KAPITEL 4

Auf dem Stuhl neben Abraham Prives’ Bett im Jameson Memorial Hospital saß eine Frau, die jeder leicht als Mutter des Jungen erkennen konnte, nicht nur an der Ähnlichkeit, sondern auch an ihrem vergrämten Gesichtsausdruck. Soeben wollte Janie an die offene Tür klopfen, hielt jedoch einen Moment inne, als sie erkannte, daß Mrs. Prives die Hand ihres Sohnes umklammerte und leise zu ihm sprach. Vielleicht störte sie …

Vermutlich kann er alles hören, dachte Janie traurig, während sie in einiger Entfernung stehenblieb, obwohl sie das erst sicher wissen konnte nach der Untersuchung des Gehörs des Jungen. Bis dahin würde die Mutter warten – auf irgendein Zeichen, daß er sie wahrnahm, auf irgendeinen Hinweis, daß der Junge, den sie gekannt hatte, wieder zum Vorschein käme. Janie wußte, daß sie sich dabei in zahlloser Gesellschaft befand; denn irgendwo auf der Welt wartete immer eine Mutter darauf, daß ihr Kind von irgend etwas zurückkehrte.

Vor demselben Krankenhaus hatte Jahre zuvor Janie selbst gestanden, vor einem hastig errichteten Zaun, einer grausamen Folge des Kriegsrechts, das weder sie noch sonst eine der Personen neben ihr in den Jahren vor dem Ausbruch von MR SAM je erlebt hatte. Während ihres ganzen Lebens hatte es innerhalb des Landes keine Kriege oder Aufstände gegeben, doch der Zaun als solcher wirkte wie eine feindliche Invasion. Die verhaßte Barriere hatte ihre schmutzige Arbeit getan und war inzwischen längst abgebaut worden; doch ihr Anblick blieb für immer in Janies Erinnerung eingebrannt. Sie und Hunderte von anderen hatten um Einlaß gebettelt und gefleht; doch sie wurden von den schußbereiten Waffen der Polizisten, die dieselbe Angst schüttelte wie die Menge vor ihnen, in Schach gehalten. Viele Menschen auf beiden Seiten hatten Angehörige in diesem Krankenhaus – oder Freunde oder Kollegen, die plötzlich den Killer-Bakterien zum Opfer gefallen waren. MR SAM hatte alles verändert, überall und fast für jedermann; mittlerweile hatten sich die Umstände zwar gebessert und das Leben war normaler geworden, aber nie wieder würde es wie früher sein.

Sie stand an der Tür zum Zimmer des Prives-Jungen und wartete darauf, daß drinnen etwas geschah. Dabei rieb sie gedankenverloren an der Injektionsstelle in ihrer Handfläche, während Erinnerungen an jene dunklen Tage von neuem in ihr aufstiegen. Ihre Sinne spielten ihr einen psychologischen Streich, und alles wirkte wieder ganz real: der kalte Maschendraht des Metallzaunes, der feuchte, metallische Geruch, den er an ihren Fingern hinterließ, die blinkenden Lichter der Ambulanzwagen, die hintereinander langsam die State Route 9 zum Hospital rollten und das provisorische Krematorium ansteuerten, das noch nicht abgerissen worden war. An Regentagen glaubte Janie manchmal, den Geruch der Leichen in der Luft zu spüren, die man verbrannt hatte, damit die Geißel, die sie vernichtet hatte, sich nicht ausbreitete. Aber es war doch passiert, und an manchen Orten existierte sie noch immer. Sie würde niemals ganz unter Kontrolle gebracht werden. Höchstens unterdrückt.

Eine von diesen Leichen war ihr einziges Kind, das nicht zurückkehren würde, wie lange Janie auch warten mochte.

Sie ließ noch einige Sekunden vergehen und klopfte dann leise. Die Mutter drehte sich nach ihr um.

Zögernd sagte Janie: »Mrs. Prives?«

Ein hoffnungsvolles Nicken.

»Ich bin Janie Crowe von der New Alchemy Foundation. Wir, eh …«

Mrs. Prives, eine Frau mit leicht birnenförmiger Figur, ergrauendem Haar und Brille mit dicken Zweistärkengläsern, stand in Windeseile auf und strich sich mit einer nervösen Geste den Rock glatt. »Oh, ja«, sagte sie mit schwacher Stimme.

Janie blieb auf der Schwelle stehen und wußte nicht, was sie tun sollte. Mrs. Prives winkte mit der Hand. »Bitte. Kommen Sie herein.«

»Ich möchte nicht stören …«

Ein angedeutetes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Frau.

»Ich habe doch ein Kind. Da ist man allerhand gewöhnt.« Sie wandte sich wieder ihrem Sohn zu. »Abe ist nicht – wach, ich glaube nicht – also werden Sie ihn ohnehin nicht stören.«

Janie erwiderte das Lächeln, als sie an das Bett trat. »Man weiß nie. Hoffentlich störe ich ihn. Und ich hoffe auch, daß wir bald wissen werden, ob er uns bemerkt oder nicht.«

Mrs. Prives sah ihren Sohn an und dann wieder Janie. »Das wäre sicher ein Fortschritt. Haben Sie irgendwelche neuen – ich meine, gibt es Neuigkeiten?«

Janie wußte, was sie fragen wollte. Es machte sie traurig, daß Leute oft meinten, sich entschuldigen zu müssen, wenn sie nach Informationen hungerten. Wie kam es, daß diese Scheu sich so schrecklich weit ausgebreitet hatte, so jämmerlich allgemein geworden war? Oft empfand sie sie selbst auch voller Grimm, weil das, was diese Scheu vor Fragen auslöste, nur Angst sein konnte.

»Es würde mich freuen, wenn wir ihn in das Patientenpflegezentrum der Stiftung aufnehmen könnten. Ich will aber offen zu Ihnen sein, denn da bestehen einige Schwierigkeiten. Es gibt finanzielle Probleme, die noch nicht geklärt sind.«

Bitterkeit machte sich auf dem Gesicht der Mutter bemerkbar.

»Wie immer!«

»Auf keinen Fall möchte ich Ihnen unbegründete Hoffnung machen. Aber wenn Ihnen das ein Trost ist, Sie sind nicht allein – wir versuchen, noch einen anderen Jungen aufzunehmen, der ähnlich betroffen ist wie Abraham …«

»Inwiefern ähnlich?« unterbrach Mrs. Prives sie.

»Die gleiche Art von Knochenzersplitterung.«

»Die Leute haben mir gesagt, daß solche Brüche selten sind.«

»Nun ja, das glauben wir alle …«

»Glauben?«

Janie zögerte, da sie ihre Antwort so klar und so wenig entmutigend wie möglich formulieren wollte. »Genaugenommen ist darüber noch nicht viel nachgedacht worden. Daran sehen Sie, wie selten sie sind. Im Moment geht es um die Genehmigung zu einer landesweiten Befragung, ob es noch weitere Fälle gibt.«

»Und die ist schwer zu bekommen?«

»Leider oder zum Glück, je nach Standpunkt, ja, sozusagen schwierig. Aber nicht unmöglich. Die Erfolgsrate der Stiftung bei Anträgen auf Zugang zur Datenbank ist recht gut.«

»Wo ist dieser andere Junge?«

»Boston.«

»Oh! Also eigentlich nicht von hier.«

Janie schwieg einen Moment. »Nein, wohl nicht.« Während sie im stillen die Finger kreuzte und sich wünschte, der Antrag, den sie bereits eingereicht hatte, würde genehmigt, dachte sie: In einem solchen Fall wäre sogar dieselbe Erdhalbkugel so etwas wie »von hier«.

Abrahams wegen mußte sie so viele Telefonate führen, daß sie ihren Nachmittagstermin fast vergessen hätte. Aber schließlich kam ein Zwischenmoment, in dem Janie einen raschen Blick in ihren Kalender warf, und da war sie – eine Verabredung, bereits vor ein paar Tagen getroffen und beinahe vergessen …

Reine Verleugnung, wurde ihr klar. Sie griff nach ihrer Tasche und rannte hinaus.

Der dunkelgetäfelte und mit Messing beschlagene Aufzug, in dem sie nach unten fuhr, sah noch immer nach der Handelsbank aus, die früher in diesem Gebäude residiert hatte. Sie war übernommen worden, als der Vorstand und die meisten Aufsichtsratsmitglieder sich tief vor MR SAM verneigten und nicht wieder hochkamen. Das war ein klassischer Fall von Konsolidierung mitten in den Ausbrüchen, bei dem ein dicker Fisch, ein Großkonzern, bewies, daß ein kleinerer Konzernfisch in der Nahrungskette unter ihm stand, indem er ihn schluckte. Der größte Teil des Profits kam dabei ein paar ehrgeizigen, vom Glück begünstigten Aktionären zugute, die den Weitblick besaßen, ihre Ernte einzufahren, solange die Seuche wütete.

Janies Timing war besser als gewöhnlich – der Bus, der zur Universität fuhr, schaukelte gerade um die Ecke, als sie die Granittreppe hinunterstieg. Sie legte ihre rechte Hand auf den Türsensor und stieg ein, nachdem sich die Klappen mit dem Geräusch entweichender Luft geöffnet hatten. Dabei wünschte sie sich, sie hätte das Benzin rechtfertigen können, um diese Fahrt mit dem Auto machen zu können. Es hätte sicher weniger Zeit gekostet. Irgendwo in Big Dattie würde der Zähler für ihre Busfahrten auf dieser Strecke um einen Punkt höher springen, sobald das System ihre Tagesdaten gespeichert hatte. Doch da sie alleinstehend und kinderlos war und keine alten Angehörigen besaß, die sie unterstützen mußte, kam sie nicht in den Genuß der billigsten Benzinpreiskategorie; außerdem verbrauchte sie viel zuviel von ihrer jährlichen Zuteilung für fragwürdige kleine Ausflüge. Also würde der Zähler weiterhin ab und zu höher klettern. Sie zwang sich, nicht mehr daran zu denken.

Wenn sie bloß die Einwanderung erleichtern würden, dann würde es vielleicht genug Arbeiter geben, die die Benzinproduktion wieder normalisierten, dachte sie sehnsüchtig, als der Bus sich wieder in den Verkehr einfädelte.

Vielleicht könnte Bruce einreisen, wenn er bereit wäre, für eine Raffinerie zu arbeiten …

Sie schnaubte leise bei der absurden Erkenntnis, daß ihr Liebhaber auf der anderen Seite des Ozeans, falls es ihm jemals gelingen sollte, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, als Arbeiter auf einem Ölfeld mehr Geld verdienen würde als als Krankenhausarzt.

Das National Hebrew Book Depository lag nur einen kurzen Fußweg von der Endhaltestelle des Busses entfernt. Man ging über einen Weg aus Schieferplatten in den dichten Park am südlichen Ende des Universitätsgeländes. Das Depository selbst, harmonisch und unauffällig zwischen die Bäume integriert, war ein verblüffender zeitgenössischer Bau. Er erweckte den täuschenden Eindruck, kaum mehr als eine Hütte im Gehölz zu sein, so geschickt war er angelegt. Janie hatte sich über das Gebäude informiert und wußte, daß es sich aufgrund der fast unanständigen Beharrlichkeit der Kuratorin, die sie heute aufsuchen wollte, geradezu perfekter Sicherheit rühmen konnte. Die roh behauenen Balken, mit denen es verkleidet war, verbargen eine Konstruktion aus bomben-, kugel- und feuersicherem Stahl und Beton; sie schützte den kostbaren Inhalt vor jedem bösartigen Unfug, den eine politisch so brisante Einrichtung geradezu anziehen mußte.

Die Kuratorin, Myra Ross, war eine gedrungene, grauhaarige Dame in den Sechzigern, deren Kleinwuchs in keinem Verhältnis zu ihrer immensen Persönlichkeit stand. Als sie sich zum erstenmal getroffen hatten, vor ein paar Wochen bei einer Vernissage, hatte die winzige Person mit unverhülltem Neid zu der großen, schlaksigen und noch immer dunkelhaarigen Janie aufgeblickt und sie dann prompt mit Witz und Charme und unglaublicher Intelligenz beeindruckt. Janie fand den Neid erheiternd angesichts der Tatsache, daß die Kuratorin so grenzenlose Energie und Vitalität zu besitzen schien, die ihr selbst auch nicht annähernd zur Verfügung stand.

An diesem Tag begrüßte sie Janie in dem Empfangsbereich vor ihrem Büro mit einem kräftigen Händedruck. Als sie sie dann hineinführte, sagte sie: »Ich muß Ihnen gestehen, Dr. Crowe, es gibt selten so viele Geheimnisse um eine potentielle Stiftung. Gewöhnlich weiß ich, wegen welcher Dinge die Leute mit mir Kontakt aufnehmen. Aber Sie haben mich völlig verwirrt und, möchte ich hinzufügen, fasziniert.« Sie wies auf einen dick gepolsterten Sessel, in dem Janie Platz nahm.

Mit einem raschen Rundblick stellte die Besucherin fest, daß die Wände des Büros mit einer eindrucksvollen Sammlung von Diplomen und Auszeichnungen geschmückt waren, durchsetzt von Fotos der Dame selbst, die an der Seite einer erstaunlichen Vielfalt von prominenten Spendern posierte.

»Sie haben Barbra Streisand getroffen?« begann Janie ehrfürchtig.

»Mehrfach. Sie ist eine herausragende Mäzenin des Depository.«

»Wie wirkt sie?«

»Oh, in der Tat reizend«, schwärmte Myra. »Eine echte Dame! Im Gegensatz zu einigen anderen Spendern. ›Hier ist der Scheck, und nun verschwinden Sie‹ – so einen Ton haben manche an sich. Sie wollen eigentlich gar nichts mit uns zu tun haben. Aber Barbra war tatsächlich zur privaten Eröffnungsparty hier. Eine eindrucksvolle Persönlichkeit, das kann ich Ihnen sagen. Und sie ist immer noch eine schöne Frau. Wir sollten alle so gut aussehen.«

»Nicht in diesem Leben«, meinte Janie mit einem nachsichtigen Grinsen.

»Nun ja … jeder hat seine Bürde. Aber Sie, wenn ich das sagen darf, haben keinen Grund, sich zu beklagen. So, und nun erzählen Sie mir ein bißchen mehr über dieses Buch, das Sie da haben. Wie ich schon sagte, ich bin fasziniert!«

Janie holte tief Luft. »Ich glaube, es ist eigentlich eher ein Journal oder Tagebuch als ein Buch«, erläuterte sie. »Ein jüdischer Arzt muß damit im vierzehnten Jahrhundert begonnen haben. Dann wurde es an eine Reihe von Menschen weitergegeben, die es als das benutzten, was es war – in erster Linie ein Handbuch der Medizin, denke ich. Alle haben etwas hineingeschrieben, aber dieser jüdische Arzt initiierte das Ganze – auf fruchtbarste Weise.« Sie legte eine Pause ein. »Ehrlich gesagt, wäre ich sehr überrascht gewesen, wenn Sie vorher schon einmal etwas von diesem Journal gehört hätten. Es war nie in Umlauf, zumindest soweit ich im Bilde bin. Mehr als sechshundert Jahre lang befand es sich am gleichen Ort, einem kleinen Haus außerhalb von London. Ein bißchen von dem, was Sie als ›Geheimnis‹ bezeichnen könnten, ist mit seinem Weg in meine Hände verbunden. Deswegen war ich diesbezüglich nicht sehr mitteilsam.«

»Ich wünschte, Sie würden mir verraten, wie Sie daran geraten sind, Dr. Crowe. Selbstverständlich werde ich alles, was Sie mir mitteilen, streng vertraulich behandeln.«

»Ist mir klar«, murmelte Janie, »und ich glaube Ihnen auch. Aber es gibt einige – potentiell – illegale Dinge, könnte man wohl sagen, die damit zusammenhängen. Auf einmal erwiese es sich als fatal, wenn Sie davon wüßten … zumindest teilweise.« Sie rutschte unbehaglich in ihrem Sessel herum. »Aber inzwischen bin ich der Meinung, daß das Objekt an einen sichereren Ort gebracht werden sollte als dort, wo es sich jetzt befindet. Und nach einer solchen Aufbewahrung sehe ich mich im Moment um. Sie sind meine erste Station.«

Myra Ross warf Janie einen unerwartet strengen Blick zu, ungefähr so, als drohe sie ihr mit erhobenem Zeigefinger. »Sie müssen mir verraten, ob es gestohlen ist. Denn wenn das der Fall wäre, das verstehen Sie natürlich, können wir es niemals …«

»Nein. Ich habe es nicht gestohlen. Und vermutlich hat es auch niemand anders gestohlen. Wie ich schon sagte, sehr lange Zeit war es für die Welt verloren. Bis – nun, ich möchte nur anmerken, daß der letzte Besitzer des Buches tot ist – er kam bei dem Feuer um, das sein Haus zerstörte.«

Das war die Wahrheit, wenn auch etwas gedehnt. »Er hatte keine Erben. Als es passierte, habe ich das Buch gerettet. Sonst wäre es mit verbrannt. Ein unschätzbarer Verlust, glauben Sie mir!«

»Wenn es so ist, wie Sie sagen, dann nimmt es jetzt sicher seinen richtigen Gang.« Myra lehnte sich zurück und musterte Janie ein paar Augenblicke, maß sie von Kopf bis Fuß. »Sie möchten Ihr Journal also vielleicht hier unterbringen. Verzeihen Sie, wenn ich so unverblümt rede, aber ich denke, Sie wünschen dafür eine Gegenleistung. So läuft das gewöhnlich.«

»Was ich möchte, ist garantierter Zugang zu dem Journal – ganz gleich, wann. Und Ihr Versprechen, daß Sie es, wenn Sie es von mir erwerben, niemals an jemand anderen weiterverkaufen.«

»Nun, den Zugang kann ich Ihnen nur dann versprechen, wenn das Depository geöffnet hat, es sei denn, Sie melden sich vorher an. Wir würden unser Bestes tun, um Ihnen entgegenzukommen, wenn Sie es hier unterbringen. Aber Sie verstehen, daß es Sicherheitsvorkehrungen gibt.«

»Ja, natürlich. Das schwebt mir ja vor.«

»Und was einen Verkauf betrifft – jeder Zweifel an Ihrer Eigentümerschaft würde auf uns übergehen, wenn wir es von Ihnen erstehen – also sind uns ohnehin die Hände gebunden. Aber der Besitzanspruch würde bei uns definitiv mehr Fragen aufwerfen als bei Ihnen – es wäre also vielleicht keine gute Idee, daß wir Eigentümer werden. Es besteht eine Menge anderer Möglichkeiten. Die erste, die mir einfällt, ist eine Vereinbarung, daß mehrere Einrichtungen wie unsere sich für eine vertraglich abgesicherte … ›Dauerleihgabe‹ einsetzen. Auf diese Weise würde das Buch immer Ihnen gehören. Wir würden es hier nur aufbewahren und ausstellen – jedoch bliebe es immer Ihr Besitz. Sie können darauf Kredit aufnehmen, wenn Sie Geld brauchen, es zu persönlichem Gebrauch zurücknehmen, wenn Sie das wünschen, und so weiter. Sicher haben Sie in Museen schon Plaketten gesehen, auf denen etwas steht wie ›Leihgabe aus der Sammlung Soundso‹.«

»Ja, habe ich. Aber ich möchte nicht, daß mein Name offiziell erscheint.«

»Dann könnte es lauten: ›Anonyme Sammlung‹, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Ja, entschieden.«

»Das wäre kein Problem. So etwas ist durchaus üblich. Wenn nun die Vereinbarung für Sie zufriedenstellend ist und Sie beschließen, das Buch bei uns verwahren zu lassen, dann nehmen wir sofort eine Schätzung vor, um es angemessen zu versichern. Wie hoch haben Sie es zur Zeit versichert?«

»Gar nicht, muß ich leider zugeben. Zumindest nicht außerhalb meiner normalen Hausratversicherung.«

Mit tadelndem Blick fragte die Kuratorin: »Wie können Sie nachts schlafen, Dr. Crowe?«

Schuldbewußt schlug Janie die Augen nieder. »Ich weiß nicht. In manchen Nächten schlafe ich offen gestanden gar nicht. Das ist mit ein Grund für mein Hiersein.«

»Nun, dann lassen Sie uns tun, was wir können, um dem abzuhelfen, ja? Bringen Sie mir diesen Schatz, damit ich ihn mir ansehen kann. Je eher, desto besser. Und seien Sie vorsichtig.«

An den Zeitunterschied gewöhnte Janie sich einfach nicht. Sie war noch bei der Arbeit, und Bruce machte sich fertig, um zu Bett zu gehen. Der Anruf war verabredet, aber sie hatte sich um ein paar Minuten verspätet. Als sie sich einschaltete, war er längst da, lächelte eifrig von ihrem Computerbildschirm, eine Vision in kariertem Flanell.

»Hübscher Pyjama«, sagte sie. »Ist der neu?«

»Ja. Gefällt er dir?«

»Chic.«

»Bei Harrod’s war Ausverkauf. Für dich habe ich auch eine Kleinigkeit gekauft. In der Wäscheabteilung.«

»Oooh, zeig sie mir!«

»Nein. Das wird warten müssen, bis ich dir gegenüberstehe.«

»Und das wird, wie ich dir erfreut berichten kann, nächsten Monat sein.«

»Wirklich? Du liebe Güte, das ist toll! Wohin fahren wir?«

»Du wirst es nie erraten. Island.«

Seine Erregung klang ein wenig ab. »Da hast du recht. Darauf wäre ich nie gekommen.«

»Das Reisebüro sagt, daß es dort wirklich wunderschön ist.«

»Janie, es ist ein riesengroßer Felsblock. Mitten im Nirgendwo.«

»Macht uns das etwas aus? Wir werden zu tun haben. Und das Reisebüro will mir einen Prospekt schicken. Wenn wir nicht beschäftigt sind, werden wir also wissen, was es sonst zu unternehmen gibt.«

»Für wie lange kannst du weg?«

»Fünf Tage, vielleicht sechs.«

»Dann brauchen wir keine Prospekte.«

Sie lachte. »Das habe ich auch gedacht. Das Reisebüro schickt mir in den nächsten paar Tagen die endgültigen Unterlagen.«

»Gut. Du wirst sie mir faxen …«

»Natürlich, sobald ich sie habe.« Sie schwieg einen Moment.

»Himmel, wie ich dich vermisse! Ich weiß, das kommt nicht rüber durch die Leitung, aber ich hoffe, du weißt und fühlst es. Das ist obligatorisch!«

»Ich fühle es«, bestätigte er. »Und ich vermisse dich auch.«

»Tut mir leid, daß sich mein Anruf verspätet hat.«

»Schon in Ordnung! Ich war sowieso nicht richtig müde. Seit ein paar Nächten wälze ich mich jetzt schon schlaflos herum und komme anscheinend nicht zur Ruhe – all diese Energie, die kein Ventil hat.«

Sie kicherte ungezogen. »Stimmt etwas nicht mit deiner rechten Hand?«

»Ha ha! Ich bin Linkshänder, weiß du nicht mehr?«

»Ach ja. Es ist so lange her, daß ich’s vergessen habe. Wie auch immer, entschuldige bitte. Ich hatte eine wichtige Verabredung.«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Heute nachmittag war ich im Hebrew Book Depository.«

Bruces Miene verfinsterte sich ein wenig. »Wozu?«

»Ich denke daran, das Journal dort unterzubringen.«

»Herrjemine, das schon wieder … du hast mir versprochen, nicht mehr so besessen davon zu sein.«

»Das bin ich auch nicht – bloß vorsichtig. Ich mache mir Sorgen – was wäre, wenn ihm etwas passieren würde? So was könnte ich mir niemals verzeihen.«

»Janie – was soll denn passieren? Du hast einen Feuermelder … und sagst, du wohnst in einem sehr sicheren Viertel …«

»Ja, schon, aber nicht weit von hier hat es ein paar Einbrüche gegeben. Man weiß nie …«

»Und natürlich wird ein Dieb nach einem alten, vermoderten Schinken Ausschau halten, wenn dein ganzer Schmuck im Haus ist. Hör mal, Janie – ich glaube nicht, daß du dir Sorgen machen mußt, es könnte abhanden kommen.«

»Vielleicht nicht. Aber ich tu’s trotzdem.«

»Also, das klingt ziemlich überflüssig. Aber es ist ja deine Angelegenheit. Ich denke nur, daß es eine Menge wichtigerer Dinge gibt, für die du im Augenblick deine Energie aufwenden könntest.«

Auf einmal stockte das Gespräch.

»Wo wir schon davon reden, hast du irgendwelche Neuigkeiten?« fing Bruce schließlich wieder an.

Mit einem Seufzer antwortete Janie: »Hm … Tom hat mir mitgeteilt, daß der Antrag auf Wiederzulassung erneut abgelehnt wurde.«

»Das tut mir leid für dich«, sagte Bruce leise. Er wartete einen langen Augenblick, bevor er die nächste Frage stellte. »Was hat er über die andere Sache herausgefunden?«

»Noch nichts Wesentliches.«

»Haben sie ihm irgendeine Andeutung gemacht, wann sie eine Entscheidung treffen würden?«

»Nein.«

»Das zieht sich ganz schön in die Länge.«

Janie nickte zustimmend. »Ich hatte wirklich gehofft, ich wüßte inzwischen mehr über den Zeitpunkt.« Sie benutzte Toms Worte vom Vortag: »Wir werden uns wohl noch etwas gedulden müssen.«

»Ja, sieht so aus. Es ist bloß schwer … aber danke, lieber Himmel, daß wir uns nächsten Monat sehen. Fühlt sich an, als hätte ich dich seit Ewigkeiten nicht mehr im Arm gehabt. Leibhaftig, meine ich.«

Traurig lächelte sie. »Das stimmt ja auch.«

Es dauerte stets eine Weile, nach dem Gespräch mit Bruce zur Ruhe zu kommen, und so blieb Janie etwas länger an der Arbeit, um sich einigen der dummen, geisttötenden Details zu widmen, die zu ihrem Job gehörten. Sie füllte Beobachtungsprotokolle aus, schickte Daten ab und befaßte sich mit ihrer Korrespondenz, die sie größtenteils elektronisch erledigte.

Sie wollte ihre E-mails abrufen und sah auf dem Bildschirm das übliche lustige Männchen in amerikanischer Postuniform, das eine Handvoll Briefe schwenkte, also warteten Botschaften auf sie. Nachdem er einen kurzen Steptanz vollführt hatte, war er bereit, all ihre postalischen Bedürfnisse zu erfüllen.

Wenn es um meine Bedürfnisse bezüglich Männern ginge, wären wir im Geschäft, dachte Janie …

Sie stellte alles zusammen, listete es auf und schickte es los. Dann rief sie die wartende Korrespondenz ab.

Wie üblich bestand das meiste aus unnützem Zeug. Es gab einen kurzen Liebesbrief von Bruce vor ihrem Telefonat und eine Einladung zu einem Seminar für Medizintechnologie, gesponsert von der medizinischen Fakultät, an der sie studiert hatte. Ein Haufen unerwünschter Werbung, die sie mit hämischem Vergnügen löschte. Dann erschien noch eine seltsame, kurze Nachricht:

Wer sind Sie?

Janie starrte den rätselhaften Satz an, der mit Wargirl unterzeichnet war. Irgendwie gab er ihrem Gemüt einen Schubs und faszinierte sie, obwohl sie den Grund nicht recht erkannte.

Sie sah sich die elektronischen Details der Mitteilung an. Aufgrund der mangelnden Kennzeichnung war es eine persönliche Mitteilung, keine Werbung oder eine sonstige versteckte Kaufaufforderung. Aber damit erschöpften sich ihre Ermittlungen auch schon, denn Datum und Zeitpunkt der Botschaft waren nicht zugänglich, und eine Antwortadresse fehlte. Allerdings leuchtete die Markierung ›Antwort möglich‹ auf – Janie konnte antworten, wenn sie wollte. Sie würde nur nicht wissen, wohin ihre Mitteilung ging – Warum hatte sich jemand die Mühe gemacht, eine Beantwortung zu ermöglichen? Anonym war das ein recht komplizierter Vorgang, absichtlich so eingerichtet, um es E-mail-Spinnern möglichst unbequem zu machen.

Also handelte es sich um eine Person, die entweder kein Spinner oder ein sehr entschlossener Spinner war.

»Okay, ich spiele mit«, flüsterte sie laut. Wer will das wissen? schrieb sie zurück.

Wargirl. Der Deckname klang jung. Kids, dachte sie. Schlaue Kids. Zu schlau.

Dann erledigte sie rasch einige Telefonate. Zuletzt rief sie John Sandhaus an.

»Ich habe etwas gefunden, was so aussieht, als würde es sich lohnen, es weiter zu verfolgen, aber nicht über das Ednet«, berichtete er ihr. »Da gibt es eine Internet-Adresse, von der mir einer meiner Studenten erzählt hat. Man skizziert seinen Vorschlag, und sie vergleichen ihn mit einer Liste von Sponsoren für die Art von Arbeit, für die man sich interessiert. Der ganze Vorgang dauert nur ein paar Tage.«

»Hört sich zu einfach an …« Janie blieb skeptisch.

»Ja, natürlich. Und er hat einen Haken. Sie berechnen eine Gebühr von einem Prozent, wenn man das Geld tatsächlich erhält. Wenn man es nicht bekommt, kostet es nichts.«

»Dann ist es einen Versuch wert, denke ich, vor allem, da die Gebühr nur bei Erfolg fällig wird. Wenn sie das Geld vorher haben wollten, würde ich es nicht ins Auge fassen.«

»Nein, ich auch nicht. Warum kommen Sie nicht vorbei, und ich helfe Ihnen, das Formular auszufüllen?«

»Sie erklären sich tatsächlich freiwillig bereit, einen Computer anzurühren?«

»Wer hat denn gesagt, daß ich ihn anrühre? Sie werden diejenige sein, die das Ding bedient. Meine Wenigkeit steht bloß hinter Ihnen und bellt Anweisungen. Es ist den Versuch wert, glaube ich, und außerdem, was haben Sie zu verlieren?«

Potentiell ein Stück Privatsphäre – obwohl Janie nicht wirklich annahm, daß davon noch viel übrig war. GetGrant – so hieß die Adresse – gab sich nicht mit ihrer eigenen E-mail-Adresse und einer Beschreibung des Projekts zufrieden, das sie wahrscheinlich übertrieben detailliert schilderte. Sie wollten auch alles andere über sie wissen, ungefähr bis hinunter zur Schuhgröße.

»Macht es Ihnen nichts aus, all diese Informationen von sich preiszugeben?« fragte John.

Während sie die letzten Details eintippte, antwortete Janie ihm:

»Über mich steht schon so viel in allen möglichen Datenbanken, daß es eigentlich keine Rolle mehr spielt. Das Zeug ein weiteres Mal preiszugeben, wird an meinem Leben nicht viel ändern.«

Hoffe ich jedenfalls, fügte sie im stillen hinzu.