KAPITEL 2
2007
Janie Crowe hielt sich draußen in ihrem Hintergarten auf und schnitt zu den Klängen ansteigender Koloraturen von Maria Callas Büsche zurück, als das winzige Handy in ihrer Tasche zu vibrieren begann. Sie hatte den Anruf erwartet, aber war so in die Musik versunken, daß die Vibration sie ein wenig erschreckte. Als sie sich die Kopfhörer von den Ohren riß, blieben einige Haare darin hängen. Sie zuckte zusammen und zog die Strähne vorsichtig heraus; jetzt vernahm sie das schrille Vogelzwitschern eines zu warmen Frühlingstages. Sie schaute zu den Baumwipfeln auf und fauchte: »Seid still!« Über ihr verstummte der Lärm für einen Moment, ehe er von neuem einsetzte.
Doch die Vögel, die ihre kostbaren Blumen täglich mit ihren widerwärtigen Ausscheidungen verzierten, hatten eine ziemlich gewinnende Eigenschaft: Sie fraßen die riesigen, Krankheiten übertragenden Moskitos, die den ganzen Weg nach Norden bis in ihre Gegend im westlichen Massachusetts zurückgelegt hatten. Da die Vögel so reichlich Nahrung fanden und nach den letzten Wahlen auch die Luft reiner geworden war, hatten sie sich prächtig vermehrt – obwohl noch vor wenigen Jahren vom Aussterben bedroht.
Mit einem Gefühl des Bedauerns legte sie die Kopfhörer weg. Maria Callas würde leider in absehbarer Zukunft nicht wieder auferstehen, ganz gleich, wie sorgfältig die Atmosphäre gereinigt würde oder wie viele Moskitos man ihr zu essen gäbe.
Wäre trotzdem ein tolles Projekt, sie zurückzuholen, dachte Janie für einen kurzen Augenblick. Sie liegt in Paris begraben …
Doch gewöhnliche Sterbliche wie sie selbst erhielten keine Visa nach Paris. Und keine Grabungen mehr, hatte ihr Anwalt verlangt. Grabungen bringen Probleme …
Janie nahm das hartnäckige Telefon aus der Tasche und flüsterte den Wunsch vor sich hin, daß der Anruf von dem betreffenden Anwalt kam und zur Abwechslung mal gute Nachrichten brachte. Sie klappte den Apparat auf und sagte mit der etwas gepreßten Stimme, an der das Gerät sie zu identifizieren gelernt hatte: »On.« Dann fügte sie ein freundlicheres »Hallo?« hinzu. Aus dem Hörer ertönte die vertraute, ziemlich erschöpft klingende Stimme von Rechtsanwalt Tom Macalester, und Janie atmete auf: Endlich.
»Du bist im Freien …«, stellte er fest, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Vögel!«
»Richtig. Ich stutze ein paar Büsche, die glauben, sie wären auf einmal in Florida. Sie mögen diese Hitze, sehr viel lieber als ich jedenfalls – ich schlaffe ab, und sie sind selig.« Mit einem leisen Puhhh ließ sie sich in einen Liegestuhl sinken. »Aber deine Stimme macht deutlich den Eindruck, daß du wegen irgendwas ganz und gar nicht selig bist«, gab sie von sich, als sie saß. »Du klingst – bestürzt.«
»Und ich war wild entschlossen, mir nichts anmerken zu lassen.«
Auf dem Bildtelefon im Haus hätte sie sicher gesehen, daß er die Stirn runzelte. Am Handy konnte sie es seiner Stimme anhören.
»Das schaffst du vielleicht bei Geschworenen, Tom, aber ich kenne dich zu gut.«
»Ach, wirklich?« meinte er sarkastisch. »Weswegen wünsche ich mir dann immer, wir würden uns auch nur ein bißchen besser kennen?«
Mit einem resignierten Kichern antwortete sie: »Es gibt nur eine Art, wie wir uns besser kennenlernen könnten, als es bereits der Fall ist.«
Er lachte. »Bei dir oder bei mir?«
»Okay, jetzt hörst du dich schon normaler an.«
»Na schön.« Er machte eine Pause und holte Luft, und als er wieder sprach, war sein Ton wesentlich ernster. »Ich habe vom Komitee für Wiederzulassung Nachricht. Wegen deines Antrags.«
Janie hatte recht gehabt. Er war unglücklich, und nach sehr kurzer Zeit hatte er sie angesteckt. Sie arbeitete lange als ziemlich erfolgreiche Neurologin, bevor es zu den Ausbrüchen kam – als die bösartige Krankheit MR SAM (ein Akronym für den Medikamenten-Resistenten Staphylococcus Aureus Mexicalis, geprägt von einem cleveren Journalisten, der sich später zu Tode trank) ihre Ladung Elend über eine unvorbereitete Welt ausgoß.
Wie hätte irgend jemand das wissen oder vorbereitet sein sollen? Es überstieg jegliche Vorstellungen von Horror. Mit halbem Ohr hörte sie zu, wie Tom die gesetzlichen Vorschriften zu ihrem Antrag auf Wiederzulassung in dem Beruf herunterbetete, den sie einst ausgeübt hatte. Eine Szene vom Vortag kam ihr kurz in den Sinn, während Tom mit überaus einfühlsamer Stimme dieselben Ablehnungsgründe, die sie schon kannte, abermals wiederholte. So schonend er ihr die Mitteilung auch beizubringen versuchte, sie wurde ihr jedesmal verhaßter. Und so schob sie sie in den Hintergrund ihrer Gedanken, zusammen mit der Erinnerung an Polizeiautos, die sich um einen Müllcontainer auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt scharten, grüne Bioschutzanzüge, grünes Absperrband und dann, als sie langsam mit heruntergekurbeltem Fenster vorbeifuhr, die Stimme eines Polizisten, die in ein Handy bellte: »Sagt jemandem, daß sie die Zähler abstellen sollen.«
Sie wußte, welche Zähler er meinte. Diese waren schon einmal abgestellt worden – der erste Schritt im Laufe der Ereignisse, die zu dramatischen Veränderungen ihres Lebens geführt hatten. Sie war eine gute Mutter, eine liebevolle Ehefrau und ein zufriedener Mensch gewesen, der noch viel vor sich hatte. Aber anschließend verlor sie alles – zuerst ihre Familie durch die Krankheit selbst, dann den Beruf, den sie bei der erzwungenen Neuordnung der Medizin in den ersten vier Jahren nach den Ausbrüchen aufgeben mußte. Darauf folgte die verhängnisvolle Reise nach London, die eigentlich der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen und befriedigenden Karriere in forensischer Archäologie hätte sein sollen. Sie wurde zum größten Fiasko ihres Daseins. Jetzt versuchte sie mit Hilfe des tüchtigen Anwalts, seit vielen Jahren ihr Freund, händeringend, wenigstens ein bißchen von dem Leben zurückzubekommen, das sie vorher geführt hatte.
Allmählich sah es so aus, als würden allein schon all die bloßen Versuche sie zermürben.
Toms Stimme drang wieder in ihr Bewußtsein. »Eine Menge dieser Rechte auf freie Berufswahl und Beschäftigung wurden während der ersten Welle aufgehoben«, erklärte Tom, »und die Fälle, die zu Präzedenzfällen werden könnten, sind noch nicht durch alle Instanzen gelaufen. Außerdem ist bis jetzt niemand aus der Sammelklage ausgestiegen; deswegen rate ich dir, das auch nicht zu tun. Wir werden uns trotzdem gleichzeitig weiter um eine individuelle Erneuerung deiner Zulassung bemühen. Was immer zuerst kommt, kann uns nützen. Das Endziel ist deine Berufsausübung, wie auch immer wir das bewerkstelligen.«
»Himmel, Tom, wir haben eine Bill of Rights, wir haben eine Verfassung …«
»Weiß ich, weiß jeder! Frag mich nicht, warum wir all diese Dinge vergessen haben.«
»Wählen wir unsere Volksvertreter nicht, damit diese Rechte gewahrt bleiben?«
»Deine Abgeordnete hat schon gesagt, sie könnte nichts für dich tun. Und es ist anerkannter Rechtsbrauch, daß die Regierung in Zeiten nationalen Notstands alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Ordnung aufrechtzuerhalten – was immer das bedeutet.«
»Der Notstand ist vorbei. Die Scanner sind weg, die Isolierstationen abgebaut …«
»Alles klar.« Er hielt einen Moment nachdenklich inne, bedrückter, als er hätte sein sollen. »Zumindest größtenteils.« Dann fügte er hinzu: »Aber ich würde trotzdem nicht damit rechnen, daß diese Rechte irgendwann demnächst wieder in Kraft treten.«
»Wieso nicht, zum Donnerwetter?«
»Ich habe darüber öfter diskutiert, als mir lieb ist«, wehrte er ab.
»Es kommt nie etwas dabei heraus. Angeblich bestehen ziemlich starke Widerstände gegen die Wiederherstellung der alten Zustände – besonders bei denen, die gegenwärtig an der Macht sind. Ihnen gefallen die Einschränkungen. Erinnerst du dich noch, was passierte, als man versuchte, Big Dattie beseitigen zu lassen?«
Es war eine fast lachhafte Übung in Vergeblichkeit gewesen, als eine Koalition aus besorgten Bürgerrechtsgruppen ihre Talente und Mittel in einen Topf geworfen und auf Vernichtung der Big Dattie genannten universalen genetischen Datenbank geklagt hatte, die im Laufe der Jahre anwuchs, bevor der ethische Code für DNS-Genetik etabliert worden und während des ersten Ausbruchs zu voller Blüte gekommen war. Sie arbeitete mit ihren heimtückischen und gefährlichen Informationen da draußen an irgendeinem monströsen Computer, eine ständige Erinnerung daran, daß es keinerlei Privatsphäre mehr gab. Letzten Endes, so hatten ihre Befürworter argumentiert, bringt sie mehr Nutzen als Schaden. Und die Krankheitszähler, behaupteten sie, seien absolut notwendig. Die Gegner hatten darauf mit flaggenschwenkenden Demonstrationen und vielen glühenden Reden zugunsten der Unantastbarkeit der Person reagiert, und Janie schloß sich ihren Argumenten zögernd an. Sie behaupteten, Krankheiten könnten auch auf andere, weniger invasive Weise gezählt werden. Janie erinnerte sich noch an ihre ungläubige Verblüffung darüber, wie schnell der Supreme Court in diesem Fall zu seiner Entscheidung gekommen war, und an ihren Schock darüber, daß dieser die Datenbank zum notwendigen Übel erklärte und ihr Weiterbestehen gestattete.
»Du mußt all das noch heiß aus der Druckerpresse erfahren«, sagte sie.
»Das meiste davon schafft es nie bis in die Presse.«
Schon vor vielen Jahren war er Experte für Medizinrecht geworden, lange vor dem abrupten Anstieg der Nachfrage auf diesem Spezialgebiet infolge der verwirrenden Veränderungen, die die Ausbrüche mit sich gebracht hatten. Die erste Welle kämpfte er als Anwalt der Isolierten, der in Quarantäne Sitzenden, der Gemiedenen durch. Als es danach ruhiger wurde, hatte seine Praxis geboomt, und in irgendeinem Hinterstübchen seines Gehirns speicherte er eine Menge potentieller Verbündeter. Janie wußte, er würde sich nicht scheuen, auf diese Verbündeten zurückzugreifen, wenn sich das als notwendig erweisen sollte. Er unterhielt lose Kontakte zu Gruppen, die darauf warteten, daß der MR SAM der Ausbrüche, diese bestialische Krankheit, sich erneut in die Vereinigten Staaten einschlich – trotz der vehementen und ständig wiederholten Dementis derer, die es besser wissen könnten. MR SAM würde machen, was er wollte, trotz der guten Absichten des medizinischen Establishments und seiner laufenden Bemühungen, ihn auszurotten. Das erste Mal, nach einer längeren Herrschaft des Terrors, war er aus eigener Laune endlich verschwunden und hatte eine Unmenge verwirrter und beschämter Gesundheitsfachleute hinterlassen.
Von den Toten ganz zu schweigen.
»Also«, quetschte sie heraus, »was meinst du, was ich tun soll?«
»Jetzt im Moment? Absolut gar nichts.«
»Tom, ich …«
»Natürlich«, unterbrach er sie, »es verstößt gegen deine Weltanschauung, geduldig zu sein. Leider sind deine Optionen ziemlich dürftig, und Geduld ist immer noch gefragt.«
Er hatte ihr schon gesagt, sie solle mit einem negativen Bescheid rechnen. Dieser Anruf war eigentlich nur eine Bestätigung, aber frustrierend war sie trotzdem. »Du große Güte«, sagte sie. In ihren eigenen Ohren klang das arg nach Jammern. »Mein ganzes Leben hängt in der Luft. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalten soll.«
»Was kannst du sonst tun, Janie? Wenn du diesen Leuten auf die Nerven fällst, wird dir das nicht helfen. Die stecken bis über beide Ohren in Anträgen. Warte wirklich ungefähr sechs Monate, und stelle dann erst einen neuen Antrag.«
»So lange möchte ich nicht auf dem Trockenen sitzen, wenn es nicht unbedingt sein muß.«
»Nun, das muß es aber – es sei denn, deine gegenwärtigen Lebensumstände würden sich dramatisch ändern. Die einzige Chance, dich jetzt gleich wieder ins Geschäft zu lassen, bestünde darin, daß du über irgendwelche einmaligen Fähigkeiten verfügst: etwa Sehnerven reparieren oder Gehirnschäden rückgängig machen, oder etwas ähnlich Unmögliches.«
»Zwanzig Jahre Ausbildung und Praxis reichen also nicht!«
»Genau! Entschuldige, ich weiß, das hört sich schrecklich an. Aber den Zahlen der Regierung zufolge gibt es mehr nichtspezialisierte Neurologen, als für die gegenwärtige Bevölkerungsstatistik nötig sind. Wenn eine stattlichere Anzahl von euch bei den Ausbrüchen ins Gras gebissen hätte, sähe es vielleicht anders aus. Tja, versuche doch, dich auf Infektionskrankheiten zu spezialisieren …«
»Fang nicht davon an, Tom …«
»Ich sage ja nur, daß das ein weites Fachgebiet mit kurzer Wiedereinarbeitungszeit ist, und falls du auf deiner Medizin beharrst, solltest du das in Erwägung …«
»Nein. Jetzt nicht und in Zukunft nicht!«
»Dein Talent würde dort gebraucht, Janie.«
Schuldbewußt schwieg sie einen Moment. Dann sagte sie: »Ich weiß. Aber es geht einfach nicht.«
»Okay, dann wirst du dich noch für eine Weile damit zufriedengeben müssen, bei der Stiftung zu forschen. Bis ein paar von den alten Hasen wegsterben. Oder bis sich die Dinge bessern. Dann werden wir es noch einmal versuchen.«
Ihr entrang sich ein Seufzer. »Das paßt mir überhaupt nicht.«
»Ich weiß. Aber wenigstens arbeitest du.«
»Wenn man das so nennen kann. Ich hasse meinen Job. Es ist, als wäre ich jemandes Sekretärin – andauernd mit Kleinkram beschäftigt.«
Er brachte ein kleines Lachen zustande. »Na ja, du kannst immer noch forensische Archäologie betreiben.«
»Und das sagt der Mann, der nicht will, daß ich grabe!« Sie schloß die Augen und rieb sich die angespannte Stirn. »Irgendwelche Neuigkeiten von der Einwanderungsbehörde?«
»Nein, tut mir leid«, gab Tom Auskunft. »Möchtest du, daß ich Bruce anrufe und es ihm mitteile?«
»Laß nur! Ich will sowieso morgen mit ihm telefonieren. Wenn es gute Neuigkeiten wären, hätte ich es heute getan. Aber schlechte Neuigkeiten können warten.«
Sie zog ihre Gartenhandschuhe aus und warf sie in den Werkzeugkasten; aber bevor sie in ihr Haus ging, blieb Janie in der Garage neben ihrem ehrwürdigen, doch angeschlagen aussehenden Volvo stehen, den sie vor einer Ewigkeit glänzend und neu gekauft hatte. In der merkwürdig tröstlichen Gegenwart des vertrauten Autos knetete sie einen Moment die Hände und tagträumte von einfacheren Zeiten. Komisch, das winzige Implantat im Fleischpolster unter ihrem Daumen konnte sie nicht mehr finden; nicht einmal den kleinsten Knoten spürte sie mehr. Der eigentliche Chip war, wie von dem Einwanderungsbeamten in Boston versprochen – In ein oder zwei Tagen werden Sie gar nicht mehr wissen, daß er da ist, hatte er gesagt –, von den umgebenden Zellen gleich einem Nährstoff aufgezehrt worden; aber zuvor hatte ihr Fleisch seine elektronischen Daten absorbiert. Das war eine gesetzlich zugelassene Körperverletzung und wurde beinah universell angewandt. Notwendig gemacht hatte diese die kunstvolle Erfindung irgendeines kriminellen Genies, das als Hacker in den entsprechenden Server eingedrungen war und mit ein paar gut plazierten Codezeilen die Identifikation anhand von Augenhornhaut und Fingerabdruck in den Speicher für archaische, nutzlose Technologien verbannt hatte.
Doch mit der Zeit schwächte sich ihre persönliche Abneigung gegen dieses elektronische Eindringen ab; denn es war unglaublich bequem, sofort identifizierbar zu sein, und solange sie einigermaßen kreditwürdig blieb, konnte sie fast alles, was sie brauchte, mit einem einfachen Schwenken der Hand erledigen. Aber es machte sich nichts von dem Stolz in ihr breit, den sie noch damals im Zeitalter des Papiers verspürt hatte, als sie ihren ersten Bibliotheksausweis, ihre Sozialversicherungsnummer und ihren Führerschein bekam. Statt dessen hatte sie, nachdem man ihr den Chip in die Handfläche geschossen hatte, in stillem Entsetzen das kleine rote Mal betrachtet und sich schmerzhaft nach dem zwanzigsten Jahrhundert zurückgesehnt.
Das war das I-Tüpfelchen ihrer problematischen Rückkehr aus England in die Vereinigten Staaten gewesen. Als hätte es noch nicht gereicht, daß dem Mann, den sie nun heiraten wollte, wenn sie auf der anderen Seite des großen Teichs angekommen war, das Visum verweigert wurde; denn irgend jemand in London meinte, man müsse mit ihm über einen gewissen Bio-Unfall reden, der in dem Institut passiert war, in dem er forschte.
Es handelte sich um ein Mißgeschick, während Janie in London Bodenproben untersuchte. Mit dem Projekt, das beinahe in einer Katastrophe geendet hätte, hatte Bruce eigentlich nichts weiter zu tun. Nur arbeitete er in dem Institut, in dem die chemische Analyse der Proben vorgenommen werden sollte. Er war sozusagen ein unschuldiger Zeitgenosse, als er anfing, sich für Janie zu interessieren. Sie stand im Zentrum der Ereignisse, und er half ihr bei den sich auftuenden Schwierigkeiten. Sie hatte in einer dunklen Nacht zusammen mit ihrer Assistentin in Einbrechermanier eine kleine Bodenprobe von jenem vom Feuer heimgesuchten Grundstück entnommen, und zwar gegen den Willen des Wärters dieses Anwesens. In der Erde, die sie ausgegraben hatten, hatte sich ein kleines Stückchen eines zerfallenden Stoffbeutels befunden. Die Fasern dieses Materials enthielten ein sporenbildendes, archaisches Bakterium, dessen heutige Form erheblich mutiert war. Zuerst hatte niemand erkannt, was es damit auf sich hatte. Bei einem Laborunfall war es wiedergeboren worden und hatte sich als Yersinia pestis entpuppt …
… den Verursacher der Beulenpest. Und das Bakterium hatte sich prompt eine vorbeikommende Plasmazelle geschnappt und war zum Ungeheuer geworden.
Mit hektischen Bemühungen gelang es ihr, Bruce und ihrer Assistentin Caroline, Yersinia pestis einzufangen, als sie anfing, sich auszubreiten – und zwar mit einer Geschwindigkeit, die sechshundert Jahre Gefangenschaft aufzuholen versprach. Zu ihrem ewigen Entsetzen waren ihr einige Menschen zum Opfer gefallen, wenn die Zahl auch im Vergleich mit der Geschichte dieses speziellen Bakteriums wie durch ein Wunder relativ klein blieb. Caroline selbst war so krank geworden, daß sie beinahe gestorben wäre.
Mit Bruces intelligenter Hilfe war Janie die Untersuchung des Zwischenfalls irgendwie erspart geblieben, obwohl sie in Wirklichkeit viel tiefer darin verwickelt gewesen war als er.
Die Erinnerung an all das machte sie einen Moment benommen, und Szenen von früher zogen an ihr vorüber; sie versuchte, sie in ihr Unterbewußtsein zurückzudrängen, aber das wollte ihr nicht so recht gelingen. Sie schaute in die Ecke der Garage, wo die Forschungswerkzeuge, die sie mit zurückgebracht hatte, jetzt in ihrer weitgereisten Segeltuchtasche lagerten. Möglicherweise begannen sie bereits in der Tasche zu rosten.
Werde sie los, sagte sie sich. Aber das hatte sie schon versucht, und zwar vergebens. Sie waren eine direkte Verbindung zu etwas, von dem sie sich nicht trennen wollte, und bei der Wiedereinreise hatten sie sich als günstige Ablenkung erwiesen und ihr ermöglicht, ein noch ungewöhnlicheres Erinnerungsobjekt von dem genannten Brandunfall einzuschmuggeln, das sonst vielleicht Aufmerksamkeit erregt hätte.
Zu schade, daß ich Bruce nicht in Schmutzwäsche wickeln und neben dem Journal in den Koffer stopfen konnte …
… dem Journal, das die Geheimnisse eines Arztes aus uralter Zeit enthielt. Seine Entschlossenheit und Geschicklichkeit hatten Janie stets einen Lichtstreif am Horizont gezeigt, als alles unsagbar dunkel aussah.
Hilflos schüttelte sie den Kopf. Es wäre so viel leichter, wenn ich einfach wieder eine sinnvolle Arbeit hätte …
Eine einmalige Spezialität, hatte Tom gesagt.
Gibt es auf dieser Welt überhaupt noch etwas Einmaliges? fragte sie sich betrübt. Sie schüttelte den Tagtraum ab und ging ins Haus.
Es gab ganze Bände von »Regierungszahlen« in der universalen genetischen Datenbank, darunter auch, nach Jahren mühseliger Eingabe, das komplette Gen fast jeden US-Bürgers. Wenn Janie vor einem Computer saß wie jetzt mit dem Plan, in diese Datenbank einzutreten, fühlte sie sich am Ende immer verwirrt und überwältigt.
Überwinden Sie das, hatte ihr Supervisor bei der Stiftung, der New Alchemy Foundation, zu ihr gesagt. Es ist einfach Teil Ihres Jobs.
Das stimmte, und sie war vertraut mit den Techniken zum Sammeln, Sortieren und Auswerten von Daten; aber die Datenbank, zu der sie jetzt Zutritt suchte, konnte ein furchterregender, unwirtlicher Ort sein, allein schon wegen ihrer Größe. Ihre Gefühle für diese Einrichtung wechselten von Tag zu Tag. In der einen Minute erschien sie ihr wie ein Wunderland, das der Erforschung harrte, in der nächsten wie eine Wüstenei, die man nur unter Schutzmaßnahmen betreten sollte. Und jedesmal, wenn sie es tat, fühlte Janie sich wie ein Eindringling, ein Außenseiter, jemand, der eigentlich nicht dorthin gehörte. Dieses Gefühl wurde durch die Eröffnungssequenz des Bedienungssystems verstärkt, in der es nicht etwa hieß WILLKOMMEN BEI BIG DATTIE, BITTE TRETEN SIE EIN, sondern vielmehr:
STOP! SIE HABEN ZUGANG ZU EINER GESICHERTEN DATENBANK VERLANGT. BITTE BEFOLGEN SIE ALLE FOLGENDEN BLLDSCHIRMANWEISUNGEN GENAU. ANDERNFALLS KANN ES ZU SOFORTIGEM ABBRUCH DER VERBINDUNG UND WIDERRUF IHRER ZUGANGSBERECHTIGUNG KOMMEN. DIESER KONTAKT WIRD VOLLSTÄNDIG AUFGEZEICHNET.
Eines Tages, dachte sie, werde ich mutig genug sein, da einfach hineinzuspazieren und mich umzusehen, ohne besonderes Ziel … Aber dieser Tag war nicht der heutige. Janie tat genau, was verlangt wurde, nicht mehr und nicht weniger, und gab mit gehorsamer Präzision die geforderten Befehle ein. Sie legte ihre rechte Hand mit dem unsichtbaren, aber stets lesbaren elektrischen Code auf den Computerbildschirm und wartete darauf, daß der Sensor den Code verarbeitete. Und sie stellte sich vor, daß irgendwo tief in den Eingeweiden von Big Dattie bestimmte Zähler einen Punkt höher sprangen, diejenigen, die mit hochqualifizierten weißen Frauen unbestimmten Alters sowie mittleren bis hohen Einkommens zu tun hatten; diese arbeiteten für die New Alchemy Foundation und suchten an dem speziellen Computer, den sie zufällig benutzte, nach Daten. Irgend jemand würde eine solche Information irgendwann bedeutungsvoll finden. Aber Janie wollte dieser Person nicht begegnen. Niemals.
Der Bildschirm färbte sich gelb – ein zu fröhlicher Hintergrund für den strengen Text, der darauf zu lesen war. Sie wurde durch ein Piepsen angewiesen, einen Weg in die Datenbank zu wählen. Also berührte sie den Zugangspunkt auf dem Bildschirm und wartete. Insgeheim erheitert übte sie sich in Geduld, während ihre Suche auf diesen oder jenen demographischen Weg gelenkt wurde. Mit hoher Geschwindigkeit auf dem Boy Boulevard Richtung Süden, dann auf Route 13, dann links in die White Street. Es wäre wesentlich effizienter gewesen, einfach den Namen des betreffenden Jungen einzutippen, Abraham Prives; aber das hatte etwas so Direktes, daß Janie es unangenehm, ja fast gewalttätig fand.
Denn sollte jemand einfach ihren Namen in die Datenbank eingeben und daraufhin all die erwünschten Informationen erhalten, würde sie absolut zu Eis erstarren. Natürlich hatte das sicher schon jemand getan, vielleicht viele Leute – und zwar aus bestürzenden Gründen. Aber darüber wollte sie nicht nachdenken.
C’est la vie, zwang sie sich zu denken. Ach, wenn ich doch nur einmal wieder ein unbekümmertes Mädchen sein könnte …
Abraham Prives – der Name erschien immer wieder auf dem Bildschirm, während seine Daten zusammengestellt wurden. Wie kalt und unpersönlich es aussah, diese elektronische Akte anzusammeln. Janie berührte den Bildschirm, um den Vorgang zu stoppen, als ein Foto von ihm erschien. Sie sah das Bild eines hübschen Jungen, der vielleicht zehn oder elf gewesen war, als er erstmals für die Kamera gelächelt hatte. Die großen braunen Augen wirkten intelligent, aber gleichzeitig zurückhaltend. Janie fragte sich, ob Abraham vielleicht ein bißchen schüchtern war.
Aber er war nicht zu schüchtern für Mannschaftssport. Janie sah seine Akte in erster Linie deswegen durch, weil er einen Unfall gehabt hatte, als er Fußball spielte, einen spontanen Zusammenstoß mit einem anderen Spieler, der dazu geführt hatte, daß Abraham flach und unbeweglich in einem Krankenhausbett im Jameson Memorial Hospital landete. Zwei seiner Wirbel waren zersplittert wie ein knackendes Weinglas. Die Knochensplitter hatten seinem Rückenmark schreckliche Schäden zugefügt. Es handelte sich um eine absurde Verletzung, wenn man bedachte, wie gewöhnlich der Unfall als solcher gewesen war, und diese Abnormität hatte jemanden von der Unfallstation des Jameson veranlaßt, sich mit der New Alchemy Foundation in Verbindung zu setzen, wo Janie als Forschungsassistentin arbeitete.
Die Datei würde in ihren Datenspeicher bei der Stiftung überspielt werden, wo sie sie später in aller Ruhe wieder abrufen und untersuchen konnte. Aber bevor sie das tat und Big Datties Bedienungssystem verließ, machte sie einen kurzen Rundgang durch die Informationen über Abraham in der Hoffnung, eine klarere Vorstellung von ihm zu bekommen. Die Datenbank verriet ihr, daß seine Intelligenz höher war als die von vierundneunzig Prozent der Bevölkerung, daß er voll immunisiert war, sein Vater allerdings die Ausbrüche im Gegensatz zur Mutter nicht überlebt hatte. Er trieb Sport und lernte in der Schule Russisch. Ein netter, ausgeglichener Dreizehnjähriger des Nach-Ausbruchs-Zeitalters.
Vorher hatte er sich jedoch schon einmal etwas gebrochen – ein Handgelenk, letztes Jahr. Der Bruch war kompliziert gewesen, hatte seinen Orthopäden verwirrt und dann ungewöhnlich lange gebraucht, um zu verheilen. Der Orthopäde hatte den Jungen auf Osteogenesis imperfecta getestet, eine etwas weit hergeholte Maßnahme – diese seltene Knochenkrankheit wurde nämlich gewöhnlich schon kurz nach der Geburt sichtbar. Abrahams Testergebnisse waren wie erwartet negativ.
Der Junge spielte erst seit einem Monat wieder Fußball, als die Tragödie mit seiner Wirbelsäule passierte.
Er fiel um wie ein Sack Kartoffeln und konnte kein Glied mehr rühren, hatte der Trainer ihr erzählt, als sie mit diesem in Verbindung trat.
Janie verstand – vor allem den Teil mit dem Kartoffelsack. Die schlechte Nachricht ist … dachte sie, als sie das Zeichen auf dem Bildschirm berührte, das die Datei auf ihren Computer überspielen würde.
Auf ihrer Liste von Dingen, die im Zusammenhang mit Abraham Prives zu erledigen waren, stand auch ein Gespräch mit der Person im Jameson, die als erste die Stiftung angerufen hatte. Aber als sie sich im Krankenhaus nach dem Namen dieser Person erkundigen wollte, wußte ihn anscheinend keiner. Sie kam zu dem Schluß, daß ihr Supervisor das durcheinandergebracht haben mußte, und war ärgerlich auf ihn – kein ungewöhnlicher Zustand in ihrer angespannten Beziehung. Aber letzten Endes spielte es keine Rolle, wer angerufen hatte – nur, daß der Anruf erfolgt war! Janie pflegte jedoch nicht gleich den Überbringer einer schlechten Nachricht zu erschießen.
Bevor sie die Datenbank verließ, schaute sie sich noch die Unheilsboten an – die Krankheitszähler. Die hätte sie liebend gern erschossen. Es sah ungefähr so aus, wie sie erwartet hatte – Tuberkulose leicht gesunken, Lungenentzündung eine Spur schlimmer geworden, HIV wie immer heimtückisch steigend. Doch als sie auf der Liste weiter nach unten bis zu MR SAM ging, teilte Big Dattie ihr mit, daß der Zähler für diese spezielle Krankheit vorübergehend außer Betrieb war.
Es lief immer aufs Geld hinaus. Das hatte sich nicht geändert und würde auch sicher ewig so bleiben.
»Hören Sie, ich verstehe Ihren Eifer, diesen interessanten Fall zu übernehmen, aber das ist in meinem Budget nicht drin«, sagte Chester Malin.
»Wieso haben Sie mich dann dorthin geschickt?«
»Jemand hat angerufen, erinnern Sie sich? Was sollte ich machen, die Mitteilung einfach ignorieren? Wir müssen uns solche potentiellen Kandidaten vorknöpfen. Aber wir müssen uns nicht entschließen, die Verantwortung für sie zu übernehmen.«
Janie fragte sich oft, wie dieser Mann Supervisor geworden war. Jetzt verschränkte er die Arme über seinem ausladenden Bauch und kippte seinen Stuhl nach hinten, so daß er auf zwei Beinen balancierte. Wie immer waren seine Hemdsärmel aufgekrempelt und gaben behaarte Unterarme frei. Auf einem davon befand sich die Tätowierung von zwei gekreuzten Gewehren. Seine Mitarbeiter hatten ihm hinter seinem Rücken den Spitznamen Affenmensch verpaßt, worin er sie unwissentlich bestärkte, indem er mit einer Hand seine trockene Kopfhaut kratzte, wenn er über etwas nachdachte.
Und obwohl er sie bei mehr als einer Gelegenheit angemacht hatte, war er ein prominentes Mitglied von Janies persönlichem Letzter-Mann-auf-Erden-Club.
Sie versuchte, seine Unarten zu ignorieren – die Überzeugungsarbeit zu leisten hatte Vorrang. »Ach, kommen Sie, Chet – jemand hat gedacht, dieser Fall würde dem Profil entsprechen. Und gestern bekam ich einen Anruf aus dem Northern Hospital in Boston, dem ich noch nicht nachgegangen bin; aber er klang ähnlich. Bei beiden Kindern handelt es sich um so klare Beteiligung des Rückenmarks, daß wir sie in unser Projekt aufnehmen müssen – oder es wird gefragt, warum wir es nicht getan haben. Man könnte uns den Versuch vorwerfen, die Resultate zu verfälschen. Zwei Fälle hintereinander – scheint das nicht ein bißchen merkwürdig? Was ist, wenn wir es hier mit einer neu entstehenden Krankheit zu tun haben? Stellen Sie sich die Folgen einer solchen Entdeckung für unsere Stiftung vor. Unser Ruf würde ins Unermeßliche wachsen …«
»Das ist keine neue Krankheit«, korrigierte er scharf. »Nach dem, was ich im Überblick gesehen habe, handelt es sich bloß um einen besonders scheußlichen Wirbelbruch. Vielleicht versucht sein Fußballtrainer, seinen eigenen Arsch zu retten, weil er den Jungen in eine gefährliche Situation geschickt hat.«
»Ich habe ein paar Leute angerufen, die dabei waren – der Trainer hat mir die Namen gegeben. Und sie bestätigten seinen Bericht – daß es kein heftiger Zusammenprall oder irgend etwas Ungewöhnliches war. Offenbar ging es um diese Art Zwischenfall, nach dem Kinder in der Regel aufstehen, sich den Staub abklopfen und weiterspielen. Was der andere Junge auch getan hat. Aber nicht der kleine Prives! Ich frage mich bloß, warum.«
»Tja, ich sage Ihnen das höchst ungern, aber Sie werden es nicht herausfinden. Es kostet zuviel Geld.«
»Für Fälle wie diese muß es doch Sondermittel geben – und den gegenwärtigen Projektteilnehmern lassen wir bereits teure Pflege zukommen. Einer mehr wird sicher gar nicht auffallen.«
»Machen Sie Witze?« knurrte Chet. »Die da oben sind keine Meisen, die haben Adleraugen. Die merken alles.«
Sie runzelte die Stirn. »Sie glauben also nicht, daß sie mitmachen?«
»Nein. Das glaube ich nicht.«
»Und Sie werden mich nicht unterstützen?«
»Nicht, solange Sie mir nicht überzeugendere Argumente liefern, nein!«
Als Janie beleidigt abzog, rief Chet die Personaldatei seines Computers auf. Er tippte ein paar Worte ein und schloß sie wieder.
Janie hatte ihren ehemaligen Doktorvater einige Monate nicht gesehen und war nicht überrascht über die telefonische Auskunft, daß John Sandhaus aus seinem geräumigen Haus am Stadtrand ausgezogen war; jetzt lebte er in einem Gästeapartment in einem der Wohnheime der nahen Universität.
»He«, er grinste breit, als sie zur Tür hereinkam, »schön, Sie mal wieder zu sehen.«
»Hi!« Janie umarmte ihn. »Wir müssen mehr für unsere Verbindung tun.«
»Sie haben recht«, sagte er. »Mir kommt es vor, als würde mein Leben immer schneller und schneller ablaufen.«
»Das Gefühl kenne ich.« Ihr Arm schwenkte durch das Apartment. »Ein neues Nest?«
»Ich gewöhne mich daran«, meinte er. »Es könnte mir mit der Zeit sogar gefallen. Cathy jedenfalls mag es. Eines Tages im letzten Herbst habe ich aus dem Fenster gesehen und beobachtet, wie die Blätter fallen«, fuhr er fort, »und da brach es über mich herein wie eine Tonne Ziegelsteine: Vermutlich habe ich sechs Monate meines Lebens damit zugebracht, Blätter zusammenzurechen. Und genau in diesem Moment wurde mir klar, daß ich nicht noch einen Monat rechen sollte. Niemals. Fallende Blätter wurden zum Symbol meiner Gefangenschaft in den rigiden Verhaltensweisen der modernen Gesellschaft. Und ich, der menschliche Gernegroß, hab eine Menge Zeit aufgewendet, der Natur Benimm beizubringen. Also war ein Umzug angesagt. Hier haben wir nun einen hauseigenen Vorrat an Babysittern, der garantiert jeden September erneuert wird.«
»Und einen ständigen Zustrom von bierseligen Jugendlichen, der sich ebenfalls stets selbst erneuert. Schade, daß Sie es nicht schaffen werden, ihnen den Hintern zu versohlen.«
»Ja? Behalten Sie mich im Auge! Aber bislang war es okay. Es gefällt uns. In einem der neuen Wohnheime würden wir uns nicht wohl fühlen – zu steril. Aber das hier ist hübsch. Erinnert mich an ein Apartmenthaus, in dem ich seinerzeit in Cambridge wohnte. Und die Miete stimmt auch – eine gute Sache.«
»Ich hoffe, Sie haben einen anständigen Preis für Ihr eigenes Haus bekommen …«
So la la, gab er mit einer Geste zu verstehen. »Einigermaßen … Der Markt ist noch immer ziemlich übersättigt. Ehrlich gesagt war ich froh, daß wir es überhaupt verkaufen konnten.«
»Für mich kommt ein Umzug nie mehr in Frage. Man wird mich vom Küchenboden in meinem Haus kratzen müssen.«
»Nun ja, für Sie sind ja auch eine Menge Erinnerungen damit verbunden. Für uns war es nicht so schlimm.«
»Sie hatten großes Glück.«
»Ja, das stimmt.« Ein Moment nachdenklichen Schweigens verging. »Kommen Sie«, unterbrach es John, »ich führe Sie herum.«
Nach der Besichtigung setzten sie sich an einen Tisch im Eßzimmer neben der Küche und berichteten sich gegenseitig die Einzelheiten der letzten paar Monate.
»Das Mädchen, das in England für Sie gearbeitet hat …«, begann John.
»Caroline.«
»Ja. Wie geht es ihr jetzt?«
»Viel besser. Tatsächlich hat sie kürzlich geheiratet.«
»Im Ernst? Wie nett!« Er hielt kurz inne. »Ich erinnere mich, daß Sie mir von diesem englischen Polizisten erzählt haben, der scharf auf sie war. Ist das der Glückliche?«
»Genau der. Er hat einen Posten als Lieutenant bei Biopol in Westmassachusetts.«
»Donnerwetter«, pfiff John durch die Zähne. »Beeindruckend. Aber was ich wissen wollte, wie ist ihr, eh …«
»Zustand«, sagte Janie mit einem Lächeln. »Es geht ständig aufwärts. Ihr Zeh ist ziemlich gut verheilt. Gelegentlich entzündet er sich noch – ich weiß nicht genau warum, und sie will deswegen zu keinem neuen Arzt gehen …«
»Verständlich.«
»Ja, denke ich auch. Aber sie macht sich recht gut. Sie war entschlossen, durch das Kirchenschiff zu marschieren, ohne zu hinken, und bei Gott, sie hat es geschafft! Natürlich hat sie es sehr angestrengt. Und ich bin nicht sicher, ob sich ihre Psyche jemals wieder ganz erholt. Zum Glück ist Michael enorm verständnisvoll.« Es entstand eine kurze Pause. »Für einen Biocop … sie war die letzte Person, die ich mit jemand so Offiziellem verkuppelt hätte. Aber allem Anschein nach lieben sie sich wirklich …«
»Na ja, das ist doch das einzige, was zählt, nicht? Selbst Cops können sich verlieben. Ich vergesse manchmal, daß in diesen Anzügen echte Menschen stecken. Bin trotzdem froh, daß wir in letzter Zeit nicht allzu viele von ihnen sehen.«
Eine Frage schoß Janie durch den Kopf, als John das sagte – Oder sehen wir mehr von ihnen? Manchmal kam es ihr so vor.
»Es war hart, was sie durchgemacht hat«, fuhr John fort. »Und Sie auch.«
»Genau! Ich glaube, in gewisser Weise sind wir beide noch immer damit beschäftigt.«
»Denken Sie daran, daß es schlimmer hätte kommen können. Viel schlimmer. He, was ist eigentlich mit diesem Mann, den Sie da drüben kennengelernt haben? Versuchen Sie immer noch, ihn rauszuholen?«
Sie senkte den Blick, als betrachte sie den Henkel ihres Kaffeebechers. »Ja, tue ich, aber es ist eine frustrierende Prozedur. Mein Anwalt wird dabei schrecklich reich.«
»Tom?«
»Hm.«
»Was sagt er über die Aussichten?«
»Er hält sie für wenig vielversprechend, leider – obwohl Bruce amerikanischer Staatsbürger ist. Zwar lebt er seit zwanzig Jahren in England, hat aber immer noch seinen amerikanischen Paß.«
»Wo liegt dann das Problem?«
»Das gesamte Alarmsystem lief Sturm, als sie seinen Paß gescannt haben.«
»Und bei Ihrem Paß ist das nicht passiert?«
»Nein, erstaunlicherweise nicht.«
»Das Glück der Langbeiner, schätze ich. Na ja, man weiß nie, vielleicht ändern sich die Verhältnisse, und er kann mal wieder einreisen.«
»Da klopfe ich auf Holz.«
John grinste. »Das müssen heutzutage viele Leute. Also, als Sie anriefen, haben Sie gesagt, Sie wollten mein Gehirn anzapfen.«
Janie setzte sich gerade hin; ihre Miene hellte sich auf. »Und Ihre Computer, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Das kostet eine Million Dollar Strafe, wenn ich mich an einem Computer vergreife.«
»Ich will ja nicht, daß Sie sich selbst daran vergreifen, John, ich meine, der Himmel verhüte, daß Sie sich etwas zuschulden kommen lassen … nur in Erfahrung bringen möchte ich, wohin ich mich wegen etwas wenden muß – das ist alles.«
»Was sollte ich über Zugangswege in einem Computer wissen, das Sie nicht wissen?«
»Ich muß herausfinden, welche Art Subventionsgeld da draußen herumgeistert. Sie scheinen unerschöpfliche Quellen zu haben, und ich bin seit einer Weile aus dem Geschäft … Sie sind doch eine Art Subventionskönig, nicht? Oder haben Sie den Biß verloren?«
»Ach, Spaß beiseite, Janie!«
»Nein, wirklich. Sie wissen immer, wie man an Geld kommt. Sie verfügen über einen gewissen Magnetismus.«
»Wozu brauchen Sie Geld?«
»Da wurde ein Kind an die Studie für Spinalregeneration verwiesen, die die Stiftung durchführt; aber mein Supervisor macht es mir schwer, den Jungen aufzunehmen. Und es könnte einen ähnlichen Fall in Boston geben, der mich auch interessiert. Die Stiftung hat dafür angeblich kein Geld.«
John warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Aber sicher hat sie das. Bei den Talenten! Wenn ihr eine kommerzielle Gesellschaft wärt, könnte man sich eure Aktien kaum leisten.« Er rührte in seinem Kaffee und klopfte mit dem Löffel an den Rand des Bechers. »Sie wollen es bloß nicht ausgeben. Ich hoffe, das überrascht Sie nicht.«
»Nein, im Grunde wohl nicht … natürlich bin ich enttäuscht, aber überrascht nicht!«
»Gut. Sonst müßte ich meine hohe Meinung von Ihnen ändern.«
»Übrigens gibt es noch einen Grund …«
Sie erklärte, was Tom zu ihrer Wiederzulassung meinte. »Je mehr ich über diesen Jungen erfahre, desto mehr denke ich, daß wir es da mit etwas Wichtigem zu tun haben.«
»Aber er hat sich Knochen gebrochen … das fällt nicht unter Neurologie«
»Seine Wirbelsäule ist schwer traumatisiert. Das ist neurologisch. Hören Sie, freilich ist es nicht Ihr Fachgebiet, also sehen Sie es vielleicht anders als ich. Aber glauben Sie mir, da liegt etwas Einmaliges vor. Vielleicht einmalig genug, um meine Wiederzulassung zu erreichen, wenn ich genügend herumstochere.«
»Liegt Ihnen so viel daran?«
»Ich hasse das, was ich jetzt tue. Es ist sinnlos. Ich fühle mich wie eine Art Milchmädchen, das Eimer mit Informationen von einem Ort zum anderen schleppt, damit meine Arbeitgeber es so aussehen lassen können, als seien ihre Medikamente wirksam.«
»Und – sind sie es?«
»Vielleicht. Ein paar durchaus! Und jetzt haben sie so viel Geld und so viele Leute in der Abteilung Erfolgsbilanz, daß sie die Sache einfach in Gang halten müssen. Sonst gehen die Investitionen, die sie schon getätigt haben, alle den Bach runter. Was ein weiterer Grund ist, warum Geld zur Verfügung gestellt werden sollte, um dieses Kind in die Studie aufzunehmen!«
»Man weiß nie, was hinter diesen Organisationen steckt. Sie haben einen Aufsichtsrat wie andere große Firmen auch. Denn im Grunde sind sie nämlich große Firmen; bloß behaupten sie, sie würden keinen Profit machen. Die Regierung läßt sie aus irgendeinem Grund damit durchkommen. Zuviel Politik, zuwenig Wissenschaft …«
»Scheußlich, dieser Tatbestand! Ich fühle mich fast wie eine – wie eine Hure. Aber es stimmt wohl. Ich meine, ich habe die Stelle bei der Stiftung angenommen, weil ich endlich wieder arbeiten wollte. Ich brauchte eine Ablenkung, um nicht an … andere Sachen denken zu müssen – aber auch, weil es so aussah, als hätten die ein Gewissen. Zumindest damals. Mittlerweile habe ich so meine Zweifel.«
John kicherte ironisch. »So ähnlich ging es mir, als ich hier anfing – und jetzt ertappe ich mich dabei, daß ich die ganze Zeit in die andere Richtung gucke. Der Elfenbeinturm – ich wollte nie einer von diesen Konzerntypen sein, die sich nur bis zum goldenen Handschlag durchwursteln. Aber ich bin einer. Der einzige Unterschied ist meine Dauerstellung. Was wollen Sie machen? So läuft es eben heutzutage auf der Welt.« Er zuckte mit den Schultern und lächelte wieder. »Wir können nur tun, was wir tun können, richtig?«
»Jawohl. Also können Sie sich für mich einige Subventionslisten ansehen.« Auch sie lächelte.
Vor allem am Abend, wenn er in England schlief und sie in Massachusetts wach und einsam war – wünschte Janie sich inbrünstig, Bruce hätte es nach Amerika geschafft. Im Vorjahr in London hatte sie nur wenige ruhige Stunden mit ihm verbracht. Außer ganz am Anfang hatte ihre gesamte Zusammenarbeit da drüben aus einer Schwierigkeit nach der anderen bestanden. Aber an den seltenen Treffen hatte sie ziemlich schnell Gefallen gefunden; und nun beschwor ihr Geist immer wieder dieses sichere und anziehende Bild von ihnen beiden herauf, wie sie gemütlich dahockten – ein Pärchen, das seit Jahren verheiratet ist und die beiderseitigen Schwächen kennt, ja verzeiht. In Wirklichkeit gab es eine Menge unbekanntes Gelände zwischen ihnen und noch viel zu klären.
Doch auch wenn Tom relativ sicher war, daß Janie im Zusammenhang mit dem »Problem« nicht weiter behelligt werden würde, bestanden die Gefahren für Bruce fort. Er lebte noch immer dort und wurde beschattet, obwohl keine Anklage gegen ihn erhoben worden war und in Zukunft sicher genausowenig – die britischen Biocops, die ihn im Auge behielten, hatten nichts Schwerwiegenderes gegen ihn gefunden, als ein Techtelmechtel mit einer Amerikanerin. Aber sie wußten von seiner Verwicklung in eine gewisse schwierige Angelegenheit, um sich für ihre eigene Ohnmacht zu rächen.
Janie ertappte sich dabei, daß sie in eigenartigem und ungewohntem Selbstmitleid versank, während sie zusah, wie die Sonne über ihrem geliebten Garten unterging. Schüttle es ab, mahnte sie sich. Zur Kapitulation bist du zu zäh. Und das stimmte – sie war findig und ließ sich nicht leicht unterkriegen. Nur schien ihr Selbsterhaltungstrieb in letzter Zeit nicht mehr ganz so kräftig, wenn sie ihn benötigte.
Allmählich glaubte sie, sie sei sogar ein bißchen depressiv. Kein Wunder – ich hasse meine Arbeit, und der Mann, den ich liebe, befindet sich auf der anderen Seite eines großen Ozeans. Sie holte tief Luft, um sich von der Verzagtheit zu befreien, und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Gegenstand auf ihrem Schoß zu. Obwohl es nicht darunter gelitten hatte, daß es den großen Teich in einem verschwitzten T-Shirt überquert hatte, war das Journal eindeutig uralt und sehr empfindlich. Wegen der Risse im Lederumschlag, als es in ihre Hände gelangt war, und der abgegriffenen Pergamentseiten vermutete Janie, daß es sich um ein Arbeitsbuch handelte, das regelmäßig benutzt worden war – vielleicht sogar täglich, und zwar von einer langen Reihe von Besitzern im Laufe seiner Geschichte. Jeder hatte in dem Journal unverkennbare Merkmale hinterlassen – Aufzeichnungen, Übersetzungen, hier einen Kratzer, dort einen Fleck, hin und wieder ein Eselsohr –, von dem Foto der letzten Besitzerin vor ihr selbst bis ganz zurück zu dem verblaßten, spinnwebartigen Gekritzel des Mannes, für den wohl dieses Buch ursprünglich gebunden worden war.
Ob es teuer gewesen sein mochte, fragte sie sich, als sein Vater es ihm vor mehr als sechshundert Jahren schenkte? Und welche Münze welchen Reiches hatte er benutzt, um es zu kaufen? Der stolze Erzeuger von Alejandro Canches war vermutlich zu einem Buchbinder gegangen, um es anfertigen zu lassen; damit sein Sohn, wenn er auszog, um zu lernen, die ständige Möglichkeit hatte, das Aufblühen seines Intellekts zu dokumentieren. Irgendwann während des Medizinstudiums des jungen Mannes in Montpellier wechselte die Sprache von Hebräisch zu Französisch. Diese späteren Eintragungen waren es, die Janie mühsam entziffert hatte, Wort für Wort, und zwar durch Korrespondenz mit einer Internet-Gruppe von Frankophilen, die sich genußvoll mit la langue française ancienne befaßten. Den Folianten selbst hatte sie niemals jemandem gezeigt.
Doch ganz gleich, wie oft sie die Seiten umblätterte und die Worte las, tauchten unentwegt neue Fragen auf. Jetzt, da sie Zeit und das Bedürfnis hatte, sich abzulenken, beschäftigte sie sich mehr und mehr damit. Es fing an, sie verrückt zu machen.
»Wieso bist du so plötzlich von dort verschwunden?« fragte sie laut.
Im Jahre 1358 war halb London gestorben.
»Oder bist du weggelaufen wie ich?« fragte sie den alten Arzt Alejandro erneut.
Aber wenn er weggelaufen war, wieso hatte er dann etwas von so großer Bedeutung zurückgelassen? Sie konnte ihn sich nicht als die Art Mann vorstellen, die eine derartige Kostbarkeit leichtfertig aufgab.
»Na ja, irgendwann bist du gestorben, also ruhe in Frieden!«
Der alte hölzerne Adirondack-Schaukelstuhl gab ein dünnes, aber rhythmisches Quietschen von sich, als sie mit dem offenen Buch vor sich langsam vor und zurück schaukelte. Ich habe Bruce zurückgelassen, und er war wichtig für mich.
Aber heute herrschen ganz andere Bedingungen als damals …
Oder?