir vor wie eine Geheimagentin, und sie ist mein Führungsoffizier,«
»James Bond hat seinen M, du hast deine Kristina.«
»Eben.« Sie griff nach unten und tätschelte die Aktentasche, die V. M. enthielt. »Und mein neuestes technologisches Spielzeug. Aber ich glaube, nach Island sollte ich es nicht mitnehmen.«
»Du könntest es ihr doch einfach geben, zur Verwahrung.«
»Ja, das ginge vielleicht.« Sie schwieg einen Moment. »Weißt du, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo sie wohnt.«
Er sah überrascht aus. »Du machst Witze!«
»Ich hatte nie Grund, sie danach zu fragen, da ich sie immer elektronisch erreichte. V. M. hat ein Modul, das Botschaften automatisch an sie weiterleitet; aber ihre Adresse ist so nicht rauszukriegen. Ich habe sie auch noch nie übers Telefon angerufen. Aber ich nehme an, sie wohnt irgendwo in der Nähe, weil sie immer ziemlich schnell da ist, wenn ich mich mit ihr in Verbindung setze.«
»Vielleicht ist sie in Wirklichkeit irgendein bizarres außerirdisches Wesen und materialisiert sich nur, wenn sie mit dir zusammen ist. Möglicherweise verbringt sie den Rest der Zeit in gasförmigem Zustand, schwebt in der Luft und wartet darauf, daß du sie rufst«, phantasierte Tom.
»Wäre das nicht eine nette Erklärung? Bei diesem speziellen Mädchen hört sie sich übrigens gar nicht so weit hergeholt an. Sie hat ein paar – merkwürdige Eigenschaften. Und da war etwas, das mir in den letzten Tagen aufgefallen ist. Etwas bei einem so jungen Menschen echt Ungewöhnliches …«
»Und zwar?«
»Sie scheint einige Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis zu haben.«
»Wie bitte? Ja, das ist wohl ungewöhnlich. Was für Schwierigkeiten?«
Janie bemerkte eine eigenartige Regung bei Tom, eine plötzliche Steifheit, die er sonst nicht an den Tag legte. Sie fragte sich nach dem Grund. »Nun ja«, erklärte sie, »in der einen Minute sage ich etwas zu ihr, und in der nächsten Minute tut sie so, als hätte sie mich nicht gehört.«
»Vielleicht war sie abgelenkt?«
»Das habe ich auch gedacht. Sie ist ziemlich leicht abzulenken, und es passiert relativ häufig. Aber ich weiß, daß sie gute Ohren hat.«
»Wie kommst du darauf?«
»Tom! Was habe ich vor den Ausbrüchen gemacht?«
»Ach ja, richtig. Neurologic«
»Sie weist alle klassischen Anzeichen für Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis auf. Ihr Langzeitgedächtnis funktioniert allerdings normal. Sie kann beeindruckend tiefe Kenntnisse abrufen. Aber von Augenblick zu Augenblick scheint sie sekundenweise auszufallen. Gestern gab es zwei komische kleine Vorfälle, fast Fehlleistungen.«
»Vielleicht solltest du sie untersuchen. Prüfen, was da vorgeht?«
»Na ja – jetzt noch nicht!«
»Warum nicht?«
»Weil ich sie nicht unnötig ablenken möchte.«
»Du willst sie nicht ablenken? Eben noch hatte ich den Eindruck, daß Kristina dich an der Leine führt und nicht umgekehrt.«
»Ja, das stimmt schon, was dieses Projekt betrifft, oder wie immer man es nennen will. Diese Mission, vielleicht. Davon rede ich aber nicht. Sie muß anders behandelt werden, glaube ich. Manchmal wirkt sie schrecklich verloren – als wenn sie ein bißchen Bemutterung vertragen könnte.«
Nach einer nachdenklichen Pause sagte Tom: »Das ist etwas, worüber ich sehr wenig weiß.«
»Und das halte ich seit jeher für eines der schlimmsten Versäumnisse des Kosmischen Trolls. Du hättest einen tollen Vater abgegeben.«
Traurig lächelte Tom auf seinen Teller nieder, und Janie fragte ihn: »Findest du es schade, keine Kinder zu haben?«
»Es gibt viel zu viele Dinge, die ich schade finde.« Er sah zu ihr auf. »Ich hätte eine Partnerin gebraucht, und das schien irgendwie nie zu klappen. Aber in der Konsequenz mußte ich auch nie ein Kind verlieren. Vor ein paar Jahren sah ich viele Leute daran zerbrechen. Ich weiß nicht, ob ich damit fertig geworden wäre.«
»So etwas kann man wohl kaum vorhersagen.«
»Vielleicht nicht.«
»Stell dir vor, wie die Eltern dieser Jungen aus dem Camp sich jetzt fühlen müssen. Ihre Söhne haben die Ausbrüche alle überlebt. Vermutlich dachten sie, sie wären aus dem Schneider.«
»Ist man jemals aus dem Schneider, wenn man Kinder hat?«
»Nein«, sagte sie leise.
Janie saß auf ihrer Bettkante zwischen den beiden Gegenständen, die den Rest ihrer Nacht ausfüllen würden. Beide verlangten ihre Aufmerksamkeit; aber sie saß einfach da, dachte nach und ignorierte ihre Verpflichtungen.
»Tut mir leid, Leute«, sagte sie, als könnten ihr leerer Koffer und Virtual Memorial sie hören oder verstehen. »Ich möchte keinen von euch beiden vernachlässigen, aber das ist gar nicht so einfach.«
Endlich stemmte sie sich vom Bett hoch und ging an ihren Kleiderschrank. Sie nahm die schwere Aufgabe in Angriff, darüber zu entscheiden, was gerade genug und was zuviel sein würde für ein Land, wo die Temperatur von einem Tag zum anderen extrem schwankte. Die Frau aus dem Reisebüro hatte ihr eine Broschüre mit Hinweisen und Vorschlägen gegeben, doch die zu befolgen schien zu kompliziert.
Elender Mist, dachte sie, ich packe einfach alles ein, was ich besitze. Soll doch jemand am Flughafen entscheiden, was dableibt! Früher einmal hätte sie mitnehmen können, was sie wollte, solange sie dafür bezahlte. Aber jetzt war alles vorgeschrieben.
Mit einem Arm voller Kleider kam sie zum Bett zurück und legte sie ab. Dann ging sie zu V. M. und tippte ein paar weitere Punkte der Liste dessen ein, was sie in Big Dattie suchen wollte, wenn sie aus Island zurückkam. Die Liste wurde mit beunruhigender Geschwindigkeit länger. Aber sie hatte nur dreißig Minuten Zeit für diese Eingabe und die Aufzeichnung ihrer letzten Tätigkeiten.
»Okay, mehr Aufmerksamkeit kann ich dir heute nicht widmen«, sagte sie zu V. M. »Aber ich verspreche, das wird bald wieder besser. Solange ich weg bin, gebe ich dich deinem anderen Elternteil zurück.«
Übrigens mußte sie diesem anderen Elternteil noch mitteilen, daß sie einen Rundgang durch Big Dattie plante und deren geheimnisvolle »Agentur« das zahlen sollte.
Sie sandte eine E-mail an Kristina. Bringen Sie die Leine mit, schrieb sie, nachdem sie alles andere übermittelt hatte. Sie sind an der Reihe, den Hund spazierenzuführen.