KAPITEL 5

Das Geräusch der Hufe erreichte das Dickicht, wo Kate und Karle unruhig kauerten. Entsetzt lauschten sie, wie das Klapp-klapp-klapp immer lauter wurde. Es paßte so gar nicht zum lieblichen Gezwitscher der Vögel über ihnen.

Dann hallten die Hufe laut wie Donner und übertönten alles, nur nicht Alejandros unverkennbares Signal. Der Vogelschrei durchschnitt das Summen der Insekten und brachte die Singvögel für einen kurzen Moment zum Schweigen, bis sie alle aufflatterten und eine krächzende Kakophonie anstimmten, laut genug, um die arme Seele aufzuwecken, die erst heute morgen beerdigt worden war. »O Père …«, stöhnte Kate. Guillaume Karle packte sie bei der Hand und versuchte, sie wegzuziehen.

Sie wehrte sich, wollte sich seinem Griff entwinden, bis er schließlich gezwungen war, sie gewaltsam mitzuschleifen. Doch als das Schnauben und Wiehern der Pferde klang, als sei es nur noch wenige Schritte entfernt, erkannte sie, daß sie keine andere Wahl hatten, als wegzulaufen. Also folgte sie ihm, und in wilder Hast stolperten sie über alles mögliche Wurzelwerk vorwärts, nur weg von der Hütte. Sie mieden Lichtungen und Wege, kämpften sich durch das dornige Unterholz, bis ihre Kleider zerrissen waren und Blut aus Kratzern an ihren Armen und Fußgelenken floß. Bald waren sie so außer Atem, daß keiner von ihnen mehr sprechen konnte. Schließlich zupfte Kate heftig an Karles Ärmel, um ihn anzuhalten; sie konnte nicht weiter, bevor sie sich ausgeruht hatte, und sei es nur kurz. Ihr kräftiges Zerren überraschte Karle, und er blieb so abrupt stehen, daß sie gegen ihn prallte. Sie stolperten und lehnten keuchend ein paar Augenblicke aneinander, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann fielen sie auf die Knie, sich noch immer gegenseitig stützend, und saugten tief den warmen nach Fichtennadeln duftenden Waldbodengeruch ein.

Der Mann, der in einer Staubwolke von seinem Pferd sprang, würde König von Frankreich werden, wenn alles nach seinem Plan verlief, oder, wie er gern manchmal vor Grimm brüllte, »wenn meine Mutter bloß ein Mann gewesen wäre!«. Doch seine Mutter, die Tochter von Ludwig X., war in das Bergreich von Navarra abgeschoben worden, als dessen König sich Charles jetzt bezeichnen durfte – ein Reich, das viel zu unbedeutend und entlegen war, um seinen grandiosen Ehrgeiz zu befriedigen.

Er war ein kleingewachsener Mann, aber dennoch furchtlos, und immer umgab ihn eine Aura von Verderbtheit, als hege er irgendeinen unausgegorenen Vorsatz, der zu nichts Gutem führen konnte. Als er zum erstenmal hörte, daß man ihn Charles den Bösen nannte, hatte der junge König von Navarra angeblich gelächelt. Sollen sie mich doch für böse halten, hatte er entzückt gerufen, sollen sie mich doch fürchten! Das würde ihm nur helfen, seine Ziele zu erreichen. Wenn der übrige Adel ihn schwach und verwundbar glaubte, konnte er nichts ausrichten!

Der böse Eindringling stieß die Tür auf und schlenderte in die kleine Steinhütte, das Schwert gezogen und bereit. Seine Haltung war angemessen königlich. Er ließ den jungen Ritter, der ihn begleitete, natürlich nicht als ersten eintreten, um festzustellen, ob die Hütte leer war. Nach einem schnellen, abschätzenden Blick auf den Verwundeten am Tisch sah Charles von Navarra sich flüchtig im Rest des kleinen Raumes um und stocherte hier und da mit der Spitze seines Schwertes umher, bis er sich davon überzeugt hatte, daß sich sonst niemand in der Hütte befand.

Er trat an den Tisch und stand über dem erschrockenen Franzosen. Verächtlich schaute er auf ihn herab. »So, so, nun schaut Euch das an«, rief er über die Schulter seinem Gefährten zu. »Anscheinend hat Karle mir etwas zu tun hinterlassen. Und er hat die Arbeit bereits für mich begonnen. Ich sollte bestraft werden, weil ich ihn für kleinlich gehalten habe.« Mit der Spitze seines Schwertes stocherte er an dem nässenden Stumpf herum, und der Amputierte schrie vor Schmerz auf. »Obwohl ich zugebe, ein ganzer Bauer wäre mir lieber gewesen, damit man ihn foltern kann, bis er verrät, wohin Karle gegangen ist.«

»Schwein«, zischte der Verlorene herausfordernd.

Navarra stocherte erneut mit dem Schwert, und der Mann stieß vor Qual blubbernd die Luft aus. Der kleinwüchsige Edelmann beugte sich über den verwundeten Soldaten und schnupperte. »Ihr stinkt nach Angst, Monsieur Jacques! Ich glaube, sie steckt in Eurer Hose.« Er lächelte boshaft. »Mich braucht Ihr nicht zu fürchten. Ich bin ein Mann von großem Mitgefühl und Barmherzigkeit. Sagt mir, was Ihr wißt, und ich werde für Eure Bequemlichkeit sorgen.«

»Ich weiß nichts …« Es war nur noch ein Röcheln.

»Ach, kommt schon! Haltet Ihr mich für dumm? Selbst les Jacques ziehen nicht ohne Fluchtplan in die Schlacht. Oder war der Hurensohn Karle so arrogant wie der Rest seines picardischen Gesindels und hat gedacht, er brauche keinen solchen Plan?«

Alejandro konnte durch die strohbedeckte Diele das Schluchzen des Mannes hören. »Nichts …«

»Ha? Nichts?« hörte er Navarra schnarren. »Überhaupt nichts? Nun, dann verrate ich Euch etwas. Ihr werdet nicht mehr das Vergnügen haben, Euch selbst am Arsch zu kratzen!«

Das Schwert sauste durch die Luft, und dann barsten Knochen, als es den verbliebenen Arm des Mannes abtrennte. Die feine Metallklinge läutete wie eine Glocke, als sie auf das Holz des Tisches prallte. Alejandros Patient stieß ein langes, markerschütterndes Geheul aus und verstummte dann.

Charles von Navarra zog den Ärmel von dem abgeschlagenen Arm und benutzte ihn, um das Blut von seinem Schwert zu wischen. Dann stieß er die scharfe Waffe heftig in das Strohlager und fluchte gotteslästerlich. Alejandro, der die Worte in seinem unterirdischen Versteck gedämpft mitbekam, war sicher, daß die Chancen des Königs, in den christlichen Himmel aufgenommen zu werden, sich mit dieser einen Äußerung gewaltig verringerten.

Die Spitze des Schwertes steckte in der Planke. Alejandro suchte hektisch nach etwas, was er festhalten konnte, damit die Planke sich nicht hob, wenn Navarra sein Schwert herauszog. Staub rieselte durch die Ritzen der Planke und in seine Augen. Er kniff sie zu und tastete blind umher. Er fand ein Astloch und stieß den Daumen hinein. Dann zog er die Planke mit aller Kraft nach unten; gleich darauf riß der Edelmann an seinem Schwert. Glücklicherweise kam es frei, gerade rechtzeitig, bevor Alejandro wegen des Staubs ein Niesen unterdrücken mußte.

Über ihm suchte Navarra die Spitze seines Schwerts nach Schäden ab, und als er sich überzeugt hatte, daß sie unversehrt war, schob er die Klinge wieder in die verzierte Scheide, die an seinem Gürtel hing. Sein dunkles Gesicht trug den Ausdruck äußersten Abscheus. »Der Schurke ist wieder einmal davongekommen«, grollte er. »Und er wird nicht hierher zurückkehren, darauf habt Ihr mein Wort. Der Platz ist nicht mehr sicher für ihn. Und er wird auch in Meaux nicht mehr auftauchen, denn seine Leute sind in alle Winde zerstreut! Warum kann er nicht standhalten und kämpfen wie ein echter Ritter? Warum müssen sie immer feige davonlaufen und sich verstecken?«

»Sire, sie haben keine richtige Ausbildung und Gesinnung, auch kennen sie die ritterlichen Gepflogenheiten einer ordentlichen Schlacht nicht – obendrein sind sie schlecht ausgerüstet und voller Angst …«

»Und trotzdem können sie solchen Schaden anrichten, wie sie es geschafft haben! Ich schäme mich vor meinen Edelleuten für den geradezu unheimlichen Erfolg ihrer rebellischen Sorglosigkeit.«

»Sire«, protestierte der Ritter, »von welchem Erfolg sprecht Ihr? Die Jacques sind in Meaux vernichtend geschlagen worden! Sie können gewiß nicht mehr hoffen, genügend Leute zusammenzubringen, um sich erneut zu erheben …«

»Beinahe hätten sie das Schloß eingenommen, bevor wir sie ›vernichtend‹ schlugen, wenn Ihr das so nennen wollt! Sie hätten fast das Tor aufgebrochen, bevor wir sie in die Flucht schlugen! Und wären nicht unerwartet der Captal von Buch und Graf Phoebus erschienen, dann hätten sie das Tor passiert und sich mit dreihundert Damen und Kindern einen vergnügten Abend gemacht! Und ich wäre vor ganz Frankreich blamiert gewesen! Keiner der Edelleute hätte an meiner Seite ausgeharrt, wenn sie Geiseln genommen hätten.«

»Aber doch, mit Freuden, Sire …«

»Redet mir nicht von Freude, denn ich werde keine mehr kennen, bis ich Guillaume Karle tot sehe. Er wird zum König der Jacques ausgerufen werden, wenn ich ihn in die Hände bekomme, und dann auf der Stelle entthront – sein gekröntes Haupt soll mir vor die Füße fallen, und ich werde mit großem Vergnügen darauf herumtrampeln!«

Er schlug mit der behandschuhten Hand auf die Tischplatte, auf der der verstümmelte Mann lag und seinen Geist aushauchte. »Von dem hier werden wir wohl nichts mehr erfahren.«

Der Ritter sah in angespanntem Schweigen zu, wie sein König mit nervöser, explosiver Energie in der kleinen Hütte auf und ab trampelte. Navarra war so gereizt, daß es schmerzte, ihm zuzusehen. Er stieß leise und erleichtert den Atem aus, als der König endlich innehielt und stehenblieb.

Navarras Augen waren auf einem Gegenstand zur Ruhe gekommen, der nicht in diese Hütte zu passen schien – einem massiven, mit Messing eingefaßten Buch, das neben dem Herd lag. Er kniete davor nieder und öffnete den Deckel. Dann winkte er dem Ritter, er solle näher kommen.

»Was haltet Ihr davon?« fragte er argwöhnisch.

»Sire, was soll ich davon halten? Es ist irgendeine heidnische Schrift. Ich kenne mich mit diesem Gekritzel nicht aus.«

Charles von Navarra blätterte eine Seite um. »Ich habe solche Schriften schon gesehen. Das ist die Hand eines Juden.«

Der junge Ritter schien verwirrt. »Kann es denn in der Gegend noch welche geben?«

»Keine, von denen ich wüßte«, antwortete Navarra. »Aber Karle hat es anscheinend geschafft, einen zu finden. Und er ist zu ihm gekommen, um Trost zu suchen. So eine Verbindung paßt zu dem Mann, der er geworden ist – ein Liebhaber von Ackerbauern, Bettlern und Wäscherinnen. Nicht mehr als angemessen, daß er jetzt auch die Juden liebt!«

Doch das Buch lieferte keine Antwort auf die Frage, wohin seine Beute geflohen war; also ließ Charles von Navarra es achtlos liegen. Nachdem er gegen den abgetrennten Arm getreten und auf den sterbenden Soldaten gespuckt hatte, stampfte er endlich aus der Hütte und ging zu seinem Pferd. Mit einem eleganten Schwung saß er auf, ergriff die Zügel und galoppierte davon.

Der junge Ritter sah ihm bestürzt nach, denn er wußte, Charles’ militärische Berater würden ihn züchtigen, weil er diesen eigenmächtigen Ausritt gestattet hatte. Und die Edelleute, die sich mit Charles verbündet hatten, würden ihm verübeln, daß er es ihrem Anführer ermöglichte, Karles vermutetes Versteck ohne Schutz aufzusuchen. Er eilte aus der Hütte, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und schwang sich auf sein eigenes Roß. In langsamem Trott folgte er seinem Herrn und ließ dem König von Navarra seinen Vorsprung, damit der Staub von dessen raschem Ritt sich vor ihm legte. Sollten die anderen doch ihn zuerst verunglimpfen, wenn sie wollten – er war einfach nicht Manns genug, um den gebieterischen Charles von seinen frechen Husarenstückchen abzuhalten. Sie würden seine Festung für den Geschmack des Ritters ohnehin viel zu bald erreichen, selbst wenn sie im Schneckentempo dahinschlichen.

Erst als eine ganze Zeit lang Stille geherrscht hatte, wagte Alejandro die Planke über seinem dunklen Erdkeller anzuheben, und als er endlich wieder ans Tageslicht kam, sah er schnell, daß es zu spät war, um noch irgend etwas für den armen Verstümmelten zu tun. Was jetzt von der bedauernswerten Seele übrig war, glich eher einem Baumstamm als einem Menschen. Der Arm, den Charles von Navarra ihm abgeschlagen hatte, lag staubbedeckt unter dem Tisch und begann, die Fliegen anzuziehen. Der armlose Soldat lag sterbend da, aber irgendwie atmete er noch immer.

Wir klammern uns, wenn alle Hoffnung verloren ist, an das Trugbild von ihr, sinnierte Alejandro traurig. Welche Schrecken hat er vor Augen? fragte er sich, während er bei dem vom Schicksal Geschlagenen stand, der vielleicht einmal große Tapferkeit bewiesen hatte – einem Mann, dem es gelungen war, das zu überleben, was der Franzose Karle vor wenigen Stunden als äußerst blutige Schlacht beschrieb.

Möge es Gott gefallen, daß ich solch einen Schrecken niemals kennenlerne! Wieder einmal stellte er seinen hippokratischen Eid hintan und zog das Messer, das er immer in seinem Stiefel trug – das gute Messer von seinem Vater aus Spanien damals. »Ich empfehle Euch Eurem Herrn der Gnade«, flüsterte er dem Sterbenden zu, dann stieß er ihm rasch das Messer ins Herz. Er hauchte sein Leben aus, noch bevor Alejandro das Messer reinigen und wieder in den Stiefel stecken konnte.

»Und nun auf nach Paris«, sagte er laut – der Klang seiner Stimme überraschte ihn. Wenn Gott gut und Guillaume Karle ein Mann war, der sein Wort hielt, dann würde er Kate dort finden, an dem Ort, den sie so oft aufgesucht hatten, als sie ein Kind und noch begierig gewesen war, alles von ihm zu lernen, das er ihr beibringen konnte. Er zerrte die Satteltasche aus dem Erdloch und legte sie vor sich auf den Boden. Sie enthielt sein Vermögen – das Gold seiner Familie, das Gold des Papstes, das Gold von König Edward, auf einem Jahrzehnt der Flucht kaum angerührt. Genug Gold, um die Straßen von Paris mit zarten, feingewebten Damengewändern zu bedecken – wenn solche denn zu finden waren. Die wenige Nahrung, die er hatte, steckte er in die Tasche und erhob sich dann zum Aufbruch. Als er einen letzten Blick in die Runde warf, sah er das schwere Manuskript, das noch neben dem Herd lag.

Er würde nicht wieder ein Buch zurücklassen, wie er es getan hatte, als er aus England floh. Geheimnisse, wie dieses Buch sie enthielt, durften nicht in falsche Hände geraten.

Karle war überrascht, aber nicht unglücklich, als Kate ihm als Ort des Wiedersehens Paris nannte.

»Aber warum dort?« fragte er. »Ich nehme an, daß Ihr und Euer père ebenso auf der Flucht seid wie ich. Mir erscheint Paris als Treffpunkt gefährlich.«

»Das stimmt«, räumte sie ein. »Aber in diesen Zeiten konnten wir nie sicher sein, daß irgendein anderer Ort noch existieren würde. Wie viele verbrannte Dörfer und verwüstete Burgen habt Ihr auf dem Lande gesehen? Zahllose. Könnte dasselbe mit Paris passieren? Niemals. Paris wird immer bestehen. Und ich werde immer fähig sein, mich dort zurechtzufinden. Alle Wege führen nach Paris, sagt Père.«

»Alle Wege führen nach Rom, zumindest sagt das die Legende.«

»Ach, das war vor Hunderten von Jahren. Als Rom noch seinen Ruhm besaß. Heutzutage ist Paris der Mittelpunkt der Welt. Zumindest behaupten das diejenigen, die auf diese Stadt schwören. Und ich kenne einige Teile der Metropole sehr gut.«

»Wie kommt es, daß Ihr mit Paris so vertraut seid?« fragt Guillaume Karle.

»Wir haben dort viel Zeit verbracht, als ich ein Mädchen war.«

»Mir war nicht bewußt, daß Ihr kein Mädchen mehr seid«, wies er sie zurecht. »Außerdem fürchte ich, Ihr werdet Paris seit Eurem letzten Besuch dort sehr verändert finden.«

»Ich bin siebzehn«, sagte sie mit erhobenem Kinn, »und die Herrin von Pères Haushalt.«

»Hmmm!« Karle blies durch die Nase. »Soweit im Augenblick von einem Haushalt die Rede sein kann.«

Vorwurfsvoll drohte sie ihm mit dem Finger. »Unser Haushalt war gut genug, um Euch und Euren Männern ein Dach überm Kopf zu bieten. Und jetzt werden wir, falls ich Père finde, dank Eures ungebetenen Besuchs gezwungen sein, ein neues Heim zu finden.«

Angemessen zerknirscht gab Karle keine Antwort. Sie rasteten an einem Bach, während ihre Pferde tranken – Pferde, die Karle aus dem Stall eines örtlichen Gutsherrn befreit hatte, während Kate, die bei diesem Diebstahl unfreiwillig als Komplizin dienen mußte, draußen Wache stand. Während der Tat war er sehr nervös gewesen – denn er fragte sich unwillkürlich, was sie wohl getan hätte, wenn sie ertappt worden wären – wie sie sich gegen einen empörten Stallknecht gewehrt hätte. Hätte sie ihn mit ihren weißen Händen, ihren feingliedrigen Fingern erwürgt? Oder ihn mit ihrem zarten Fuß in seine Männlichkeit getreten?

Unwahrscheinlich, dachte er. Bestenfalls hätte sie einen Warnschrei ausgestoßen. Aber sie waren noch einmal davongekommen, und jetzt hielt Karle ein wachsames Auge auf die unrechtmäßig erworbenen Tiere, denn sie waren ihm nicht vertraut und daher schwer einschätzbar. Geduldig wartete er, bis die Pferde ihren Durst gestillt hatten, und band sie an einen Baum, bevor er sich selbst erfrischte.

Dann tauchte er die hohlen Hände in das Wasser des schnell fließenden Baches und wollte die Flüssigkeit an seinen Mund führen; doch Kate legte ihm eine Hand auf den Arm und hinderte ihn daran. »Wascht Euch nur. Bevor wir es trinken, müssen wir das Wasser durch ein Tuch seihen.«

Er ließ das kühle Naß durch seine Finger rinnen. »Was ist das für ein Unsinn?«

»Überhaupt kein Unsinn, sondern Weisheit.«

»Merkwürdige Weisheit«, maulte er. »Und hierzulande nicht Brauch«, fügte er argwöhnisch hinzu.

»Es gibt winzige Tiere, die in allen Gewässern leben«, erklärte Kate ihm. »Père sagt das. Er sagt, viele Menschen mit kranken Bäuchen hätten diese Beschwerden, weil sie nicht auf das Wasser achten, das sie trinken.«

Karle warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Und – hat er diese Tiere gesehen oder nur davon geträumt?«

»Er weiß, daß sie da sind.«

»Woher hat er dieses Wissen?«

»Père studiert alles, was er sieht. Manche Dinge, die er sich nur vorstellen kann, studiert er, indem er gründlich über sie nachdenkt. Er ist ein sehr gelehrter Mann, wie er Euch andeutete, hat einem Papst gedient, bei den berühmtesten Professoren studiert und sich um die Gesundheit von … eh … vielen wichtigen Menschen gekümmert.« Bei den letzten paar Worten geriet sie ins Stocken und wandte kurz den Blick ab, um sich zu fassen.

Aber wenn ihre Bemerkungen Karle neugierig gemacht hatten, gab er sich Mühe, es nicht zu zeigen, und als sie ihre Haltung zurückgewonnen hatte, zeigte sie ihm ein Quadrat aus feingewebter Seide.

»Jeder von uns hat so etwas bei sich, um das zu reinigen, was wir trinken. Wenn es uns möglich ist, erhitzen wir das Wasser sogar.«

»Um Gottes willen, wozu denn? Das nimmt dem Wasser doch seine Lebenskraft.«

Ihre Lippen produzierten ein schmales Lächeln. »Kennt Ihr ein Tier, groß oder klein, das es überlebt, gekocht zu werden?«

»Hmm«, brummte er. »Nein.«

Allmählich plagte ihn seine Neugier ohne Unterlaß; er hatte eine Menge unausgesprochener Fragen. Das waren ziemlich kühne Behauptungen – einem Papst zu dienen, von unsichtbaren kleinen Tieren im Wasser zu wissen … Der père dieser Kate schien kein gewöhnlicher Mann zu sein. Aber er beschloß, seine Fragen zurückzustellen, bis sie ihm mehr vertraute; denn gewiß würde sie eher die Wahrheit sagen, sobald er ihr Vertrauen gewonnen hatte. Er überlegte, wie er diesen Vorgang beschleunigen könnte. Zeige Interesse, dachte er plötzlich. Dem können Frauen – Mädchen – nicht widerstehen, und es löst ihnen die Zunge. Seine Schlauheit erfreute ihn sehr. »Und hat Euch das von Euren Darmbeschwerden geheilt?«

»Das kann ich nicht sagen«, meinte sie wegwerfend, »denn ich habe keine.«

Karle sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er kannte fast niemanden, der nicht gelegentlich Anfälle von Dysenterie oder Diarrhöe hatte, vor allem in diesen Kriegszeiten, in denen Flüsse und Bäche oft rot von Blut und alle Brunnen verdächtig waren. »Und Ihr seiht all Euer Wasser durch dieses – Tuch?«

»Jawohl!« Sie reichte es ihm. »Seht nur, wie fein es gewebt ist;

Père sagt, daß es vom Ende der Welt kommt, aus einem Land, das Nippon heißt, wo es so gewöhnlich ist wie unsere gröbste Wolle. Hier kostet es hingegen sehr viel, und ich möchte es ungern verlieren. All die unreinen Tiere fangen sich in seinem Gewebe. Ich koche das Tuch selbst aus, so oft ich Gelegenheit dazu habe.«

»Bemerkenswert«, staunte Karle. Er brauchte kein Interesse an ihrem Geplauder zu heucheln – es war abenteuerlich genug, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er gab ihr das Tüchlein zurück.

»Ich habe nie zuvor so ein Wunder gesehen.«

»Père weiß viele Dinge, die sonst niemand weiß«, pries sie ihn.

»Er scheint in der Tat ein ungewöhnlicher Mann zu sein.«

Kate seufzte und wischte sich ein Auge. »Mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt. Er ist ein wahrhaft großer Heiler.« Sie sah Karle direkt in die Augen und forderte ihn mit einer Geschichte heraus, von der sie wußte, daß er sie zögernd akzeptieren würde. »Er hat mich von der Pest gerettet, als ich sieben war. Und dann hat er sich selbst gesund gemacht, als er krank wurde.«

Das war in der Tat eine Offenbarung. Karle starrte sie fassungslos an und flüsterte: »Ihr habt die Pest überlebt?«

Sie legte das Seidentuch in ihren Schoß und nahm langsam ihr Umschlagtuch ab. Sie zeigte seinen begierigen Augen ihren langen weißen Hals und wies auf eine Reihe kleiner Narben, um die herum die Haut etwas blasser war, unverkennbar Narben von Pestbeulen.

Ihr père hatte auch eine Narbe auf der Brust, die indessen anders aussah – ich habe sie bemerkt, als er sich wusch, dachte Karle.

»Aber – wie?« stotterte er.

»Er hat mir eine faulig schmeckende Medizin eingeflößt und bei mir gewacht – nach zwei Wochen war ich geheilt.«

Diese Behauptungen überstiegen seine Fassungskräfte. Doch sie trug die Narben; soviel stand fest. Zögernd streckte er die Hand nach ihrem Hals aus und fragte sich, ob sie ihm gestatten würde, die Haut zu berühren, doch sie wehrte seine Hand nicht ab. Er spürte mit seinen eigenen Fingerspitzen die Verhärtungen. »Verzeiht mir diese Vertraulichkeit«, sagte er, als er die Hand wieder zurückzog, »aber ich tue mich schwer mit Eurer Geschichte. Noch nie habe ich von jemandem gehört, der die Beulen bekam, überlebte und davon erzählen konnte. Natürlich haben einige die Pest überlebt, aber nicht, wenn die Beulen mal erschienen waren.«

»Das ist selten, ich weiß«, gab sie zu, »und in manchen Fällen, sagt Père, ist es einfach Gottes Wille, daß der Leidende am Leben bleibt. Manche scheinen eine innere Kraft gegen die Pest zu haben. Ihr Körper kämpft dagegen an, als würde er ein unsichtbares Schwert schwingen. Warum das so ist, weiß er nicht.«

»Er kann nicht alles wissen.«

»Ihr solltet ihn nicht unterschätzen! Ich war so krank, daß ich nicht mehr zu denen gehörte, die überleben. Meine Krankheit war schwer, sehr schwer.« Nachdenklich wandte sie für einen Moment den Blick ab und sah ihn dann wieder an. »Das meiste habe ich vergessen, aber Père war beständig an meiner Seite, genau wie …« Sie verstummte, hielt einen Moment die Luft an und stieß sie dann wieder aus. »Bei mir war es die Medizin, die gewirkt hat. Wißt Ihr, er hatte von einem Heilmittel erfahren.«

Die große Überzeugung in ihrer Stimme verlieh diesem Märchen, das sie da erzählte, eine merkwürdige Glaubwürdigkeit. Und obwohl er sicher war, daß Kate unter der Trennung von ihrem angeblichen Vater litt, hielt er sie nicht für verrückt. »Ihr scheint nicht unter den typischen Schwächen des weiblichen Geschlechts zu leiden, die zu Wahnvorstellungen führen«, bemerkte er. »Ich nehme an, daß Ihr das, was Ihr mir da auftischt, für wahr haltet.«

Sie warf ihm einen aufsässigen, aber auch etwas müden Blick zu.

»Was hätte ich zu gewinnen, indem ich Euch Lügen serviere?« fragte sie.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Karle. Aber so eine phantastische Geschichte! Sehr gern hätte er weitere Fragen gestellt, verzichtete jedoch widerstrebend darauf. Ich darf sie nicht erschrecken oder mit Fragen bestürmen, bis sie verstummt, warnte er sich selbst, denn es sieht so aus, als könnte man viel von ihr lernen. Einen Augenblick lang gab er sich damit zufrieden, sie nur anzusehen, diese Mädchenfrau mit der cremigen Haut, dem goldenen Haar und den unglaublichen Rundungen, in deren Gesellschaft er plötzlich geraten war. Er ertappte sich bei dem Gedanken: Solche Wunderwerke bringt die Natur selten hervor. Er wandte den Blick von ihr ab und sah wieder nach den Pferden.

»Ich bin schrecklich hungrig«, eröffnete sie ihm nun. »Jetzt, da wir endlich rasten, schreit mein Magen danach, gefüllt zu werden. Habt Ihr irgend etwas zu essen?«

»Keinen Bissen«, gestand er. Sie hatten einen Obstgarten durchquert, aber es empfahl sich nicht, Rast zu machen, bevor sie vor Verfolgung sicher waren. Mit großem Bedauern hatten sie die Früchte zurückgelassen.

»Habt Ihr eine Waffe bei Euch, mit der man jagen könnte?« fragte sie.

»Nur mein Schwert.«

»Dann werden wir uns damit begnügen müssen.« Sie hob ihren Rock und zog ein Messer aus ihrem Strumpf. Es war klein und schmal, aber die Klinge glänzte hell, und Karle hielt es für sehr scharf.

»Ihr seid voller Überraschungen, Jungfer«, stellte Karle fest.

»Père hat mir immer eingehämmert, bereit zu sein, von einem Augenblick zum nächsten aufzubrechen. Er sagt, ich müsse stets mit dem Unerwarteten rechnen.«

»Strömt aus dem Mund dieses Mannes denn nichts als Weisheit? Sagt er nicht einmal etwas Törichtes? Niemals?«

Sie kicherte leise. »Er ist ein Mann, der nicht viele Worte macht. Die meisten sind Perlen. Aber laßt uns jetzt nicht davon sprechen. Ich werde häuten, was Ihr fangt«, wechselte sie das Thema. Dann nahm sie ein kleines Glasstück aus ihrer Rocktasche, um Feuer zu entzünden, wie sie sagte, »und auch zum Braten«.

»Ich fürchte, fürs Jagen mangelt es mir an Übung«, bekannte er.

»Dieses Schwert hat sich in letzter Zeit häufiger gegen Menschen als gegen Tiere erhoben.«

»Und bevor Ihr ein Schwert trugt, seid Ihr da nicht mit einem Bogen umgegangen?«

»Nicht mehr seit meiner Knabenzeit«, gestand er unglücklich.

»Ich wurde zu einem Buchhalter in die Lehre gegeben, der im Dienste eines Edelmannes aus der Picardie stand. Bevor ich mich diesem Aufstand anschloß, habe ich mehr mit Zahlen als in den Wäldern zu tun gehabt. Ich mußte viel lernen, weil ich, wie mein Meister sagte, einen klugen Kopf habe. Sogar einige französische und lateinische Buchstaben kenne ich und bin sehr geschickt darin, die Bücher zu führen.«

»Zweifellos hat Eure Bescheidenheit dazu beigetragen, Euren Meister von Eurem Wert zu überzeugen«, sagte Kate trocken.

»Ich habe die Arbeit so gut ausgeführt wie nur möglich.«

»Daran zweifle ich nicht«, pflichtete Kate ihm bei, »und sicher billiger. Sehr zum Nutzen Eures Meisters.«

»In der Tat!« Karle nickte. »Es sind immer die Herren und Damen, die von den Mühen ihrer Untertanen profitieren. Ich habe meinen Lohn gespart, bin zum Meister gegangen und versuchte mehrmals, mich von der restlichen Dienstbarkeit freizukaufen. Glücklicherweise war ich nicht verheiratet und gezwungen, eine Frau und Kinder zu erhalten. Aber trotzdem wollte ich vorankommen. Als Vorbereitung auf eine Zeit, in der ich vielleicht eine eigene Familie haben würde. Aber er hat mir meine Freiheit immer verweigert.«

Kate hörte die große Bitterkeit, das Bedauern in seiner Stimme und hatte Mitgefühl mit seiner traurigen Situation. »Mir scheint, mit dieser Weigerung hat er Euch mißbraucht«, sagte sie sanft.

»Aber in diesem Augenblick müssen wir für etwas Nahrung sorgen. Wenn Ihr vergessen habt, wie das geht, rückt heraus mit der Sprache.«

Sein Schweigen war beredter als alle Worte, die er hätte äußern können. Resigniert erhob sich Kate von ihrer Rast, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. »Ich werde eine Falle bauen, und wenn Gott über uns wacht, fangen wir ein Kaninchen. Knusprig gebraten mag ich sie am liebsten. Es gefällt mir nicht, wenn ich noch Junge darin finde, aber die brauchen wir ja nicht zu essen. Obwohl wir sie, da wir hungrig genug sind, sicher recht schmackhaft finden …«

Als sie ins Gebüsch schlüpfte, war er froh, daß sie aufhörte, über den Wohlgeschmack von ungeborenen Kaninchen zu sprechen; aber er behielt sie im Auge, als sie sich ans Werk machte. Er hörte das Rascheln, mit dem sie kleine Zweige schnitt, und beobachtete neugierig, wie sie sie mühelos zu einer eimerförmigen Falle flocht. Dann scheuchte sie ihn mit einer Geste davon. Demütig verzog er sich ins Gebüsch, wo er sie nicht mehr sehen konnte. Nach ein paar Augenblicken hörte er sie umhertrampeln und fürchterliche Geräusche von sich geben. Bald darauf hoppelte ein fettes Karnickel aus dem Unterholz, direkt in ihre geflochtene Falle. Blitzschnell hatte sie es gepackt und ihm die Kehle durchgeschnitten.

»Ein Männchen«, sagte sie, nachdem sie seinen Unterleib gemustert hatte. »Schade! Nun ja, es wird trotzdem unsere Bäuche füllen.«

Karle sah mit weit aufgerissenen Augen staunend zu, wie das goldhaarige, bildschöne Mädchen, die junge Frau, die er beschützen sollte, ein Feuer anzündete und die Nahrung zubereitete, die sie ganz allein erbeutet hatte. Sie hatte das unglückliche Tier gehäutet, ausgenommen und auf einen spitzen, grünen Ast gespießt, ehe Karle auch nur das Wasser im Munde zusammenlaufen konnte.

»Das Fell ist so weich«, sagte sie und strich sich mit dem noch warmen Pelz über die Wange, während sein früherer Träger über der Flamme brutzelte. »Ein Jammer, daß man es nicht für Handschuhe aufbewahren kann. Aber wo sollten wir es lassen? Wir sind ja ständig unterwegs.« Sie wickelte die Pfoten und die Eingeweide in das Fell und warf es weit auf die andre Seite des Baches. »Monsieur Fuchs wird sich daran erfreuen, wenn wir von hier verschwunden sind«, prophezeite sie.

Bald füllte der berauschende Duft von gebratenem Fleisch die Luft, und Karle äußerte seine Besorgnis, er könne unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie lenken. »Wir sollten dieses Festmahl mitnehmen und anderswo verzehren«, schlug er vor. »Der Geruch ist so stark, daß er Leute anlocken könnte.«

Sie nickte und stach mit dem Messer in das Fleisch. »Es scheint gar zu sein.« Geübt zog sie den Spieß vom Feuer. Das Fleisch zischte noch, als sie mit dem Braten in der Hand auf ihr Pferd stieg.

»Fürchten wir uns vor Bären oder vor Edelleuten?« erkundigte sie sich.

»Beide wären gleichermaßen unwillkommen«, antwortete er.

»Und um die Wahrheit zu sagen, Jungfer, ich würde das Kaninchen auch roh essen, wenn es nicht gebraten wäre.«

»Père sagt, Fleisch müsse immer gründlich gegart werden, weil …«

»In den Tieren winzige andere Tiere leben?« fragte er scherzhaft.

»Olala«, antwortete sie ganz ernst. »Woher wißt Ihr das? Vor allem in den kleinen, behaarten Tieren. Ratten zu essen ist mir völlig verboten. Er sagt, eher solle ich am Hungertuch nagen. Seht Ihr, indem wir das größere Tier essen, riskieren wir, auch die kleineren zu verzehren …«

Er unterbrach sie erneut. »Größere Tiere werden immer kleinere Tiere fressen … ganz gleich, welche Gifte sie enthalten. Und selten leisten sie sich den Luxus, sie vorher zu kochen. Das ist der Wille Gottes. Keiner braucht besonders gelehrt zu sein, um das zu wissen.« Anschließend ritt er voran, um eine abgeschiedenere Stelle zu finden, wo sie das zarte Fleisch des Kaninchens genießen konnten, und er war sicher, Gott wollte, daß sie das taten, winzige Tiere hin oder her.

»Ganz gewiß«, quetschte Karle mit vollem Mund heraus, während ihm der Saft des Fleischs übers Kinn rann, »ist das hier das, was Gott ißt. Deswegen ist Er Gott. Weil Er so köstliche Nahrung verzehrt.«

Kate warf einen abgenagten Knochen weg und leckte sich das Fett von den Fingern. »Welcher Gott auch immer die kleinen Dinge beherrscht – schön wäre es, er hätte die Kaninchen etwas größer gemacht. Ich könnte noch eines vertragen.«

»Oder zwei«, stimmte Karle zu.

»Und jetzt muß ich mich um ein paar Frauenangelegenheiten kümmern«, sagte sie und stand auf.

Was meinte sie damit? Was für Frauenangelegenheiten? »Wohin geht Ihr?«

»Zu dem Teich hier in der Nähe!« Sie zeigte nach Westen.

»Ist da ein Teich? Woher wißt Ihr das?«

Sie lachte. »Die Enten. Hört Ihr sie nicht? Vielleicht fangen wir mit etwas Glück eine, die wir dann auch noch braten.«

Er lauschte einen Moment und vernahm nun auch das leise Schnattern. Natürlich hatte er es im Hintergrund wahrgenommen; aber in seiner Gier hatte er nicht daran gedacht, was es natürlich bedeutete, daß nämlich in der Nähe Wasser sein mußte. Der Knochen, den er abgenagt hatte, flog beiseite, und er stand auf. »Ich werde mit Euch gehen.«

Sie errötete ein wenig und sagte: »Ich wünsche mir ein wenig Zurückgezogenheit, mein Herr.«

Karle war aus der Fassung gebracht. »Aber ich soll über Euch wachen. Das habe ich Eurem père versprochen.«

»Ich werde heil und gesund zurückkommen, das versichere ich Euch. Ich möchte mich nur säubern. In züchtiger Abgeschiedenheit.«

»Laßt mich in Eurer Nähe bleiben. Ich werde Euch den Rücken zudrehen.«

Sie warf ihm einen sehr mißbilligenden Blick zu. »Wie Ihr wünscht«, knurrte sie, »aber achtet meine Bitte! Eine Frau braucht hin und wieder ihren Frieden.«

Er wollte sagen: Aber Ihr seid doch noch ein Mädchen. Sie hatte sich allerdings schon umgewandt und ging in die Richtung, in die sie gezeigt hatte; als er ihr mit den Blicken folgte, entdeckte er, daß sie sich durchaus nicht wie ein kleines Mädchen bewegte. Bevor der Abstand zwischen ihnen zu groß wurde, band er die Pferde los und ging mit ihnen durch das hohe Gras hinter Kate her.

Durch dichtes Gebüsch erreichten sie das Ufer eines kleinen Teichs, und im verblassenden Licht konnte er sehen, daß Dunst aus dem stillen Wasser aufstieg. Es war ein schöner Anblick, und Kate stieß einen leisen Seufzer aus, während sie umherschaute. »Père sagt, daß Luft die Wärme schneller verliert als Wasser, und er sagt, daß die Luft die Wärme will und aus dem Wasser zieht. Deswegen genießt er es, um diese Tageszeit zu baden. Genau wie ich.«

»Ihr wollt baden?« sagte er überrascht. »Ihr habt nur gesagt, daß Ihr Euch säubern möchtet.«

»Wie kann man das besser tun als durch ein Bad?«

Er schien überaus verwirrt. »Aber wird das nicht Eurer Gesundheit schaden?«

»Ich versichere Euch«, antwortete sie und erwiderte seinen starrenden Blick, »daß es mich höchstens gesünder macht. Und nun – Ihr habt mir Abgeschiedenheit versprochen, oder ist das schon wieder vergessen?«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, und bald hörte er das Rascheln von Stoff, als sie ihren schmutzigen Rock und ihr Hemd auszog. Dann kam das leise Plätschern ihrer Füße, als sie ins Wasser stieg. Bald darauf hörte er Schwimmgeräusche, und er dachte: Jetzt ist sie ganz untergetaucht, und ich kann wieder hinschauen. Gerade, als er den Kopf wenden wollte, flog etwas Großes, Graues, Nasses vorbei; er duckte sich, und das wirbelnde Ding verfehlte ihn knapp. Mit einem Platschen landete der flache, runde Fisch zappelnd im Gras.

»Frühstück«, sagte sie mit aufreizendem Lachen und ihrem eigenartigen englischen Akzent. »Sorgt dafür, daß Monsieur le Poisson nicht wieder ins Wasser springt, während ich bade. Sonst müßt Ihr Euer petit déjeuner selbst fangen.«

Kates Haar, aus dem sie die Nässe gewrungen hatte, trocknete jetzt in der Wärme des bescheidenen Feuers, das sie entzündet hatten. Sie befanden sich auf einer kleinen Lichtung, die ringsum von sehr hohen Bäumen umgeben war, so daß der Rauch ihres Feuers sich zwischen den Ästen auflösen würde, ehe er von einer Burg aus bemerkt wurde. Sie war nur in ihr Umschlagtuch gewickelt. Ihre anderen Kleider hingen an einem nahen Zweig und trockneten nach der hastigen, aber dringend erforderlichen Wäsche im Wasser des Teichs. »Gebe Gott, daß wir in der Nacht nicht gestört werden, sonst werde ich nur mein Haar und mein Umschlagtuch haben, um mich beim Reiten zu bedecken.«

Karle stellte sich die Szene im stillen mit einem gewissen Vergnügen vor und heuchelte: »Gott bewahre!«

Nicht weit vom Teich entfernt waren sie auf einen einsamen Apfelbaum gestoßen und hatten so viele Früchte gepflückt, wie sie in ihre nassen Kleider häufen konnten. Als sie sich an ihrer Schlafstelle niederließen, waren ihre Hände und Gesichter klebrig vom Saft der sauren Früchte und ihre Bäuche aufgebläht. Kate schnitt mit ihrem Messer einen Apfel in zwei Hälften und höhlte geschickt die Mitte aus, so daß sie zwei kleine Tassen hatten, aus denen sie trinken konnten. Aus dem gefüllten Seidentuch tropfte Wasser in eine der Tassen, und als sie voll war, gab Kate sie Karle, der durstig trank.

»Père hat gesagt, daß ich nie an frischem Wasser vorbeigehen darf, ohne zu trinken. Obwohl mein Magen so voller Äpfel ist, daß ich für Wasser kaum mehr Platz habe.«

Karle sagte einen Augenblick lang nichts. Er stellte seine Apfeltasse wieder unter das tropfende Seidentuch; dann sah er Kate direkt in die Augen und sagte entschlossen: »Er ist nicht euer père, kann es nicht sein. Blutsverwandte sind nicht so verschieden wie Ihr und er.«

Verlegen wand sie sich und zog das große Tuch enger um sich. Sie drehte sich um, wich auf einmal seinem Blick aus. »Wie könnt Ihr das sagen?« fragte sie. »Ihr wißt nichts von uns.«

»Wo ist Eure mere?« hakte er nach.

Die Frage schien sie zu überrumpeln, doch nach kurzem Zögern gab sie Antwort. »Sie ist gestorben.«

»Wie?«

Als sie antwortete, klang ihre Stimme gepreßt und trocken. »An der Pest …«

An ihrem distanzierten, verletzten Gesichtsausdruck erkannte Karle, daß sie die Wahrheit sagte. Doch er zweifelte auch nicht daran, daß dieser père tatsächlich sie und sich selbst von der Pest geheilt hatte. Warum dann nicht die Mutter?

Als habe sie seine Gedanken erraten, sagte sie: »Das war, bevor er die Heilmethode richtig anzuwenden verstand. Aber sie lebte noch zwei Wochen, bevor sie dahinging«, fügte sie rasch hinzu.

»Zwei ganze Wochen!«

Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, daß eine liebevoll gehegte Erinnerung ihre Miene erleuchtete; doch rasch schwand die Wärme wieder aus ihrem Gesicht. Sie war seiner ursprünglichen Frage ausgewichen, deshalb begann er von neuem: »Ich behaupte noch einmal, daß er nicht Euer père ist.«

Über den Schein des Feuers hinweg sah sie ihn an. Ihr Gesicht in dem unheimlichen orangefarbenen Licht drückte etwas wie Haß aus. Er war überrascht, wie sehr ihn das traf. Verzweifelt versuchte er, hinter die Maske zu schauen, die sie trug, aber sie wollte es nicht zulassen. Endlich, als er das leere Schweigen nicht länger ertrug, füllte er es mit törichten Folgerungen. »In Eurem hellen Körper fließt kein Tropfen von seinem dunklen Blut. Und die Töchter gewöhnlicher Ärzte sind nicht so gebildet wie Ihr. Ihr klingt englisch, Ihr seht englisch aus, Ihr sprecht sogar diese abscheuliche Sprache. Euer Französisch ist von der Art, wie es bei Hofe gesprochen wird. Und Ihr habt gesagt, daß Ihr lesen könnt. Frauen können nicht lesen, es sei denn, sie sind wirklich von sehr hoher Geburt.«

»Père hat es mir beigebracht. Und ich versichere Euch, er ist nicht von hoher Geburt.«

»Aber er ist ein gebildeter Mann. Und sein Französisch hat einen spanischen Akzent. Bei seinem Taufnamen Alejandro leuchtet es ein, daß er spanischer Herkunft ist.«

Ihre Augen sahen ihn unverwandt an. Dann senkte sie plötzlich den Blick, als könne sie seine Musterung nicht länger ertragen. Doch als sie wieder aufschaute, zeigte sich in ihrem Ausdruck schierer Trotz.

»Es ist sehr scharfsinnig von Euch, all das zu bemerken.«

»Ich bin ein Ehrenmann und versuche, das Wesen einer Jungfrau zu ergründen, deren Wohlergehen mir anvertraut wurde. Das Wort, das ich diesem Mann gegeben habe, wie immer er zu Euch steht, werde ich auch halten, und das kann ich viel besser, wenn ich etwas über Eure Lebensumstände weiß.« Er stocherte mit einem Stock in der Asche, damit sie noch etwas mehr Wärme an die kühle Luft abgab. »Und ich gestehe, daß ich neugierig bin. Ihr seid ein ungewöhnliches Paar.«

Kate sah zu, wie er die verkohlten Holzstücke hin und her schob, um ihre volle Wärme freizusetzen. Seine Bewegungen waren sicher, aber behutsam, und es gelang ihm, die Glut zu verteilen, ohne einen Schwarm aufsteigender Funken zu erzeugen, der ihre Anwesenheit hätte verraten können. Als sie schließlich das Wort ergriff, war ihre Stimme weicher, enthielt aber eine Spur Bitterkeit. »Ihr habt recht – er ist nicht mein leiblicher Vater«, hub sie an. »Aber der Mann, der seinen Samen zwischen die unwilligen Schenkel meiner edlen Mutter ergoß – möge sie in Frieden ruhen –, war mir sowenig ein Vater, wie eine Ratte der Vater einer Lilie ist. Ja, ich bin von hoher Geburt, aber im Hause des Mannes, der mich zeugte, war ich wie der Staub unter einem Federbett – und wurde genauso schnell beiseite gefegt. Père hat alles für mich getan, was der beste Vater getan hätte, und noch viel mehr! Und er tat all das nur, weil er mich in sein Herz geschlossen hat. Nichts außer seiner eigenen Güte und Barmherzigkeit zwang ihn dazu. Ich kann mich glücklich preisen, von einem Vater wie ihm großgezogen worden zu sein.«

Sie wandte sich erneut ab und legte sich auf die Fichtennadeln – ein unverkennbares Signal, daß ihre Unterredung beendet war. Ihm fiel auf, daß ihr Umschlagtuch zwar groß, aber aus einem dünnen Stoffstück bestand. Es reichte aus, um sie züchtig zu bedecken, konnte aber kaum viel Wärme spenden. Ihre Kleider waren noch feucht, und Guillaume Karle begann zu fürchten, sie könne sich erkälten. Lebendig und wohlauf – das hatte der Mann, den sie Père nannte, von ihm verlangt. Bei all ihrer Tapferkeit und Tüchtigkeit war sie doch in Wirklichkeit nur ein junges Mädchen – auf der Flucht mit einem Mann, den sie kaum kannte, darauf hoffend, die Familie wiederzufinden, die sie verloren hatte: die obendrein nur aus einem einzigen, rätselhaften Mann bestand, der nicht ihr leiblicher Vater war.

In ihrem zarten Alter hat sie viel auszuhalten, dachte er mit großem Mitgefühl. Aber zu viele Geheimnisse. Freundlich sagte er zu ihr: »Wenn meine Fragen Euch Kummer gemacht haben, entschuldige ich mich. Ich war nur neugierig. Eure Lebensumstände scheinen … sehr ungewöhnlich zu sein.«

»Ja, das sind sie in der Tat«, seufzte sie. »Das ist gewiß wahr.«

Wieder fröstelte sie in der Nachtluft.

»Die Luft wird kälter«, erklärte er. »Jetzt steigt die Wärme des Teichs in großen weißen Schwaden in die Luft.« Er lachte ein wenig in der Hoffnung, sein Kommentar würde sie etwas aufheitern. Aber sie blieb still.

»Und Euch friert«, stellte er fest und rückte näher zu ihr.

»Mir ist anscheinend immer kalt«, antwortete sie mit einem kleinen, unterdrückten Schniefen. »Ich kann es nie warm genug haben.« Dann begann sie auf einmal zu weinen.

Leise rückte Karle noch näher heran und legte sich neben sie. Ihr Körper versteifte sich zwar ein wenig, aber sie stieß ihn nicht weg, als er seinen Bauch an ihren Rücken schmiegte. Ihre Leiber paßten verblüffend gut zusammen. Er legte seine Arme um sie und teilte mit ihr seine Wärme; nach einer Weile konnte er spüren, wie sie sich entspannte und einschlummerte. Er lag wach, atmete langsam den rauchigen Duft ihres Haars ein und lauschte seinem eigenen Herzen, das heftig gegen ihren Rücken pochte.