KAPITEL 18
Janie ging nicht mehr davon aus, daß selbstverständlich eine wohlmeinende Person vor der Tür stand, als es läutete. Das gehörte zu einer anderen Phase ihres Lebens.
War diese neue Vorsicht nun gut oder schlecht? Was würden ihre Freunde sagen, wenn sie sehen könnten, wie sie durch den Türspion linste?
Michael und Caroline würden es untereinander besprechen, ehe sie eine Meinung äußerten, die sich nicht vorhersehen ließ. Bruce würde sofort gut sagen. Tom würde eine Weile darüber nachdenken und es schließlich schade finden. Kristina, die jetzt ungeduldig vor ihrer Tür stand, würde über machen-Sie-die-Tür-auf hinaus keine Meinung haben.
»Ich habe Ihre Nachricht bekommen!« Damit fiel ihr die junge Frau ins Haus. »Wahrscheinlich bedeutete sie, daß Sie mir etwas zeigen wollen.«
»Stimmt«, antwortete Janie nervös. Sie winkte dem Mädchen, und während Kristina hereinspazierte, sah Janie sich hastig draußen um, musterte den Gehsteig, die Einfahrt, die Büsche. Kristina starrte sie mit echter Besorgnis an.
»Sind Sie in Ordnung?«
»O ja, ich denke schon – aber ich brauche länger, als ich dachte, um die Unruhe nach dem Einbruch loszuwerden. Hoffentlich dauert es nicht ewig!«
»Hoffe ich auch«, sagte Kristina. Sie reichte Janie eine braune Papiertüte. »Hier, das hilft vielleicht.«
Unverzüglich fischte Janie einen Becher Eiscreme aus der Tüte und sagte strahlend: »Oh, das wird mich entschieden aufheitern.«
Ihre Paranoia begann zu schwinden. »Schauen wir mal, was wir da haben.«
Janie hob den Pappbecher an und las das Etikett. Sie sah, daß der Geschmack genau ihrer ausgefallenen Vorliebe entsprach, eine klebrige Mischung aus Schokolade, Buttertoffee und Nüssen – und ihr dankbarer Gesichtsausdruck wich einem deutlichen Argwohn.
Irgendein magischer Zufall, oder …
»Woher wußten Sie, daß das mein Lieblingseis ist?«
Kristina reagierte mit einem kleinen, nervösen Gestotter, gab aber keine präzise Antwort.
»Hören Sie«, legte Janie los, »Sie müssen ein bißchen vorsichtiger mit all diesen Einzelheiten umgehen, die Sie über jedermann zu wissen scheinen! Ich kann darüber hinwegsehen, aber jemand anders würde Sie vielleicht für eine arrogante Besserwisserin halten und vor die Tür setzen.«
Kristina wirkte betroffen und setzte zu einer Entschuldigung an.
»Ich wollte nicht …«
Janie wandte sich ab, damit Kristina das Lächeln nicht sah, das ihr entschlüpfte. Sie entwickelte allmählich einen gesunden Respekt vor der offensichtlichen Kompetenz des Mädchens und mochte sie im Grunde. Aber es war trotzdem befriedigend, sie zu verunsichern. Janie hätte Kristina gern dasselbe gesagt, was ihre eigene Mutter ihr vorzuhalten pflegte, wenn sie zu sehr von sich selbst eingenommen war: Jedesmal, wenn du dich umdrehst, gibt es hinter dir jemanden, der schlauer ist als du.
Aber ich bin nicht ihre Mutter.
Sie stellte den Eisbecher auf die Arbeitsplatte und holte Schalen und Löffel aus dem Schrank. »Na schön, Schwamm drüber! Natürlich vermute ich, daß Sie mich alle beobachten. Und dies geht wirklich ein bißchen zu weit.« Sie klopfte auf den Deckel des Eisbehälters, dessen Kondenswasser jetzt auf die Platte tropfte. »Aber ich verzeihe Ihnen, daß Sie mein Lieblingseis kennen, weil dies in der Tat mein Lieblingseis ist, und ich bin froh, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, es aufzutreiben.« Sie lachte lautlos, als sie sich erinnerte. »In den ersten drei Wochen, als ich von zu Hause weg und auf dem College war, aß ich so viel Eis, daß ich es danach nicht mehr sehen konnte, bis ich ungefähr fünfundzwanzig war. Aber seit ich wieder welches esse, kann ich nicht genug davon kriegen.«
Kristina zog ihre leichte Jacke aus und hängte sie über einen Küchenstuhl. »Und in dieser Zeit waren Sie auch Vegetarierin.«
Janie starrte sie erneut ungläubig an – erst vor ein paar Augenblicken hatte sie sich über genau dieses Verhalten beschwert. Wie schnell Sie vergessen! Die Mutter in ihr wollte schon mit einem strengen Verweis reagieren, aber dann sprach sie doch eine eher sanfte Ermahnung aus: »Also gut, wenn Sie jetzt nicht sofort damit aufhören, muß ich Sie auf den Boden zurückholen.« Sie wies auf eine Schublade. »Da drin sind die Löffel.«
Janie fand den Eisportionierer an seinem üblichen Platz und füllte die beiden Schalen. Sie setzten sich damit zu beiden Seiten vor Virtual Memorial an den Küchentisch. »Den ganzen Tag habe ich nichts von Ihnen gehört, deswegen dachte ich, ich komme mal schnell vorbei«, begann Kristina.
»Ich hatte heute viel zu tun und sowieso mit Ihnen gerechnet – Ihre Nachricht von heute nachmittag ist angekommen. Und gestern hatten Sie mir gesagt, Sie würden sich heute abend sehen lassen, wissen Sie das nicht mehr?«
Janie merkte sofort, daß Kristina sich versteifte. Das Mädchen antwortete nicht auf die Frage, sondern reagierte mit einer Gegenfrage, die etwas defensiv klang. »Womit hatten Sie denn so viel zu tun?«
Janie versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen, obwohl die Wendung, die das Gespräch nahm, sie beunruhigte.
»Morgens habe ich in der Stiftung gearbeitet, dann hatte ich einen privaten Termin und bin mit einem alten Freund wandern gegangen ….«
»Sie wandern gern?«
»Oh, wußten Sie das nicht? Na, das ist aber mal eine angenehme Abwechslung – nein, scharf drauf bin ich nicht. Aber jemand hat mich eingeladen.«
Vermutlich wissen Sie auch, wer, dachte sie.
»Außerdem mußte ich – ein bißchen Dampf ablassen. Übrigens, V. M. hatte ich die ganze Zeit bei mir. Und heute abend habe ich mir ein paar der demographischen Auswertungen angesehen.« Sie. machte eine kurze Pause. »Und eine genetische durchführen lassen.«
Bei dieser Information veränderte sich Kristinas Gesichtsausdruck. »Haben Sie irgendwas gefunden?«
Janie drehte den Bildschirm des Computers so, daß auch Kristina ihn gut im Blickfeld hatte. »Schauen Sie«, sagte sie, »und entscheiden Sie selbst.«
Das Display zeigte lauter ausgewählte Ergebnisse – Graphiken, Listen, Reihenfolgen. Janie berührte eine Stelle des Bildschirms, und sofort erschien eine Graphik, die alle bisherigen Daten zusammenfaßte sowie das Auftreten von Ähnlichkeiten zeigte. »Hier haben wir eine geographische Spitze, aber das wußten wir ja schon; meiner Ansicht nach ist das eher zufällig, einfach ein sekundäres Resultat auf der Basis wichtiger gemeinsamer Faktoren. Ich denke, man kann ruhig sagen, daß an der Ostküste mehr Juden leben als im Bibergürtel.« Sie berührte eine bestimmte Spitze der Graphik, und in einem Fenster erschienen wichtige Details der betreffenden Daten. »Der wichtigste gemeinsame Faktor ist immer noch Camp Meir, und sie waren, wie Sie an dieser Zeile sehen können, alle im selben Jahr dort, ummittelbar vor dem ersten Ausbruch von MR SAM.«
Kristinas Stimme klang eine Spur enttäuscht: »Aber damit hatten wir doch mehr oder weniger gerechnet.«
»Ich weiß«, meinte Janie. »Nichts davon überrascht mich. Und offen gestanden glaube ich nicht, daß wir in den demographischen Daten mehr finden als das. Es scheint eine Sackgasse zu sein. Ein bißchen mehr könnte bei den Krankengeschichten herauskommen, da die noch nicht alle vollständig sind – aber ich habe nicht das Gefühl, daß das etwas Weltbewegenderes zutage fördern wird. Doch wir werden sie uns ansehen, denn ich könnte mich ja auch irren … ist schon vorgekommen.«
Sie rechnete mit Kristinas Erheiterung, aber das Mädchen war ganz auf den Bildschirm konzentriert. Also holte Janie tief Luft und fuhr fort: »Aber … hier, hier denke ich, daß wir an der richtigen Stelle suchen.« Sie berührte wieder den Bildschirm, diesmal bei dem Symbol für die genetische Auswertung. Eine Reihe von Optionen erschien. »Da sind ein paar interessante Dinge aufgetaucht.«
Kristinas Züge spannten sich noch mehr an, als sie die Information auf dem Bildschirm las. Vorzeitige Falten erschienen auf ihrer Stirn, während ihre Augen von Zeile zu Zeile huschten. »Die genetischen Auswertungen kann ich immer kaum erwarten, bis ich draufkomme, was sie bedeuten könnten.« Es folgte ein besorgter Blick auf Janie. »Hier sehe ich ein paar Krebsfälle.« Sie ließ ihren Finger über den Bildschirm gleiten und prüfte Spalte um Spalte.
»Hier Darmkrebs, da Hodenkrebs, aber das ist wohl nicht so furchtbar schlimm …« Auf einem speziellen Namen blieb ihr Finger hängen. »Oh, Scheiße, dieser Junge wird demnächst eine Bauchspeicheldrüse brauchen.« Bekümmert strich sie sich das Haar aus der Stirn. »Na ja, vielleicht gibt es auch dafür eine Behandlung, bis das akut wird.«
»Oder wir finden eine Methode, die Organe zu züchten, die wir benötigen«, sagte Janie in sehnsüchtigem Ton. »Aber schauen Sie, hier – da haben wir einen schwebenden Fall der Lou-Gehrig-Krankheit.« Sie lehnte sich zurück und sah Kristina an. »Haben Sie eine Ahnung, ob man die Jungen oder ihre Familien über die möglichen Folgen aufgeklärt hat?«
»Das bezweifle ich. Warum sollte sich jemand überhaupt dafür interessieren, außer Versicherungsgesellschaften, meine ich … und ich weiß nicht, wie wir es feststellen sollten. Wir können ja wohl kaum zu den Eltern gehen und sagen: ›Entschuldigen Sie, hat Ihnen jemand mitgeteilt, daß Ihr Sohn in der Blüte seines Lebens einen langsamen und qualvollen Tod sterben wird, daß er seine Tage sabbernd und sich einnässend beschließen wird?‹ Vor allem, da wir dieses genetische Material auf ziemlich fragwürdige Weise ergattert haben.«
Todernst kommentierte Janie: »Keines dieser Probleme wird eine große Rolle spielen, wenn sie nicht alle von ihrer gegenwärtigen Erkrankung genesen. Und da wir einmal beim Thema sind …«
Sie rief eine weitere Seite des Programms auf. »Hier ist das, was ich für das mögliche Verbindungsglied halte. Ich habe es bei jedem von ihnen gefunden.«
Es war ein spezielles Gen auf einem speziellen Chromosom mit einem einfachen kleinen Fehler, einer Wiederholung eines Adenin-Thymin-Paares, das an einer Stelle saß, wo es nicht hingehörte.
Kristina berührte ein paar Symbole auf dem Bildschirm und rief eine graphische Darstellung des betreffenden Gens auf. »Hallo, mein Freund«, sagte sie, und ihr Gesichtsausdruck verriet verbotene, schuldbewußte Erregung. Sie tippte das Symbol an, das dem Computer befahl, seine richtige wissenschaftliche Bezeichnung zu zeigen. Die Buchstaben und Zahlen erschienen auf dem Monitor, und Kristina wandte sich mit unendlich befriedigter Miene Janie zu. »Ich wußte es!«
»Was wußten Sie?«
»Daß wir etwas in der Art finden würden.«
Janies Augen verengten sich; sie starrte die junge Frau an, die neben ihr saß. »Wieso haben wir dann diese ganzen Suchen und Auswertungen gemacht?«
»Weil es nicht hundertprozentig feststand, daß wir dieses spezielle Gen finden würden«, sagte Kristina. »Mein Bauch hat mir nur gesagt, daß wir eines finden würden. Irgendwo. Mit etwas wie dem hier.«
»Wie was?«
Kristina zeigte auf den Namen des Gens auf dem Bildschirm. Die Buchstaben waren rot unterstrichen. »Ich schätze, ich sollte das erklären. Sie haben das Programm noch nie benutzt. Wir haben es so eingerichtet, daß es bestimmte Dinge erkennt und in verschiedenen Farben anzeigt.«
»Was zum Beispiel?«
»Nun, das Programm sucht nach spezifischen Eigenschaften in den Genen, während es sie liest, Eigenschaften, die für uns potentiell interessant sind.« Sie blies durch die Nase und wies mit dem Finger auf die Darstellung auf dem Bildschirm. »Dieses spezielle Gen, das, das Sie bei jedem der Jungen gefunden haben, hat etwas, das sich als eine sehr interessante Eigenschaft erweisen könnte. Es ist meines Wissens nach patentiert.«
»Das verstehe ich nicht«, zweifelte Janie. »Ein angeborenes Gen kann man nicht patentieren.«
Kristina nickte. »Ich weiß.«
»Dann … dann ist dieses Gen …«
»Hmm«, bestätigte Kristina, »dieses Gen ist nicht angeboren. Es muß eingeschleust worden sein.«
Die verstörende Offenbarung veranlaßte Janie, sich sofort wieder ihrem Eis zuzuwenden. Die Schale in der Hand, rollte sie sich fast defensiv auf der Couch Kristina gegenüber zusammen, löffelte kleine Bissen und behielt jedesmal den Löffel im Mund, bis das Eis geschmolzen war. Gedankenverloren und ausdruckslos starrte sie vor sich hin, bis die Schale leer war.
Sie klopfte mit dem Löffel an das Porzellan, ohne zu merken, wie entnervend das Geräusch war. Schließlich streckte Kristina den Arm aus und nahm den Löffel aus ihrer Hand.
Janie kam wieder zu sich.
»Zu schade, daß es keine Pennys mehr gibt«, meinte Kristina, »sonst würde ich Ihnen einen Penny für Ihre Gedanken bieten.«
Mit zynisch verzogenen Lippen erwiderte Janie: »Diese Gedanken sind vermutlich ein bißchen mehr wert als das.«
Die junge Frau griff in die Tasche ihrer Jeans und nahm einen Vierteldollar heraus, den sie einmal mit dem Daumen drehte. Dann schob sie ihn über den Couchtisch. »Denken Sie laut«, bat sie.
»Was ich denke, gefällt mir nicht. Ich habe das Gefühl, wenn ich es ausspreche, wird es real.«
»Wir würden diese Sache nicht sehen, wenn sie nicht bereits real wäre. Daher können Sie Ihre Meinung ruhig äußern.«
Mit ernster, ja grimmiger Miene sagte Janie: »Ein Gen kann nur patentiert werden, wenn es verändert worden ist. Dieses Gen muß also jemandem entnommen, verändert und dann diesen Jungen eingepflanzt worden sein. Anders kann es nicht gewesen sein.« Sie seufzte tief. »Wir müssen herausfinden, wer das getan hat. Aber der Teil, der wirklich aufregend wird« – sie rieb sich die Schläfen und schloß die Augen –, »ist die Entdeckung, wie man es repariert.«
Die Liste der Variablen schien zu wachsen und nicht zu schrumpfen, wie Janie erwartet hatte. Jede neue Information löste nicht etwa ein Problem, sondern warf ein weiteres auf. Da sie es vor sich sehen mußte, kritzelte Janie, sobald Kristina gegangen war, mit roter Tinte auf einen Stenoblock mit lila Linien. Es sah unordentlich aus wie alle ihre Notizen seit ihrem Medizinstudium. Auch Alejandro war Arzt, schalt sie sich selbst, und er hatte eine wunderschöne Handschrift. Sie versuchte, lockerer zu schreiben und lange Buchstaben mit zarten Ober- und Unterlängen zu bilden, wie ihr Held es sogar in seinen verzweifeltsten Stunden beibehielt.
Aber es wurde nicht besser, und sie kam zu dem Schluß, daß das mehr an dem lag, was sie geschrieben hatte – als an ihrer Handschrift.
Verändertes Gen beginnt als angeborenes Gen. Wessen? Patient Null.
Angeborenes Gen wird verändert. Von wem? Und warum?
Verändertes Gen wird reproduziert und zum Patent angemeldet. Patent wird gewährt – wem? Und zu welchem potentiellen Gebrauch?
Irgendwo mußte es angefangen haben. Irgendwann mußte ein Kind mit dieser speziellen genetischen Anomalie in die Obhut eines Orthopäden mit starkem Interesse an Genetik geraten sein. Und das mußte vor den Ausbrüchen geschehen sein, damals, als Patienten manchmal noch wählen konnten, von wem sie sich behandeln ließen, und Ärzte innovative Behandlungsmethoden anwendeten, ohne fürchten zu müssen, behindert oder geächtet zu werden. Beziehungsweise finanziell ruiniert.
Der ganzen Situation haftete der Beigeschmack von nicht beendeter Forschungsarbeit an. Vielleicht war das Projekt schiefgelaufen, aufgegeben und später von jemand anderem wieder aufgegriffen worden, der eine andere Vorstellung davon hatte, was dabei herauskommen sollte. Vor ihrem geistigen Auge sah Janie das Knochenbild von Abrahams Wirbelsäule nach dem Bruch. Es machte sie wütend – das Rückgrat des Jungen sah aus, als hätte jemand einen Hammer genommen und darauf geschlagen, bis es kein Stück mehr gab, das größer war als eine Zehncentmünze. Was für einen tragischen, entsetzlichen Fehler hatte da jemand begangen.
Denn es mußte ein Fehler gewesen sein, ein ursprünglich gutgemeinter Versuch, etwas Nützliches zu vollbringen, der irgendwie schrecklich gescheitert war. Es war einfach unmöglich, daß ein anständiges menschliches Wesen, das sich mit der Behandlung eines anderen menschlichen Wesens befaßte, solche Dinge geschehen ließ, ohne darüber zu berichten.
Und wenn es leider kein Unfall war, sondern Absicht, dann würde Janie, wenn sie den Verantwortlichen dingfest gemacht hätte, ihm erbarmungslos in den Hintern treten.
Weißt Du, wie sehr ich dich liebe? begann die E-mail. Wie sehr ich mir wünsche, bei Dir zu sein? Was Du mir bedeutest? Ich spüre, daß Dein Leben sich mit Ablenkungen füllt, die Dich von mir und den Dingen entfernen, die für uns wichtig sind. Zwar habe ich kein Recht, Dir vorzuschreiben, was Du tun sollst – aber ich bitte Dich zu bedenken, was aus unserem Leben wird, wenn Du den Weg weitergehst, den du eingeschlagen hast. Ich habe Angst, daß Du etwas Wichtiges übersiehst, irgendein Signal von bevorstehendem Verhängnis oder Gefahr, und daß Dir etwas zustößt.
O Bruce, dachte sie traurig, bitte tu das jetzt nicht … stell dich mir bitte nicht in den Weg.
Seine Nachricht ging weiter: Wir müssen dringend in Island darüber reden.
Island! dachte sie, als sie das las. Hilfe … wie kann ich diese Arbeit unterbrechen, um nach Island zu fahren?
Hektisch tippte sie eine Nachricht an das Reisebüro in den Computer – konnten die Buchungen geändert und die Reise verschoben werden, vielleicht um eine Woche? Bruces Visum galt einen ganzen Monat lang. Und ihr eigenes war sicher auch auf das Ende dieses Monats zu verschieben … sie würde auch mehr bezahlen, falls notwendig.
Während die Nachricht übertragen wurde, erschien der kleine Postbote auf ihrem Bildschirm.
Schon wieder? Ich habe doch erst vor zehn Minuten alle Nachrichten abgerufen.
Es gab keine Antwortadresse, keinen Absender, überhaupt keine Information über die Quelle. Die Nachricht gehörte also potentiell zu denen, die man sofort ungelesen löschen sollte.
Sie las sie trotzdem.
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt zum Aufhören.
Eine Antwort war möglich, aber wieder ohne Adresse. Wenn sie also reagierte, würde sie nicht wissen, wohin diese Antwort ging – genau wie bei der ersten Nachricht von Wargirl. Aber diese E-mail war freundlich gewesen, die jetzige hingegen eindeutig nicht!
Stop, rief Bruce ihr zu. Geh, hatte Tom ihr geraten. Sei vorsichtig, lautete Carolines Mahnung. Es war eine einzige große innere Ampel.
Janie sah nur Grün.
Das glaube ich nicht, tippte sie als Antwort. Und drückte auf das Symbol ABSENDEN.
Sandhaus würde es wissen, er war der Mann für Antworten. Er mied Computer, weil er selbst einer war.
»Was wäre die beste Quelle für Krankengeschichten aus der Zeit vor den Ausbrüchen?« fragte Janie ihn.
»Wonach genau suchen Sie denn?«
»Nach einem Patienten Null. Er müßte an irgendeiner Wirbelsäulenverletzung gelitten haben.«
Der Professor kicherte. »Oh, ja, das wird leicht zu finden sein!«
Er dachte einen Augenblick nach. »Ich würde bei NIH anfangen. Nehmen Sie die Studie der Stiftung über Wirbelsäulenregeneration zum Vorwand, um reinzukommen.«
Es wäre nicht allzu schwierig, einen plausiblen Grund für eine rückwirkende Suche zu finden. »Und wenn ich Informationen über Ärzte will, die bei den Ausbrüchen gestorben sind?«
»Janie? Da fragen Sie noch? Der amerikanische Ärzteverband. Die AMA.«
Vorübergehend verstummte sie. »Ich hasse die AMA. Die sind meine Blockierer …«
»Liegt auf der Hand … Ich mag sie auch nicht, und glücklicherweise habe ich nicht allzuviel mit ihnen zu tun. Aber wenn irgend jemand Unterlagen über Ärzte hat, dann sie. Lassen Sie sich bloß einen freundlich klingenden Grund für Ihre Anfrage einfallen.«
»Die Familie einer Frau, die an Osteoporose-Komplikationen gestorben ist, möchte mit einem Teil ihres Vermögens einen Lehrstuhl stiften, aber anonym bleiben. Deshalb haben sie uns von der Stiftung gebeten, einen Orthopäden zu suchen, jemanden, der nach den Ausbrüchen etwas wirklich Sinnvolles gewagt hat, falls er oder sie da noch lebte.«
»Ich werde Ihnen gern eine Liste schicken, aber die ist wahrscheinlich ziemlich lang … das waren harte Zeiten für Ärzte.«
»Ja, nicht wahr? Aber eine lange Liste ist gut; wir führen gern die notwendigen Recherchen durch, wenn alle Namen darauf stehen. Keinesfalls möchten wir versehentlich jemanden übersehen.«
»Unsere Akten sind absolut vollständig. Und ich besorge sie Ihnen gern. Aber ich habe eine Bitte an Sie – würden Sie vielleicht so freundlich sein, uns den Namen des Erwählten mitzuteilen, wenn die Entscheidung gefallen ist? Das wäre sehr nett.«
»Kein Problem. Ich werde Ihnen selbstverständlich mitteilen, auf wen wir uns konzentrieren.«
»Fein. Wir halten uns gern auf dem laufenden über unsere Mitglieder, selbst wenn sie nicht mehr bei uns sind.«
»Ja«, sagte Janie bitter, »das weiß ich.« Sie gab dem Public-Relations-Beauftragten der AMA ihre E-mail-Adresse bei der Stiftung.
Die Liste kam weniger als eine Stunde später und führte eine entmutigende Anzahl von verheißungsvollen und prominenten Orthopäden auf, die den bösen Bakterien des neuen Jahrtausends zum Opfer gefallen waren, insgesamt fast vierhundert.
Und das sind bloß die, die damals noch in der AMA waren.
Derjenige, den sie eigentlich wollte, war möglicherweise nicht einmal dabei.
Doch mit schmerzlichem Hohn erinnerte sie sich daran, sollten die Akten ja zuverlässig vollständig sein. Sie fragte sich, wie ihre eigene Akte bei der AMA aussehen mochte, entschied dann aber, daß solche Spekulationen kein produktiver Gebrauch von Speicherplatz im Gehirn waren.
Für die vor ihr liegende Liste galt das nicht. Durch wiederholte und logische Eliminierungsprozesse auf der Grundlage von Spezialisierungen, Wohnort, Mitgliedschaft in der Vereinigung und einigen weiteren Faktoren engte sie die Liste auf fünfzehn mögliche Kandidaten ein.
Die Frage nach dem Patienten Null war wirklich nicht so leicht zu lösen.
Sah es in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg so ähnlich aus – alle Akten ein Chaos, einige Leute, die ihre Identität unbedingt wiederherstellen wollten, andere, die genauso verzweifelt versuchten, ihre auszulöschen? Vermutlich, dachte Janie. Vieles von dem, was während MR SAMS Aufstieg an die Macht vorging, blieb undokumentiert – weil die Leute viel zu sehr damit beschäftigt waren, am Leben zu bleiben, um sich über die Registrierung dessen Sorgen zu machen, wer was mit wem angestellt hatte und aus welchem Grund. Viele Menschen waren einfach in dem verschwunden, was inzwischen scherzhaft als Schwarzes Loch der Ausbrüche bezeichnet wurde. Janie argwöhnte, daß dieses Schwarze Loch in Wirklichkeit ein ganz normales Leben unter einer ausgetauschten Identität bedeutete – das Leben von Leuten, die vor dem ganzen Horror zu den Randgruppen gehört hatten, den Marginalen, die ihre eigene Zukunft so weit verbaut hatten, daß sie in keiner Weise mehr dem amerikanischen Traum entsprachen. Welche idealere Möglichkeit gab es, noch einmal von vorn anzufangen, als unter der alten Identität zu sterben und als unbescholtener normaler Bürger wieder aufzuerstehen? Das würde sich niemals rekonstruieren lassen.
Schulen? Krankenhäuser? Wohltätigkeitseinrichtungen? Alle hatten wahrscheinlich Unterlagen, beklagenswert unvollständig, und vieles von dem war sicherlich auf Big Dattie übertragen worden; doch alle diese Informationen standen zweifellos unter dem Schutz der Gesetze über die Privatsphäre.
Das galt allerdings auch für legitimierte Forscher.
Wir haben das schon einmal gemacht.
Doch das hatte sich als tödlich erwiesen; die tragischen Konsequenzen würden ihr für den Rest ihres Lebens Schuldgefühle verursachen, was auch für Michael und Caroline galt. Janie konnte sie nicht nochmals um Hilfe bitten.
Aber Sandhaus einzuschalten war eine andere Sache. Er hatte zwar gegen die ganze Computerei seine Vorbehalte, doch irgendwo in seiner akademischen Trickkiste der forensischen Kriminologie gab es sicher einen erlesenen Hacker – vermutlich den einen einzigen Hacker, der noch nicht im Gefängnis saß.
Sie wurde nicht enttäuscht. »Ja, ich kenne jemanden«, bestätigte er, »aber der ist ein gieriges Miststück. Und irgendwie unheimlich.«
»Wieviel?«
»Zehntausend Credits, schätze ich.«
Ehe sie antwortete, schluckte sie. »Das ist ziemlich happig.«
John Sandhaus zuckte mit den Schultern. »Billiger als ein Auto.«
»Ich will kein Auto kaufen, sondern nur Zugang zu gewissen Informationen.«
»Dann finden Sie jemand Betuchten, der einspringt.«
Zögern. Kannte er jemanden? Er schien überall seine Verbindungen zu haben. »Ich kann ja niemanden fragen, bevor ich sicher weiß, wie hoch die genauen Kosten sein werden.«
»Also vorausgesetzt, Sie kriegen das Geld, müssen Sie es folgendermaßen angehen …«
Es war, als kehre sie an den Schauplatz eines Alptraums zurück, den sie innerlich immer wieder durchgespielt hatte und der sie sehr unglücklich machte. Aber da, an einem Ende der Theke aus Chrom und Holz in einer entmutigend ähnlichen Computerbar, saß ein Mann, und das mußte derjenige sein, den zu kontaktieren John Sandhaus ihr geraten hatte. Sie erkannte ihn an dem auf seinen Unterarm tätowierten Cursor.
Wie irgendein Vamp in einem schlechten Film starrte Janie durch den überfüllten Raum auf den »Gentleman«, der alles andere als das zu sein schien, und schenkte ihm ein einladendes Lächeln. Er musterte sie kühl amüsiert von oben bis unten, als sie auf ihn zuging – Trotz seiner pockennarbigen Haut und vielen Falten, besaß er eine bemerkenswert trainierte Figur. Sein Haar war ölig und in glatten Wellen zurückgekämmt. Sie erwartete fast, eine selbstgerollte Zigarette hinter seinem Ohr zu erblicken, denn er roch schwach nach Tabak. Das fast leere Glas in seiner rechten Hand, von dem sie annahm, es enthalte Scotch, erklärte den anderen Geruch. Die Gesamtwirkung seiner Erscheinung verriet, daß er sich bemühte, cool zu altern.
Jetzt mußte sie ebenfalls das coole Girl herauskehren, was sie ziemlich ärgerlich fand. »Hi«, sagte sie und deutete auf den Barhocker neben seinem. »Ist da noch frei?«
Lässig winkte er ihr zu.
Als sie auf den gepolsterten Ledersitz glitt, dachte Janie unwillkürlich: Diese Mata-Hari-Masche wird nicht funktionieren; ich sollte ihm einfach sagen, was ich will.
Aber er war ein recht angenehmer Typ. »Ich hatte gehofft, daß Sie sich entschließen, sich neben mich zu setzen. Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«
Sie war überrascht, etwas zu hören, das sie für einen französischen Akzent hielt; das erklärte auch den Tabak und den Matrosencharme.
»Das wäre nett, vielen Dank!«
Er senkte leicht das Kinn, und wunderbarerweise erschien sofort der Barmann. Janie war beeindruckt. Sie hätte zehn Minuten gebraucht, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Worauf haben Sie Lust, Mademoiselle?« erkundigte sich der Hacker.
Ach du süßer Junge, du weißt einfach, wie wir nicht ganz taufrischen Mädels dahinschmelzen, wenn man uns »Fräulein« nennt …. und gleich wirst du mir irgendein blumiges Kompliment machen, etwa, daß ich gut rieche.
»Pinot Noir, bitte«, bestellte sie bei dem Barmann, »wenn Sie einen guten offenen haben.«
»Bringen Sie eine Flasche vom besten«, korrigierte der Franzose. Und als Janie zu protestieren versuchte, winkte er mit einer Geste ab. »Den trinke ich am liebsten. Woher wußten Sie das?«
Er hatte ein schönes Lächeln. Im Gegensatz zum Rest seiner etwas rauhen Erscheinung waren seine Zähne in Ordnung und sahen unglaublich gesund aus. Janie dachte, nachts im Glas auf dem Nachttisch müßten sie sich hinreißend machen. Innerlich lächelte sie, denn seine potentielle Anziehungskraft ließ entschieden nach, als sie ihn sich zahnlos vorstellte.
Die Flasche kam, dazu zwei Gläser. Mit einem einzigen Schluck kippte er den Rest seines Scotchs und schenkte ihnen beiden ein. Feierlich stellte er ein Glas vor sie hin und hob dann seines. »Worauf wollen wir trinken?«
»Auf die Pinot-Traube als eine von der Natur feinsten Gaben!«
Sie stieß mit ihrem Glas gegen seines und führte es dann an die Nase, um das Bouquet zu genießen. Erfreut schloß sie einen Moment die Augen, öffnete sie dann wieder und trank langsam einen Schluck von der klaren roten Flüssigkeit.
»Ach … himmlisch«, schwärmte sie. »Jetzt sind Sie mit dem Trinkspruch an der Reihe.«
»Auf meine entzückende Gefährtin!« Er beugte sich etwas dichter zu ihr und schnupperte zart. »Wer riecht denn hier so wunderbar?«
Als die Flasche fast leer war, hatte sie ihn auf fünftausend Credits für eine halbe Stunde Wandern durch Big Dattie heruntergehandelt, eine Summe, die sie sich selbst leisten konnte, falls Kristinas »Agentur« nicht zahlen wollte; sie würde mit Freuden zahlen, wenn sie sie bei ihrer Suche so viel weiterbrächte, wie sie hoffte. »Ich muß nur die Garantie haben, daß der Zugang vollkommen anonym bleibt. Sie können niemandes Identitätsnummer verwenden.«
»Abgemacht«, versicherte er ihr mit blitzenden Plastikzähnen.
»Nicht nur niemandes …«
Sie fragte sich, was er wohl damit meinte, wagte aber nicht zu fragen. Es käme bald genug heraus. Sie vereinbarten Zeit und Ort für ein weiteres Treffen, das nach ihrer Rückkehr aus Island stattfinden sollte. Janie ging nach Hause, um weiter an der Liste der Dinge zu arbeiten, die sie nicht wußte.