KAPITEL 6

Als Janie morgens in das Forschungsinstitut kam, reichte ihr der Affenmensch eine gedruckte Seite und warf ihr einen Blick zu, der eindeutig besagte: Erklären Sie das.

Sie sah ihn so unschuldig an, wie sie konnte, und überflog dann rasch den Text. Angestrengt verbarg sie ihre Erregung und tat so, als sei diese Mitteilung ihr vollkommen rätselhaft. Als ihre Augen das Ende der Seite erreicht hatten, wurde ihre gespielte Überraschung zu echter Verblüffung. »O du liebes bißchen, Chet – sie haben meinen Antrag auf eine systemweite Untersuchung genehmigt.«

»Das habe ich gelesen«, meckerte er. »Ich wußte nicht mal, daß Sie einen Antrag gestellt hatten.« Seine Miene war der Inbegriff von Mißbilligung. »Und wir hatten es doch gestern geklärt!«

»Ja, in etwa. Aber ich fand nicht, daß wir wirklich zu einem Schluß gelangt waren. Und ich dachte, es könne nicht schaden, den Antrag trotzdem zu stellen, für alle Fälle. Wir müssen ja keinen Gebrauch davon machen, wenn wir nicht wollen. Aber wenn wir es tun, dann …«

»Ich schätze, Sie haben doch nicht soviel Erfahrung mit solchen Dingen, wie ich dachte«, meinte er verächtlich. »Wissen Sie, die behalten einen nämlich im Auge. Wenn Sie eine Studie beantragen und dann von der Genehmigung keinen Gebrauch machen, gibt es diesen netten kleinen Vermerk im Register Ihrer Anfragen. ›Hat die Arbeitszeit der für Untersuchungsgenehmigungen zuständigen Mitarbeiter mit einem ungenutzten Antrag vergeudet‹ oder so ähnlich. Herrgott, Janie, Sie können diesen Leuten kein Genehmigungsverfahren zumuten und anschließend sagen, sie sollten es vergessen.«

Sie fragte sich, wer »diese Leute« sein mochten, aber verkniff sich eine Bemerkung, weil es auf lange Sicht unwichtig war. »Na ja, es besteht immer noch die Möglichkeit, daß …«

»Daß was? Daß Geld vom Himmel fällt? Ich erinnere mich deutlich, Sie aufgeklärt zu haben, daß das höchst unwahrscheinlich ist.«

Richtig, sie konnte es nicht leugnen, aber wenigstens hoffen, seinen Zorn abzulenken. »Ich habe da einen Zuschuß in Aussicht«, erläuterte sie. »Natürlich weiß ich noch nicht, ob ich ihn bekomme. Aber ich bin noch immer dafür, daß Sie diese Sache an höherer Stelle vortragen sollten. Was kann schlimmstenfalls passieren?«

»Was auch immer, es wird mir passieren, nicht Ihnen. Vielleicht feuern sie mich mit einem Tritt in meinen blöden Arsch, weil ich damit überhaupt zu ihnen gekommen bin.«

Und wahrscheinlich ist der auch noch behaart wie bei Affen, obwohl ich hoffe, das niemals herauszufinden. »Man wird Sie nicht feuern. Und vielleicht begrüßen sie es sogar …«

»Hören Sie, Janie, was man mir da oben zu diesem Prives-Jungen sagen wird, ist nein … zu riskant! Wenn wir ihn aufnehmen und er nicht genauso reagiert wie die anderen, dann senkt das unsere Erfolgsrate. Und das bedeutet schlicht, daß das Patent auf jedwedes Medikament oder Verfahren, das dabei herauskommt, weniger wert sein wird, wenn wir es auf den Lizenzmarkt bringen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das für uns alle hier bedeutet.«

Weniger Spenden, Budgetkürzungen, potentielle Entlassungen, Sand im Getriebe! Ärzte und Techniker, die ernsthaft darüber nachdenken müßten, an einem Fließband zu arbeiten, sie selbst vielleicht inbegriffen! Sie seufzte laut. »Nein, das brauchen Sie nicht.«

Aber was, wenn sie Erfolg hätten? Das verspräche ungeheuren Gewinn. Janie lächelte Chet ein wenig herausfordernd an und sagte: »Haben Sie mal daran gedacht, was passiert, wenn unsere Vorgehensweise bei diesem speziellen Kind tatsächlich wirken würde? Wer weiß, wie viele andere wie ihn es da draußen noch gibt?«

»Sie reden von einem sehr seltenen Trauma. Sehr selten. Warum sollte es noch andere geben?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich werde es wissen, wenn ich die Untersuchung durchgeführt habe.«

»Sie werden mit dieser Studie gar nicht erst anfangen!«

»Aber« – jetzt stammelte sie – »Sie haben gerade gesagt, wir sollten nicht den Anschein erwecken, als vergeudeten wir eine Untersuchungsgenehmigung.«

»Machen Sie von der Genehmigung Gebrauch«, meinte er, »aber finden Sie dabei irgend etwas vollkommen Dämliches heraus. Stellen Sie fest, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können. Und tun Sie so etwas nie wieder, ohne mich vorher zu fragen.«

Es verstrichen ein paar angespannte Sekunden. »Sie wissen nicht, was dabei herauskommt, wenn ich die Untersuchung durchführe, Chet. Sie können es gar nicht wissen.«

»Vielleicht nicht, aber im Augenblick ist mir das ziemlich egal. Hier läuft eine gute, solide Studie, und die lasse ich mir nicht durch die Aufnahme hoffnungsloser Fälle vermasseln. Und am Ende stehe ich dann als Idiot da, weil die da oben denken werden, ich hätte das gestattet. Auf keinen Fall sollen die meinen, ich würde mich für so etwas engagieren – es ist lächerlich weit hergeholt.«

»Das war bei der Erfindung des Fotokopierers auch so«, gab sie zu bedenken, »früher mal. Aber vielleicht sollte ich mich anderswo nach Unterstützung umsehen. Stellen Sie sich bloß vor, was Sie denen da oben alles erklären müssen, wenn ich etwas finde, das funktioniert – und Sie wollten davon nichts wissen.«

Chet grollte: »Wenn Sie das nicht persönlich machen müßten, würde ich es selber tun, und damit hätte es sich. So, und jetzt gehen Sie los und stellen fest, wie viele Päpste katholisch waren. Dann liefern Sie mir einen netten, sauberen Bericht darüber. Und schnüffeln Sie nie wieder auf eigene Faust herum. Sie bringen uns alle in ein schlechtes Licht!«

Mit überirdischer Disziplin gelang es Janie, die Tür zu ihrem winzigen Büro zu schließen, ohne sie vor Wut und Frustration in die Angeln krachen zu lassen. Die nächsten paar Minuten verbrachte sie damit, lautlos zu fluchen und geschlechtsspezifische Schimpfnamen auszustoßen, die ihr, wenn sie sie am Arbeitsplatz laut ausgesprochen hätte, leicht eine Klage wegen sexueller Belästigung hätten einbringen können. Ihr ganzer giftiger Zorn richtete sich gegen Chet Malin, und als sie schließlich genug Dampf abgelassen hatte, um an die Arbeit gehen zu können, leistete sie sich ein paar Minuten zwanghaftes Schreibtischaufräumen, um nach diesem hierarchischen Gerangel wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Arschloch, dachte sie. Er muß für irgend jemanden irgend etwa getan haben, damit er diesen Job bekam.

Entschlossen dachte sie: So, und jetzt stehe Gott mir bei. Sie warf seine negative Einstellung aus ihrem Bewußtsein. Mit einem willfährigen Plumps landete diese zu ihren Füßen.

»Fick dich ins Knie, Chet«, bestellte sie ihm grimmig. »Ich lege jetzt los. Fang mich doch, wenn du kannst.«

Mit ein paar schnellen Beugungen und Streckungen machte sie ihre Finger elastisch und tippte den Zugangscode zu Big Dattie ein; doch als sich die Türen zu den Informationen vor ihr öffneten, hörte sie im Kopf Tom Macalesters strenge, aber liebevolle Warnung.

Keine Grabungen mehr.

»Was bist du – mein Schutzengel?« flüsterte sie. Sie konnte fast sehen, wie er von der Spitze irgendeines Gipfels auf sie herabgrinste, und sie versuchte, das Bild aus ihrem Kopf zu verbannen.

Jetzt erschien Big Datties eigene Warnung, dann wurde der Bildschirm gelb, und endlich leuchtete die Erlaubnis auf, ihre Suchkriterien einzugeben. Dutzende von Seiten erschienen. Sie ließ die Liste abrollen und sah den Namen Abraham Prives, wie sie erwartet hatte, ebenso wie den Namen des Jungen aus Boston. Aber die Information war noch zu vage, und sie forderte Big Dattie auf, nur die Fälle anzuführen, in denen die Verletzung als Trümmerbruch oder Zersplitterung beschrieben war.

Sie erwartete, daß es ein paar Sekunden dauern würde, bis die Daten ausgefiltert waren; denn wenn Big Dattie keine Entsprechungen für eine Anfrage fand, nahm er einen Irrtum an und überprüfte sie automatisch noch einmal, was zu einer leichten Verzögerung führte. Doch die Ergebnisse wurden fast sofort gemeldet, und Janie sah sich überrascht einer Liste von vielleicht dreißig Namen gegenüber.

Sie ging zurück und erweiterte das Alter um je ein Jahr nach oben und nach unten. Daraufhin spuckte der Computer eine Liste von über hundert Namen aus.

Resultate sortieren, befahl sie dem Rechner. Korrelationen finden. Nach Verletzungsdatum auflisten.

»Sieh an, sieh an, sieh an …«, flüsterte sie, als sie das Endergebnis durchlas. »Sieh an, was wir da haben!«

Als Janie Tom Macalester anrief, um einen Termin zu vereinbaren, sagte er: »Heute ist es zu schön fürs Büro. Treffen wir uns draußen auf dem Platz. Da gibt es was, worüber ich mit dir reden muß.«

»Du zuerst«, sagte Janie, als sie sich eine Stunde später gegenüberstanden.

»Ich dachte, man läßt der Dame den Vortritt.«

»Falschmeldung … man läßt die Dame entscheiden.«

»Okay. Es wird dir vielleicht nicht gefallen, aber hör mich zu Ende an, ehe du anfängst zu kreischen.«

»Kreischen – ich?«

»Manchmal. Und heute könnte so ein Tag sein. Ich habe ein bißchen über Bruces Einreiseprobleme nachgedacht«, leitete Tom ein, »und pralle dabei dauernd gegen eine Wand. Wahrscheinlich läuft in solchen Situationen jeder gegen die Wand; also ist es nicht unbedingt beunruhigend, und auf lange Sicht wird es schon irgendwie klappen. Aber ich bin nicht auf Einwanderung spezialisiert und habe keine Idee, wie man diese Wand durchdringen könnte. Zudem weiß ich nicht, ob du deinem Freund mit mir als Anwalt beistehen solltest.«

Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie fragte sich nach dem Grund. Log er, oder verheimlichte er ihr etwas, von dem er annahm, sie wolle es vielleicht nicht hören? Verbarg er ihr etwa ein paar private Gedanken über ihre Situation, die ihr nicht gefallen würden? Tom war normalerweise so direkt. Janie fand sein Verhalten ziemlich entnervend.

Was immer es war, das ihn störte, sie hatte ihm stets vertraut, und so sollte es auch bleiben. »Ich glaube fest an dich«, versicherte sie ihm.

Jetzt kam der Augenkontakt wieder. Er wirkte auf sie immer sehr intensiv.

»Ich weiß …« Er nickte. »Und schätze das auch. Gewöhnlich fühle ich mich geschmeichelt, nur ist … nun ja, Bruce ist nicht, ich meine, eigentlich bist du meine Mandantin, und … offen gestanden – sind die Einwanderungsgesetze nicht so mein Fach. Ich habe mich ganz auf Medizinrecht und Bioethik spezialisiert und deswegen das Gefühl, daß ich mir auf anderen Gebieten nicht zuviel zutrauen sollte. Du wärst wohl besser dran mit jemandem, der mehr darüber weiß als ich.«

Er hatte recht – sie hätte am liebsten aufgeheult. Aber er war so vernünftig und überlegt in seinen Argumenten und so offensichtlich verstört über das, was er als sein Versagen betrachtete, daß Janie fast Mitleid mit ihm hatte. An seiner Haltung und seinem Benehmen erkannte sie, daß er von sich selbst enttäuscht war. Zum erstenmal bemerkte sie ein paar Sorgenfalten auf seiner Stirn.

Janie nahm die Hand ihres alten Freundes und drückte sie leicht, während sie eine Gruppe von Bänken ansteuerten. Sie tätschelte sie und ließ sie dann wieder los. »Du bist mein Anwalt, Tom. Und ich vertraue voll und ganz darauf, daß du jeden Kollegen zu Rate ziehen wirst, dessen Rat du brauchst. Ich möchte wirklich nicht mit jemand anderem zu tun haben, vor allem jetzt, wo vieles so … so schiefzulaufen scheint.« Sie sah ihn gewinnend an. »Und ich schätze, ich habe mich an dein Gesicht gewöhnt oder etwas in der Art.«

Er reagierte mit einem komischen kleinen Grinsen, schüttelte den Kopf und beschwerte sich: »Immer diese Klischees.«

»Tut mir leid!«

»Schon gut. Ich verzeihe dir. Aber es ist mein Ernst. Mit Einwanderung kenne ich mich nicht aus, zumindest nicht auf dieser Ebene. Außerdem habe ich noch ein paar andere Verpflichtungen, die ich eigentlich nicht ablehnen kann, und möglicherweise übernehme ich mich.«

Janie sah ihn neugierig an. »Wobei zum Beispiel?«

»So eine Art Denkfabrik für Bioethik ist an mich herangetreten. Aus irgendeinem Grund haben sie das Gefühl, sie bräuchten einen Anwalt in ihren Reihen. Ich glaube, es geht um gewisse Biopatente, und sie möchten sich beraten lassen.«

»Tom, das klingt ja großartig …«

Strahlend breitete er die Arme aus. »Genau! Das ist die Art Recht, die ich wirklich liebe, wo ich mich völlig zu Hause fühle. Aber es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, zumindest, bis ich mich eingearbeitet habe. Also sollte ich nicht dein Geld nehmen, wenn ich dir nicht den Gegenwert dafür liefern kann.«

»Was für eine altmodische Einstellung!«

»He, man nennt mich nicht umsonst Tom-osaurus Rex.« Er zeigte auf einen Imbißstand. »Magst du einen Hot Dog?«

»Igitt. Nein, danke. Hast du eine Ahnung, was in diesen Dingern drin ist?«

»Ja. Alle mögliche Scheiße. Im wörtlichen Sinne.«

»Und du ißt sie trotzdem?«

»Mit Senf – einfach köstlich, schmatz, schmatz.«

»Bei allem Wohlwollen, Tom, du wirfst mir Klischees vor! Deine Witze werden jedes Jahr lahmer.«

»Genau wie alles andere an mir, meine Beste.«

»Tja, das Leben ist ein einziger langer Abstieg. Hör mal, ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen, sowohl was deine Situation betrifft als auch meine. Aber ich habe jetzt keine Lust, den Anwalt zu wechseln. Wenn es sein muß, dann besorg dir jemanden für den Routinekram, und ich werde die Rechnung begleichen; aber ich mag nicht direkt mit einem anderen reden müssen. Du bist der einzige Anwalt, den ich verkrafte. Sei also mein Puffer. Ich möchte es so haben.«

»Okay!«

Er gab sich heiter, aber Janie spürte eine leise Traurigkeit.

»Wenn du das meinst«, fügte er hinzu.

»Absolut.«

Das Lächeln schwand, und Toms Züge wirkten für einen Moment eingefallen; Janie hätte am liebsten gefragt, ob ihm noch etwas anderes auf der Seele lag. Aber ebenso schnell verschwand diese Trübung wieder, und der Mensch, der ihr seit ihrer Jugend vertraut war, kehrte zurück.

»So«, sagte er, »jetzt habe ich genug über meine Ängste vor beruflicher Unzulänglichkeit gejammert und gestöhnt. Worüber wolltest du jammern und stöhnen?«

»Eigentlich über gar nichts. Ich habe etwas ziemlich Aufregendes, das ich dir zeigen muß.«

Flüchtig schaute er sich um und beugte sich näher zu ihr. »Hier? Ich meine, ich bin begeistert, aber hier ist es so öffentlich …«

Janie konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Das halten wir aus, ja? Neulich sagtest du etwas von einer besonderen Spezialität. Hätte die Arbeit an einem speziellen Problem dieselbe Wirkung, selbst wenn sie nicht unbedingt mein Fachgebiet beträfe?«

»Das hängt von dem Problem ab, aber ja, es wäre möglich. Hast du da was?«

»Sieht so aus, es ist möglich, daß ich über ein neues Syndrom gestolpert bin.« Sie reichte ihm die Namensliste. »Alle diese Kinder leiden unter demselben ›sehr seltenen‹ Problem zersplitterter Knochen. Ich habe das bei einer Reise durch Big Dattie entdeckt – und mach dir keine Sorgen, ich hatte eine Genehmigung.«

»Na, wenigstens das ist in Ordnung.«

»Ich habe nicht illegal gegraben, sondern es mir abgewöhnt – auf Anraten meines Anwalts.«

»Zweifellos wird dein Anwalt das zu schätzen wissen.«

»Außer, daß es vielleicht sein Einkommen verringert?«

»Er wird’s überleben.«

»Mit mir oder ohne mich, da bin ich sicher. Jedenfalls habe ich diesen Tatbestand gefunden. Nicht einfach gebrochene Knochen, sondern zertrümmerte. Die Ähnlichkeit der Probleme, die sich aus diesen Traumata ergeben, ist nicht zu übersehen und kann kein Zufall sein. Ich habe sie nach Datum sortiert – sieh dir das an.« Sie reichte ihm eine Graphik, aus der das Muster der Unfälle hervorging. »Es gibt da einen ganz plötzlichen Anstieg von Häufigkeit.«

Die Graphik wies eine dramatische Spitze auf. »Und in all den Fällen, von denen ich bis jetzt gelesen habe, ist eine wirklich auffallende Ähnlichkeit die, daß die Verletzungen allein die Schwere der Probleme nicht erklären können.«

»Was willst du damit sagen?«

»Daß es da eine angeborene Schwäche geben muß. Etwas, das eine Anfälligkeit für spontane, unerklärliche Brüche verursacht. Vielleicht genetisch. Aber es könnte auch auf einer Krankheit basieren. Und aus den Akten dieser Kinder geht nichts hervor, daß sich irgend jemand sonst damit befaßt. Also – das würde die Sache doch interessant machen, oder?«

»Vermutlich. Du müßtest dich mit jemandem zusammentun, der auf diese Art von Skelettproblemen spezialisiert ist.«

»Was glaubst du, wie schwer das sein wird? Ich schnappe mir einfach jemanden von einer Ölbohrinsel.«

Sie hatte erwartet, daß Tom lachen würde, doch statt dessen runzelte er die Stirn. »Janie, ich glaube, das könnte etwas werden. Es könnte eine gute Idee sein, sich dieses … Muster genauer anzusehen. Du mußt mich allerdings über alles, was du tust, auf dem laufenden halten. Ob es reichen wird, um deine Wiederzulassung zu erreichen – tja, das weiß ich nicht. Der Weg ist weit.«

Ihr Gesicht wurde nachdenklich. Und dann entschlossen. »Vielleicht. Aber verdammt, ich muß ihn gehen. Die Arbeit, die ich jetzt tue, bedeutet mir absolut nichts. Und ob diese neue Sache nun zu meiner Wiederzulassung führt oder nicht – sie ist eine Chance, für eine Menge Leute etwas Gutes zu tun. Deswegen habe ich überhaupt Medizin studiert. Anscheinend ist es mir irgendwo abhanden gekommen. Ich will das aber nicht endgültig vergessen.«

Caroline Porter Rosow saß auf einem Stuhl an ihrem Küchentisch, ein Bein ausgestreckt, einen Fuß auf einem Plastiktuch, das Janies Schoß bedeckte. Sie drehte den Fuß leicht, damit Janie den Stumpf des teilweise amputierten kleinen Zehs sehen konnte, der noch nach einem Jahr empfindlich war. Janie trug Bioschutz-Handschuhe und bewegte das, was von dem Zeh übrig war, mit den Fingern von einer Seite zur anderen.

Während der Untersuchung plauderte sie, teilweise, um Caroline von der unangenehmen Berührung abzulenken, teilweise, weil es Neuigkeiten mitzuteilen gab. Nach ihrer verstörenden Erfahrung in England waren sie weit mehr als Freundinnen, und es gab wenig Geheimnisse zwischen ihnen. »Nun, sieht so aus, als würde es in meinem Leben wieder Sex geben.«

»Du hast dir doch nicht etwa eines von diesen – Dingern gekauft, oder?«

»Nein, du Klugscheißerin! Die Frau im Reisebüro sagt, daß es für Island jede Menge Visa gibt. Bruce und ich werden uns da treffen – nächsten Monat.«

»Janie, das ist ja fabelhaft …«

»Ich weiß, bin schon ganz aufgeregt. Aber Bruce war ein bißchen enttäuscht, als er erfuhr, daß es Island sein würde.«

»Nun, die Hauptattraktion sind Vulkane … vergiß also nicht, einen Regenschirm einzupacken. Einen ganz großen, und feuerfest muß er sein. Es handelt sich doch nicht zufällig um dieselbe Reiseagentur, die den Flug nach London organisiert hat, oder?«

Janie bewegte einen anderen Zeh von Caroline, etwas kräftiger als den vorigen, und dann wieder den Stumpf. »Doch, genau die.«

»Oje …«

»Da kann unmöglich was passieren. Island besteht aus Felsen, vergiß das nicht. Ich kann also nichts ausgraben.« Sie bewegte den ganzen vorderen Teil von Carolines Fuß. »Das tut doch nicht weh, oder?«

»Nur ein kleines bißchen.« Sie zuckte leicht zusammen und bewegte sich auf ihrem Stuhl, als hätte eine Verschiebung der Wirbelsäule Auswirkungen auf ihren Fuß. »Himmel, es wird wirklich Zeit, daß ihr beide mal wieder zusammenkommt. Wie lange ist das jetzt her?«

»Vier Monate. Seit Mexiko. Und ich brauche dir nicht zu sagen, daß Island nur eine Verbesserung sein kann.« Jetzt bewegte Janie den Zeh auf und nieder. »Tut er mehr weh als letzte Woche?«

»Nein.« Erneut durchfuhr es sie. »Ich habe gelogen. Doch. Aber hauptsächlich, wenn es regnet. Und wenn du ihn bewegst. Sonst nicht.«

»Tat er weh, wenn es regnete, bevor du krank warst?«

»Manchmal.«

»Aha. Nun ja, das könnte es erklären. Das seltsame Phänomen des Phantomschmerzes.« Sie trennte den Rest des kleinen Zehs von den übrigen und sah sich das Fleisch dazwischen an. »Hier ist eine Rötung. Das gefällt mir nicht recht. Wie fühlt es sich an, wenn du Schuhe trägst?«

»So unangenehm wie eh und je. Sie drücken immer noch alle.«

»Selbst mit den Schaumpolstern?«

»Das macht keinen großen Unterschied. Es hilft, aber ich spüre trotzdem etwas. Echt, ich würde morden, um wieder ein Paar schöne, hochhackige Schuhe tragen zu können.«

»Ich fürchte, die Zeiten für aufreizende Pumps sind vorbei, Herzchen. Tut mir leid. Immerhin hast du den Fuß nicht verloren … und du kannst ja meinetwegen Netzstrümpfe tragen, wenn es dich überkommt.« Liebevoll tätschelte sie die Seite von Carolines Fuß und ließ sie dann los. »So, und jetzt zeig mir deine Hände.«

Caroline streckte die sommersprossige Linke aus und präsentierte verschwörerisch ihren Ehering. Spöttisch spreizte sie die Finger und lachte. Janie klopfte ihr leicht auf den Handrücken und legte ihn dann auf ihren eigenen, um ihn sich anzusehen.

»Okay, ich bin eifersüchtig«, sagte Janie. »Bist du glücklich? Dein Mann kommt nach Hause, meiner nicht. Deiner hat dich geheiratet. Meiner sagt, er würde mich heiraten, wenn er je einreisen darf. Aber habe ich einen Ring? Nein.«

Caroline lachte leise und schüttelte den Kopf. »Meine Güte, wie wichtig wir uns nehmen … du brauchst wirklich einen anderen Job.«

»Ja, ich denke schon …« Janie schlug die Augen gen Himmel. Sie drehte Carolines Hand um und untersuchte die Innenfläche. Es gab nichts Unerwartetes – die dunklen Flecken waren alle verschwunden, und da, wo sich ein oder zwei Beulen befunden hatten, erkannte sie nur schwache Narben. »Sieht wirklich gut aus. Du hast deine Hände ordentlich gepflegt. Ich hatte Angst, dein Körper würde überreagieren, als sie dir den Identitätssensor eingepflanzt haben, weil dein Immunsystem von der Pest so angegriffen war. Aber das ist nicht passiert – alles paletti!«

Caroline zog ihre Hand abrupt zurück. »Das ist fast ein Jahr her. Wieso hast du mir von dieser Sorge nicht eher erzählt?«

Nach einer kurzen Pause gestand Janie: »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Du wußtest ja, worauf du achten solltest, oder?«

»Ja, aber nicht, was es bedeuten könnte.«

»Na ja, es ist ja nichts passiert. Also sei unbesorgt.«

»Aber ich mache mir nun mal Sorgen. Das weißt du doch.«

»Gott steh uns bei, wenn du mal Kinder kriegst.« Janie senkte die Stimme, damit Michael, Carolines Mann, sie nicht hören konnte.

»Apropos, hast du deine Periode bekommen?«

Caroline verzog unsicher ihre Miene und schüttelte verneinend den Kopf.

»Wow! Nun ja, vielleicht … um wieviel bist du zu spät dran?«

»Erst einen Tag.«

»Na, ich drücke dir die Daumen.«

»Danke.«

Caroline war in London so schwer an der Pest erkrankt und von der Infektion so mitgenommen, daß Janie dachte, sie zöge schreckliche Folgen für ihre sämtlichen Körperfunktionen nach sich. Tatsächlich arbeiteten Carolines Nieren nicht mehr ganz zuverlässig. Wenn du schwanger wirst, hatte sie ihr gesagt, wirst du überhaupt nicht mehr aus dem Badezimmer rauskommen.

Aber sie war nicht schwanger geworden, auch nicht nach acht Monaten täglichen Verkehrs, manchmal sogar zwei, je nach Zyklus, und sie nahm keine Antibabypillen. Das bereitete ihr ein bißchen Kummer.

Ein schwerer Sturz, hatte sie dem Einreisebeamten im Logan Airport gesagt. Sie hatte sich die Hand aufgeschürft. Das erklärte die blauen Flecken, die Verbände, das Hinken und den extrem erschütterten psychischen Zustand, in dem Caroline bei der Einreisebehörde in Boston erschienen war. Sie hatte ein leichte Gehirnerschütterung, erklärte Janie für sie. Und ist immer noch ein bißchen benommen. Und obwohl Carolines eigenartiger Zustand einiges Stirnrunzeln hervorgerufen hatte, hatte sie bei keinem der Biosensoren Alarm ausgelöst, weil sie dafür gesorgt hatten, daß sie ansteckungsfrei war, ehe sie Großbritannien verließ. Janie hatte noch nie in ihrem Leben so lange die Luft angehalten wie in den Augenblicken, in denen Caroline die Kontrollen passierte, und zweifellos hatten sie auch noch nie so erleichtert aufgeatmet.

»Jetzt zu deinem Fuß. Ich bin nicht ganz glücklich mit diesem Zeh. Für mich sieht er recht empfindlich aus.«

»Das ist er auch.«

»Und du trägst immer nur Socken?«

»Außer, wenn ich Sandalen anhabe.«

»Du solltest diesen Zeh wirklich nicht unbedeckt lassen. Wenn du ihn dir aufschrammst oder gegen irgendwas stößt, könnte es Probleme geben. Wechselst du die Socken regelmäßig?«

»Ja.«

»Und wäschst sie in heißem Wasser mit viel Bleiche?«

»Natürlich.«

»Wäschst du übrigens neue, bevor du sie anziehst?«

Schweigen.

»Caroline, das ist wichtig.«

»Ich weiß. Aber manchmal vergeß ich’s.«

»Versuch, es nicht zu vergessen, bitte! Viele davon sind importiert. Sie werden nicht so kontrolliert wie amerikanische Waren.«

»Nur deswegen kann ich sie mir ja leisten. Aber gut, okay, ich werde vorsichtiger sein.«

Während Caroline eine saubere Baumwollsocke über ihren geschädigten Fuß zog, streifte Janie ihre Handschuhe ab und steckte sie in eine Plastiktüte. Sie würde sie am nächsten Tag im Container für Bioabfall im Institut entsorgen. Als sie sich am Küchenbecken die Hände wusch, sagte sie: »Dein Mann ist also offenbar noch immer der Märchenprinz …«

»Ja, aber er beschwert sich darüber, daß wir hier kein Königshaus haben.«

»Was denn – hat er noch nie von den Kennedys gehört?«

»Die sind ihm zu irisch.«

»Ach, du Ärmste. Versucht er noch immer, dich dazu zu kriegen, daß du ihm Yorkshire-Pudding machst?«

»Erfreulicherweise gibt er das allmählich auf. Letzte Woche habe ich’s versucht, aber ich kann einfach nicht so viel Fett vertragen, jedenfalls nicht, ohne zu würgen. Deshalb war er trocken. Michael sah ziemlich enttäuscht aus.«

»Will er immer noch nicht, daß du arbeitest?«

Caroline nickte. »Und um ehrlich zu sein, ich bin nicht unglücklich, zu Hause zu bleiben.«

»Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran«, bemerkte Janie, während sie sich mit einem Papiertuch die Hände abtrocknete. »Ich meine, ich stelle es mir jedenfalls so vor. Wie es sich anfühlt, weiß ich eigentlich nicht mehr – ich war das letzte Mal ohne Arbeit oder Studium während Betsys Babyzeit.« Sie warf das Papiertuch in den Abfalleimer. »Und das dauerte nur ein paar Wochen.«

Das folgende Schweigen lastete im Raum. Caroline sah Janie die widerstreitenden Gefühle an und sagte mitfühlend: »Zu Hause zu bleiben liegt nicht jedem. Du hattest eine Praxis.«

»Und ich hoffe auf eine neue«, seufzte Janie.

»Wie sieht es damit aus?«

»Nun ja, bis vor ganz kurzem nicht allzugut.«

»Oh? Gibt es Neuigkeiten?«

»Ja, in der Tat! Ich habe etwas gefunden, was möglicherweise einmalig genug ist, um mich für eine Wiederzulassung zu qualifizieren.« Wieder erklärte sie, was sie entdeckt hatte. Bei jeder weiteren Schilderung wuchs ihre Überzeugung, daß die Sache Aufmerksamkeit verdiente. »Allerdings werde ich Hilfe brauchen. Bei einer Datensuche. Im Moment sichte ich das, was ich bereits gefunden habe, und dabei fallen mir etliche Dinge auf, die förmlich nach einer weiteren Untersuchung schreien.«

»Und das wäre?«

»Na ja, zuerst mal, warum ist diese Sache so unvermutet auf der Bildfläche erschienen? Hätte es vor diesem plötzlichen Anstieg nicht wenigstens ein paar derartige Vorfälle geben müssen?«

»Vielleicht gab es sie, und keiner hat es gemerkt.«

»Unter Umständen … Könnten auch welche vor Big Dattie aufgetreten sein.«

»Ach ja?« sagte Caroline. »Sind tatsächlich schon Dinge passiert, bevor es die Datenbank gab? Manchmal vergesse ich das.«

»Genau, und im Gegensatz zu unserer rosigen Vorstellung von der guten alten Zeit war sie nicht nur erfreulich.« Sie räusperte sich.

»Es ist möglich, daß es ein paar derartige Fälle gegeben hat, wie auch immer, und keiner hat sie miteinander in Verbindung gebracht. Oder vielleicht hat es jemand getan und daran gearbeitet, aber die Ausbrüche nicht überlebt.«

»Eine vernünftige Annahme.«

»Irritierend finde ich, daß es so schnell sichtbar geworden ist – weil es sich meiner Meinung nach um ein genetisches Problem handelt. Zumindest gibt es eine genetisch bedingte Anfälligkeit.«

»Wieso denkst du das?«

Janie nahm eine Kopie der Namensliste aus ihrer Handtasche und reichte sie Caroline. »Sieh dir das an. Sag mir, ob dir etwas auffällt.«

Caroline nahm die Liste und begann, Namen vorzulesen. »David Aaronson, Elliot Bernstein, Michael Cohen …« Sie blickte auf und zuckte mit den Achseln.

»Alle diese Jungen sind jüdisch.«

Vorübergehend verstummte Caroline. »Und wenn das der Fall ist, wer sollte dir dann helfen?«

»Dein Prinz, meine Liebe! Dein reizender, halbjüdischer Prinz.«

Michael Rosow, früherer britischer Biocop und Verfolger internationaler Biokrimineller – von denen eine jetzt zufällig seine Frau war –, Sohn eines jüdischen Vaters und einer englischen Mutter, gefiel die Idee überhaupt nicht, als Janie sie ihm präsentierte.

»Der König von England wird nicht erfreut sein«, wehrte er ab.

»Dein König weiß ja kaum mehr, daß er König ist. Er würde eine Datenbank nicht mal erkennen, wenn sie aus Loch Ness auftauchen und ihn verschlingen würde. Und außerdem ist dir das im Grunde völlig egal. Du kehrst in nächster Zeit ja nicht nach England zurück. Also sag mir, was dich wirklich an der Idee stört.«

Er wartete einen Moment, bevor er antwortete: »Ich habe Angst, daß ich erwischt werde – klarer Fall.«

Darauf hatte Janie keine schlagende Antwort parat. »Verständlich. Und es hätte mich überrascht, wenn es dir nicht unangenehm wäre. Aber sollten wir einen Weg finden, wie du reinkommst, ohne geschnappt zu werden, würdest du dann mitmachen?«

»Ich weiß nicht.«

»Vielleicht könnten wir uns eine Identität ausborgen.«

Michael warf ihr einen mehr als vorwurfsvollen Blick zu. »Du meinst, einfach jemandem die Hand abschneiden?«

Janie zuckte zusammen, als sie sich an die grauenhafte Episode in London erinnerte, mit der Michaels Beispiel zusammenhing.

»Nein. Das glaube ich nicht.«

»Aha«, sagte Michael. »Du willst bis zum nächsten Graben also wenigstens ein Jahr verstreichen lassen. Das ist nur recht und billig.«

Nach entsprechendem Drängen von Janies Seite, das sogar sie selbst als ziemlich lästig bezeichnet hätte, ließ Michael durchblicken, daß jemand, wenn er erst im Computer war und eine Identität angegeben hatte, das besondere Infrarotgerät des Taschencomputers benutzen konnte: Dieses gehörte bei Biocops zur Standardausrüstung, um anonym in die Datenbank zu gelangen. Die Datenbank registrierte den Zugang dann unter dem Namen der betreffenden Person, die ursprünglich im Computer gespeichert war, und der wahre Eindringling hinterließ keinerlei Spur.

»Und wie komme ich an so einen Taschencomputer?«

»Das kann nicht dein Ernst sein«, fuhr er auf. »Ich habe bloß deshalb einen, weil ich Lieutenant bin. Unter diesem Rang darf keiner so ein Ding benutzen.«

Aha, dachte sie, er könnte es also übernehmen. Sie brauchte jetzt nur noch einen uneingeweihten Komplizen.

Auf dem Heimweg von Caroline und Michaels Haus machte Janie bei einer der netter aussehenden Bars halt, die sie schon oft bemerkt, aber nie betreten hatte. An diesem Abend stand draußen keine Schlange, also fuhr sie sich rasch mit dem Kamm durchs Haar, strich ihr Kleid glatt und trat ein.

Die Computerbar bestand ganz aus Glas und Chrom und war dämmrig beleuchtet. Der Fleischmarkt war um diese frühe Stunde so, wie Janie erwartet hatte, vielleicht ein wenig eleganter wegen seiner hochnäsigen Kundschaft. Die Happy Hour befand sich auf dem Höhepunkt. Neureiche junge Techno-Snobs strömten in Scharen herbei und gaben ihre Credits, die elektronischen Dollars, für überteuerte Drinks in einem Tempo aus, das einen Rockefeller beunruhigt hätte. Dabei warteten sie auf etwas Computerzeit. Sie saßen an ihren numerierten Terminals und tauschten mit attraktiven Gästen an anderen Terminals anonyme Witzeleien aus. Obwohl nun Janie mit ihren eigenen technologischen Kenntnissen durchaus zufrieden und von der Brillanz, die sich rings um sie entfaltete, nicht im mindesten eingeschüchtert war, fühlte sie sich doch reichlich fehl am Platze – sie war gute zwanzig Jahre älter als alle anderen Personen in dem Lokal.

Daher setzte sie sich an ein Ende der Bar und trank unauffällig ein Glas Pinot Noir, während um sie herum das Spiel der Leidenschaften seinen Fortgang nahm. Sie beobachtete genau, wie sich diese glatten jungen Leute des Cyber-Zeitalters verhielten, und wartete auf ein Detail, das sie auf eine Idee bringen würde.

Schließlich wurde sie belohnt, nicht durch das erwartete Detail, sondern durch ein Muster, das nach und nach sichtbar wurde. Sie war inzwischen bei ihrem dritten Glas Wein angelangt, das sie sich erlaubte, weil sie an diesem Abend mit dem Bus nach Hause fuhr – allein, aber zur Abwechslung einmal nicht unglücklich. Ihr fiel auf, daß die Leute an ihren Terminals miteinander Kontakt aufnahmen, nachdem sie im System waren; sobald jemand ein Interesse zeigte, stand der oder die Betreffende auf und ließ den Computer im operativen Modus weiterlaufen, während er sich echten menschlichen Kontakten widmete. Der Computer blieb dann noch weitere fünf Minuten aktiviert. Sie konnten sich also Zugang verschaffen – und die Person, die am Terminal gesessen hatte, würde ein Alibi haben. Ihr wäre nichts vorzuwerfen.

Mit einem entschlossenen Ruck trank sie den Rest ihres Weins aus und verließ die Bar, ohne mit irgend jemand auch nur ein Wort gewechselt zu haben.

»Morgen abend möchte ich mit dir ausgehen, nur wir beide allein«, sagte sie später, als ihr Schwips ein wenig verflogen war, am Telefon zu Caroline.

»Aus welchem Anlaß?«

»Es gibt keinen. Noch nicht. Aber ich arbeite daran.« Sie unterbreitete ihren Plan.

Widerstrebend erklärte sich Caroline zur Mithilfe bereit und machte das Angebot, das Janie sich erhofft hatte.

»Caroline, das ist toll – du ahnst nicht, wie sehr ich deine Begleitung zu schätzen weiß.«

Die Freundin jammerte ein wenig: »Ich hoffe, diesmal läuft es besser als das letzte Mal, als wir uns aufgemacht haben, um dir etwas zu beschaffen, was jemand nicht herausrücken wollte.«