KAPITEL 13
Wo in der Nacht zuvor kühles Mondlicht durch das offene Fenster gefallen war, strömten jetzt heiße Sonnenstrahlen herein. Es brannte auf der Haut von Kates nacktem Arm, und zwar so sehr, daß es sie weckte. Sie öffnete die Augen, schaute hinaus und sah, daß die Sonne schon hoch am Himmel stand. Obwohl sie offenbar lange geschlafen hatte, fühlte sie sich immer noch müde. Langsam setzte sie sich auf und sah sich um.
Karles Kleidung lag nicht mehr in der Ecke, und sie fragte sich, wie er es fertiggebracht hatte, all das stinkende Zeug wieder anzuziehen. Vorsichtig erhob sie sich, um sich langsam an die aufrechte Haltung zu gewöhnen, und zog dann ihre Bluse und den Rock über ihr dünnes weißes Hemd. Das einstige Weiß war jetzt grau und fleckig von der Reise. Eine gründliche Wäsche und ein paar Stunden Trocknen in der Sonne würden Wunder wirken, dachte sie sehnsüchtig, als sie mit den Fingern ihr Haar kämmte. Aber dieser Luxus war in weite Ferne gerückt, ganz zu schweigen von warmem Wasser, einem Waschtrog und Seife.
Im Krug befand sich noch ein Rest vom letzten Abend, sie spritzte sich das lauwarme Wasser ins Gesicht, da verging ihre Müdigkeit ein wenig. Ihr knurrender Magen befahl ihr, nach etwas Eßbarem zu suchen, und umgehend begab sie sich nach unten ins Hauptgeschoß.
Am Tisch des komfortablen Salons traf sie sowohl Etienne Marcel als auch Guillaume Karle an. Beide beugten sich aufmerksam über etwas, das nach Landkarte aussah. Kate vermutete, daß sie ganz vom Geschäft ihrer Revolte in Anspruch genommen waren. Allerdings sahen sie, beide frisch rasiert und ordentlich gekämmt, eher nach Leuten des Königs als nach Rebellen aus. Und zu ihrer großen Überraschung trug Karle eine frische Ausstaffierung. Wahrscheinlich von Marcel geliehen. Die Vorstellung erheiterte sie ein wenig; die beiden waren gleich groß, aber Marcel war viel dicker, ein rundlicher älterer Herr und ziemlich verbraucht. Karle dagegen war schlank, geschmeidig und, wie sie sich irritiert eingestand, sehr männlich gebaut. Nun, es spielt keine Rolle, ob die Kleider an ihm herunterhängen, dachte sie erleichtert. Wenigstens werden sie nicht riechen.
»Bonjour«, sagte sie leise, und die Männer blickten zu ihr auf.
»Ah! Mademoiselle!« grüßte Marcel schnarrend, erhob sich halb von seinem Stuhl und nickte herablassend in ihre Richtung. »Ihr habt so fest geschlafen, daß Marie schon fürchtete, Ihr wärt vielleicht zu Eurem Gott heimgekehrt. Ich bin erleichtert zu sehen, daß das nicht der Fall ist. Wir haben Euch erwartet und Euch etwas Brot zum Frühstück aufgehoben. Geht hinunter in die Küche, dort werdet Ihr Marie finden. Sie versorgt Euch!« Dann widmete er sich wieder seinen Obliegenheiten, und Kate war entlassen.
Sie sah Guillaume Karle an, der etwas höflicher nickte als Marcel. Doch sein Ausdruck konnte einen Triumph nicht ganz verbergen, als gebe es zwischen ihnen irgendeine unerklärliche, nicht definierbare Intimität. Kate fühlte sich auf einmal unbehaglich, lächelte knapp und zog sich, so rasch es ging, zurück.
Die Küche roch nach Seifenlauge, und Kate mußte sich ihren Weg zwischen Guillaume Karles naß aufgehängten Kleidern bahnen, um die Magd Marie zu finden. Sofort und empört platzte diese heraus: »Er wollte sie in diesem Haus doch tatsächlich wieder anziehen. Aber das habe ich nicht zugelassen.«
»Sehr weise von Euch«, lobte Kate. Sie nahm einen Hemdsärmel und hielt ihn sich unter die Nase. Sie roch nicht nur scharfe Seife, sondern dabei auch einen schwachen Duft von Lavendel. Karle war es gewiß gleichgültig, welchen Geruch seine Kleider ausströmten; Kate fragte sich, ob die Dienerin Lavendel ins Waschwasser gegeben hatte, damit er seiner Gefährtin gefiel – nämlich ihr selbst. Wirkten sie wie ein Paar? Welche Art von Paar? Sie wagte nicht, sich zu erkundigen. »Ihr habt Wunder gewirkt«, sagte sie statt dessen. »Monsieur bemerkt wahrscheinlich gar nicht, was Ihr ihm da Gutes tut, aber ich schon. Merci! Übrigens, Monsieur Marcel hat mir kühn versichert, ich würde bei Euch etwas Brot finden.«
Marie nickte und holte einen kleinen Laib aus einem Korb.
Kate nahm ihn begierig entgegen. Sie hielt ihn sich unter die Nase und sog das köstliche Aroma ein. »Woher stammt dieser feine Weizen?«
»Monsieur hat seine Verbindungen«, antwortete das Mädchen achselzuckend. »Das geht mich nichts an. Ich nehme einfach, was Madame mir gibt, um das Haus zu führen.«
»Ist Madame gegenwärtig im Haus?«
»Mais non, Mademoiselle. Monsieur hat sie weggeschickt, zu ihrem eigenen Schutz. In den Süden, wo sie bei ihrer maman wohnt.«
»Und Ihr habt sie nicht begleitet?«
Das Mädchen antwortete mit einem koketten Augenaufschlag:
»Natürlich nicht. Wer sollte sich dann um die Bedürfnisse von Monsieur le Provoste kümmern?«
Ja, wer? fragte sich Kate. Das Brot in ihren Händen war fast noch warm. Sie brach ein kleines Stück ab und steckte es in den Mund. Es war nicht das grobe, körnige Brot, das die Bauern aßen, sondern ein goldener Laib aus feinem, leichtem Mehl, selbst in Friedenszeiten ein Leckerbissen. Kates Erstaunen wuchs, als die Dienerin in einen Schrank griff und eine schöne, reife Pflaume herausnahm. Marie überließ sie ihr mit einem Grinsen, und Kate flüsterte leise:
»Mon Dieu! Wie köstlich.«
Sie setzte sich in der kühlen Kellerküche auf einen Hocker und aß ihre Schätze mit dem Behagen dessen, der mit solchen Wonnen vertraut ist, sie aber seit langem nicht mehr genießen konnte. Dann, nachdem sie ihren Durst mit Wasser gestillt und sich ausgiebig bei ihrer Wohltäterin bedankt hatte, gesellte sie sich wieder nach oben zu den Männern.
Kate traf sie beim Pläneschmieden an, nachdem sie die weinseligen Meinungsverschiedenheiten der vorigen Nacht offenbar bereinigt hatten. Als das Mädchen in Hörweite gelangte, sagte Marcel soeben:
»Die Bündnisse sind völlig unklar.«
Sie sah, wie sich der Finger des Provosts über die Karte bewegte.
»Alle sind zerstreut«, fuhr er fort, »sowohl unsere Verbündeten als auch unsere Feinde. Navarra ist hier, im Château de Coucy, wo der Baron ihn aufgenommen hat.«
Ich kenne den Namen von Coucy, wurde Kate klar. Sie überlegte, wo er ihr schon begegnet war.
Am Hof meines Vaters. Sie trat näher.
Marcel gefiel das gar nicht. Er sagte nichts, sondern starrte Karle an, als verlange er wortlos, daß dieser etwas gegen ihre Anwesenheit unternähme.
Kate wartete Karles Reaktion nicht ab, sondern trat noch näher und blieb hinter ihm stehen. Interessiert spähte sie ihm über die Schulter.
Marcels Augen verengten sich mißtrauisch. »Kann sie Karten lesen?« fragte er Karle spitz.
Guillaume Karle wirkte, als werde er nervös, und stand auf.
»Bitte entschuldigt uns einen Augenblick, Monsieur le Provoste.«
Er nahm Kate beim Arm und führte sie in einen Nebenraum, wo sie unter vier Augen miteinander sprechen konnten.
»Bitte, junge Frau!« appellierte er an ihre Vernunft. »Ich muß mich mit Marcel beraten, solange ich die Möglichkeit dazu habe. Eigentlich möchte ich Euch nicht allein lassen oder Eure Klugheit unter den Scheffel stellen – aber ich fürchte, es ist unumgänglich.«
»Und was soll ich anfangen, während Ihr Euch um diese wichtigen Angelegenheiten kümmert?«
Karle vermochte darauf nicht sofort zu antworten, doch nach kurzem Überlegen schlug er vor: »Vielleicht muß die Marie auf den Markt gehen. Könntet Ihr sie begleiten?«
Sie erwog die unwahrscheinliche Möglichkeit, daß Karle Marcel gesagt hatte, sie sei eine Magd, und erkannte unglücklich, daß der Provost sie tatsächlich behandelte, als halte er sie für eine Dienerin. Das versetzte ihr einen unerwartet scharfen Stich, aber sie behielt es für sich. »Was ist mit der Rückkehr in die Rue des Rosiers?« fragte sie leise.
»Wir gehen heute nachmittag, sobald ich mit Marcel fertig bin.«
Wütend, verletzt und verwirrt willigte sie ein, ihn mit Marcel allein zu lassen. »Sehr wohl«, meinte sie einsilbig, »ich werde sehen, ob das Mädchen Begleitung wünscht.« Abrupt wandte sie sich um und eilte in die Küche. So würde ihr schmutziges Hemd am Ende doch zu seiner Wäsche kommen.
Erst nachdem sie ihr Hemd gewaschen, getrocknet und wieder angezogen hatte, erschien Guillaume Karle endlich, um sie in die Rue des Rosiers zu begleiten.
Sie sammelte ihre wenigen Habseligkeiten ein und verabschiedete sich von Marie, die sich in der kurzen gemeinsamen Zeit als angenehme Gesellschaft erwiesen hatte. Marcel war anderweitig beschäftigt, daher konnte sie ihm nicht persönlich danken – was sie auch nicht besonders reizte, denn er hatte etwas an sich, das ihr ein unangenehmes Kribbeln im Rücken verursachte. Vielleicht empfand Karle dasselbe, aber sie fragte nicht danach. Bald, wenn sie wieder mit père zusammen war, würde das alles keine Rolle mehr spielen.
»Ich vertraue darauf, daß Ihr ihm meine Dankbarkeit übermittelt, wenn Ihr zurückkehrt«, sagte sie zu Karle, als sie die Treppe hinunterstiegen.
»Ihr könnt auf mich zählen, Mademoiselle«, versprach er galant.
»Ich werde es nicht versäumen.«
»Heute nachmittag hättet Ihr mich beinahe im Stich gelassen«, warf sie ihm jetzt vor. »Ich glaubte schon, Ihr wärt nicht in der Lage, Euch von Eurem Rebellenkameraden loszureißen.«
»Im Augenblick sind wir keine Rebellen. Wir planen den Aufstand erst.« Doch seine Miene verriet Hoffnung und Erregung.
»Marcel glaubt, wenn wir uns zeitweilig mit Navarra verbündeten, wären die Streitkräfte des Königs zu schlagen.«
»Aber – Navarra ist ein Ungeheuer! Ihr müßtet sehr auf der Hut sein!«
»Ich weiß. Trotzdem sollte ich gründlich darüber nachdenken.«
Sie konnte die Unsicherheit in seiner Stimme hören und dachte bei sich, daß er zu Recht zögerte. Doch ein gerissener Provost, ein Politiker mit großer Überredungskunst, dessen Diplomatie er vermutlich nicht gewachsen war, hatte ihn dazu gebracht, dieses seltsame Bündnis in Erwägung zu ziehen.
Vielleicht sollte ich doch versuchen, ihm diesen Weg auszureden. Er überblickt das Ganze nicht.
»Karle, ich denke …«, begann sie.
»Was?«
»Ach … nichts. Es ist nicht meine Angelegenheit.« Denn bald, wenn sie Père wiedersah, würde sie das nichts mehr angehen. Sehr leise sagte sie: »Ich wollte nur ausdrücken, daß ich Euch bei diesem Unternehmen Glück wünsche. Und ich danke Euch, daß Ihr gekommen seid und mich abgeholt habt.« Dann gab sie dem Gespräch eine andere Richtung. »Übrigens keine Minute zu früh! Marie ist eine angenehme Gefährtin, aber ihr Geplapper – Madame dies und Monsieur das! Man könnte meinen, daß das arme Ding nichts anderes kennt als das Innere dieser Mauern. Ich würde sterben, wenn das mein Los wäre.«
»Dann seid dankbar, daß Gott Euch kein solches Leben beschieden hat und daß Ihr etwas anderes kennt als Dienstbarkeit. Aber bedenkt dies: Marie hat ein anständiges Zuhause, bekommt regelmäßig zu essen und kann einen oder zwei sous ihr eigen nennen. Das trifft außerhalb der Mauern von Paris nur auf wenige zu. Innerhalb der Mauern übrigens auch, was Marie anbelangt. Und Marcel hat dafür gesorgt, daß sie ein gewisses Maß an Freiheit genießt, weil das seiner Philosophie entspricht. In diesem Hause verkehren oft Menschen von großem Einfluß. Vielleicht möchte er ihnen ein gutes Beispiel dafür geben, wie man Dienstboten behandeln sollte.«
Er bewundert diesen Marcel viel zu sehr, dachte Kate plötzlich mit erneuter Sorge. Das färbt auf sein Denken ab. »Trotzdem hält er sie als Dienerin.«
»Das ist richtig. Maries Freiheit ist begrenzt. Euch, meine Dame, steht mehr Freiheit zur Verfügung als ihr.«
So weit die Freiheit eben reicht. Aber sie empfand für einen Moment Scham, denn sie wußte, daß er die Wahrheit sprach. »Ich bin dankbar für das, was mir Gott gegeben hat. Aber Er ist eigen mit seinen Gaben. Er gibt und Er nimmt. Er spielt mit mir, denke ich manchmal.«
»Gott spielt nicht mehr und nicht weniger mit Euch als mit allen anderen Sterblichen auf dieser Erde.«
Sie verlangsamte ihre Schritte, blieb dann stehen und starrte ihn’ an. »O doch, Karle, das tut er. Gott hat sehr ausgiebig mit mir gespielt. Und mit père. Mehr, als Ihr jemals ahnt.«
Er erwiderte ihr Starren, und seine Augen brannten vor Neugier.
»Ich flehe Euch an, erzählt es mir.«
Seine Anteilnahme schien so echt, daß sie versucht war, ihm alles zu offenbaren. Es wäre eine solche Erleichterung, freimütig von ihrem Leben zu sprechen, die ganze Wahrheit mit noch jemand anderem als Alejandro zu teilen. Seit ihrer frühen Kindheit hatte sie eine solche Gelegenheit nicht mehr gehabt. Aber diese Entscheidung oblag nicht ihr allein. Père wird dazu auch etwas sagen wollen, dachte sie. »Ich … ich möchte schon, Karle, aber zuerst muß ich darüber mit meinem père sprechen.«
Es plagte ihn die Neugier; aber gleichzeitig erkannte Karle, wie unglücklich es ihn machte, daß Alejandro bald Kate, ihre Gesellschaft, Hingabe und liebende Aufmerksamkeit wieder für sich beanspruchen würde. Ihre bloße Anwesenheit an seiner Seite war ihm ein Trost geworden, und für einen kurzen Moment wünschte er sich von Herzen, die Verantwortung abzuschütteln, die er auf sich genommen hatte – und wieder ein schlichter Mann zu sein, das Blutvergießen hinter sich zu lassen. Wieder ein normales Leben zu führen mit all seinen Prüfungen, Schmerzen und vergänglichen Freuden. Hier an meiner Seite, obwohl kaum mehr als ein Mädchen, ist diejenige, deren Gesellschaft ein gewöhnliches Leben veredeln würde! Sie wäre mein eigentliches Glück!
Aber bald würde sie fort sein. Mit jedem Schritt in Richtung auf den Treffpunkt wurde der Gedanke an die bevorstehende Trennung von ihr bedrückender. Die Rue des Rosiers war nur noch ein kurzes Stück entfernt, als er endlich den Mut fand, sie beim Arm zu nehmen und aufzuhalten. »Ich weiß, Ihr seid ungeduldig; aber ich möchte mit Euch über eine gewisse Angelegenheit sprechen, bevor wir den Treffpunkt erreichen«, eröffnete er ihr. »Es würde mich sehr freuen zu wissen, daß ich Euch wiederfinden könnte, wenn dieser ganze Tumult vorüber ist.« Dann fügte er leise hinzu: »Falls Ihr damit einverstanden seid, gefunden zu werden, meine ich.«
Ihre Blicke trafen sich kurz. Dann wandte Kate sich ab. Selbst in dem dämmrigen Licht sah man, wie ihre Wangen glühten. »Mich würde es auch freuen«, flüsterte sie.
»Was würde Euer père zu der Idee sagen, daß Ihr bei mir bleibt?«
Ihre Miene drückte Überraschung aus. »Ich allein?«
»Nein«, erklärte Karle schnell. »Nein, nein, natürlich alle beide!«
Seltsame, ungewohnte Gefühle erfüllten Kate: Hoffnung, Erregung, Erwartung. Doch alles war von ihrer gegenwärtigen Notlage geprägt. »Ich habe keine Ahnung, was er zu einem solchen Plan sagen würde. Wenn Ihr uns zu Soldaten für Eure Sache machen wollt, wird er wahrscheinlich nicht einwilligen. Aber er muß für sich selbst sprechen, was er zweifellos auch tun wird, wenn Ihr ihm diesen Vorschlag unterbreitet.«
Karle ergriff eine ihrer Hände. Im Gegensatz zu seinen eigenen war sie klein und zart. Mit weit mehr Zuversicht, als er empfand, sagte er: »Und Ihr habt nichts dagegen, daß ich mit ihm über diese Angelegenheit spreche?«
»Nein, Karle, ich … ich … ich glaube, es wäre mir willkommen.«
Jetzt kam er mit seinen Fragen auf den Punkt, den anzusprechen er sich erhofft hatte: »Und wenn Ihr für Euch selbst sprechen solltet, wie würde Eure Antwort lauten?«
»Ich würde ja sagen.«
Das unverhüllte Strahlen auf seinem Gesicht überraschte sie.
»Aber ich muß Rücksicht nehmen auf das, was Père wünscht«, fügte sie schnell hinzu.
»Ein Arzt wäre für unsere Sache sehr nützlich.«
»An einem Krieg wird er nicht teilnehmen wollen, das versichere ich Euch.«
»Dann würde auch eine Hebamme helfen. Ich habe gesehen, wozu Ihr imstande seid.«
Sie lächelte kurz. »Ich habe noch viel zu lernen. Aber ich würde versuchen, Euch zu unterstützen.«
»Ich habe gesehen, was Ihr bewirken könnt«, sagte er. »Doch auch wenn Ihr nur an meiner Seite stehen würdet, zu keinem anderen Zweck, als mich mit Eurer Gegenwart zu trösten, wärt Ihr mir eine wertvolle und höchst erwünschte Kameradin.«
Und nachdem ihre gegenseitige Zuneigung nun endlich, wenn auch unbeholfen, erklärt war, zogen sie weiter.
In dem kleinen Raum, den de Chauliac ihm zugeteilt hatte, verbrachte Alejandro seinen ersten Gefangenschaftstag in behaglicher Abgeschiedenheit. Draußen vor der Tür standen die allgegenwärtigen Wachen, zwei stämmige Soldaten, die untereinander nie ein Wort wechselten, sondern stumm und stoisch ihren Dienst versahen. Alejandro zweifelte nicht daran, daß sie ihr Schweigen brechen und augenblicklich über ihn herfallen würden, wenn er etwas Unbotmäßiges täte. Doch solange er sich still verhielt, ließen sie ihn in Ruhe.
Die Dachkammer gefiel ihm durchaus. Es gab Licht und Luft genug, die Decke war frisch geweißt, und wenn Sonnenschein durchs Fenster fiel, wurde die Wärme von der Decke reflektiert. Sein Kerkermeister war so freundlich gewesen, ihm eine wunderbare Zerstreuung zu bieten – ein kürzlich erworbenes Manuskript einer griechischen Tragödie, ein seltenes und kostbares Exemplar, für das Alejandro trotz allem dankbar war. Er wunderte sich über die Freundlichkeit, die de Chauliac an den Tag legte, indem er ihm dieses wertvolle griechische Buch überließ. Und obwohl das Griechisch des jüngeren Arztes alt und eingerostet war – denn sein Vater mochte diese Sprache nicht –, wußte er noch genug, um den Text überaus fesselnd zu finden. Doch so faszinierend die Lektüre auch war, sie konnte den ständigen, nagenden Zweifel bezüglich Guillaume Karle nicht vertreiben.
Ich bringe ihn mit meinen eigenen Händen um, wenn ihr irgend etwas zugestoßen ist, dachte er. Dann wird er selbst leiden wie kein Christ je vor ihm!
Er hörte das leise Rascheln von Kleidern und nahende Schritte; als er aufblickte, stand de Chauliac auf der Schwelle.
»Guten Tag, Kollege«, sagte der stattliche Graf mit einem Nicken. »Wie steht es mit Euch an diesem schönen Nachmittag?«
Der Arzt sah seinem Häscher kühl entgegen. »Wie es eben geht in Anbetracht einer Gefangenschaft!«
»Mir wäre lieber, Ihr würdet Euch als Gast in meinem Hause fühlen.« Er lächelte mit schmalen Lippen. »Als Gast, der im Augenblick nicht abreisen kann.«
»Eure Gastfreundschaft ist bemerkenswert, Kollege, vor allem in diesen unsicheren Zeiten. Aber ich brauche Euch wohl nicht zu sagen, daß ich lieber in Freiheit Not leiden als Euer verhätschelter Gefangener sein möchte.«
»Vielleicht tätet Ihr gut daran zu erwägen, daß Ihr auch ein Gefangener sein könntet, der obendrein Not leidet«, gab de Chauliac zu bedenken.
Alejandro stand langsam auf. »Ich bin nicht so töricht, diese Möglichkeit auszuklammern.«
De Chauliac lachte. »Ich halte Euch auch nicht für töricht, mein Freund.«
»Überflüssige Schmeicheleien, de Chauliac! Ihr braucht nicht unaufrichtig zu sein. Wir sind keine Freunde. Wenn Ihr uns als Freunde betrachtet, dann definiert Ihr Freundschaft anders als ich. Freunde legen einander nicht in Ketten.«
»Bitte, Alejandro«, beharrte de Chauliac, »Ihr seid ja nicht in Ketten.«
»Aber ich werde Euch wohl kaum in Kürze verlassen dürfen.«
»Ich kann Euch einfach nicht gehen lassen, ohne daß Ihr vorher diesen Besuch auch genutzt habt.« Er trat zu Alejandro ans Fenster.
»Wißt Ihr, ich habe einiges mit Euch vor. Es gibt viele Dinge, über die wir sprechen müssen, und ich habe lange Zeit nach einer solchen Gelegenheit gehungert. Tatsächlich jahrelang. Ihr sollt nicht meinen, Euer Besuch hier werde fruchtlos bleiben. Morgen werden wir die Gesellschaft einiger illustrer Gäste genießen. Ich habe für uns eine Abendunterhaltung arrangiert, wie ich bereits versprach. Sicherlich werdet Ihr die Gesellschaft sowohl erfreulich als auch inspirierend finden.«
»Ich ziehe es vor, meine Gesellschaft selbst zu wählen«, erwiderte Alejandro frostig. »Und fürchtet Ihr nicht, meine wahre Identität könnte entdeckt werden? Jemand könnte mich für sich beanspruchen – dann hättet Ihr niemanden mehr, mit dem Ihr spielen könnt.«
De Chauliac starrte ihn aus eisigen blauen Augen an, und als er sprach, klang seine Stimme gemessen und beherrscht. »Ich versichere Euch, Kollege, ich spiele nicht mit Euch. Noch nicht. Seid versichert, daß Ihr es merken würdet, wenn ich es täte.«
Alejandros Erwiderung war ebenso scharf. »Während ich darauf warte, wärt Ihr vielleicht so gut, mir mein Manuskript zurückzuerstatten? Ich habe noch viel daran zu arbeiten. Und obwohl das Griechische mir viel Freude macht, habe ich das Gefühl, in dieser Zeit etwas Nützlicheres leisten zu können. Das heißt, bis Ihr entschieden habt, was Ihr mit mir anstellen wollt.«
De Chauliacs Miene ließ wenig Rückschlüsse zu; Alejandro versuchte verzweifelt, seine Gefühle zu deuten. Immerhin sah er unterdrückte Wut und auch Zweifel, was geschehen sollte. Aber da war noch etwas, etwas Unerwartetes. De Chauliac wirkte verletzt. Nach ein paar Augenblicken des Schweigens näselte er schließlich:
»Ich denke, es wäre annehmbar, daß Ihr es zurückbekommt – wenn es Euren Geist beflügelt …«
Alejandro nickte knapp seinen Dank.
»Dann also bis morgen«, verabschiedete sich der Graf.
Alejandro wandte sich wortlos ab und starrte aus dem Fenster. Morgen? dachte er. Morgen bin ich nicht mehr hier.
Kate unterdrückte ihre Verwirrung und ihre Tränen, bis sie das Haus mit den Säulen fast wieder erreicht hatten; doch als sie und Karle um die letzte Ecke bogen, begann sie endgültig zu weinen. Er hatte sie zur Vordertür führen wollen; doch als er das Licht sah, das aus dem Fenster des Salons fiel, beschloß er, statt dessen durch die Küche zu gehen.
Die Dienerin Marie öffnete ihnen die Tür. »Was ist, Ihr seid zurück?«
Kate strömten Tränen über die Wangen. Mit schwesterlicher Fürsorge zog Marie die weinende Mademoiselle ins Haus. Sie sah sich nach Karle um, während sie Kate auf einen Hocker plazierte. Mit vorwurfsvollen Blicken musterte sie ihn und sagte dann beschwichtigend zu Kate: »Was hat er Euch angetan, dieses Vieh von einem Mann?«
Obwohl er wortreich seine Unschuld beteuerte, scheuchte Marie ihn prompt aus der Küche. »Geht zu den anderen Kerlen«, keifte sie. »Sie sind oben und denken sich noch mehr gemeine Methoden aus, Frauen zum Weinen zu bringen.« Errötend gehorchte Karle und verschwand hastig.
»Hier«, sagte Marie. »Trinkt das!« Sie reichte Kate einen Becher mit starkem rotem Wein. »Es wird Eure Nerven beruhigen. Und Eure Nerven scheinen der Beruhigung dringend zu bedürfen. Aber jetzt sagt mir, hat dieser Dummkopf Euch mißhandelt?«
Kate weinte und schluchzte erbarmungswürdig. »Karle hat mir nichts angetan. Er war nur freundlich und gewissenhaft. Wir sollten meinen père an einem vorher vereinbarten Ort treffen. Aber als wir dort ankamen, war Père nicht da.« Kates Stimme wurde lauter. »Und ich bin nicht so vollkommen unglücklich, wie ich erwartet hatte! Es ist furchtbar! Ich fürchte, ihm ist etwas Schreckliches zugestoßen, aber ich … ich …«
»Schscht«, machte Marie beruhigend. »Sprecht nicht so unheilige Gedanken aus. Wahrscheinlich hat er sich nur verspätet.«
»Ich wünschte, ich könnte dessen sicher sein! Inzwischen müßte er mich gewiß längst gefunden haben. Wir haben außer diesem Treffen nichts vereinbart. Aber jetzt«, weinte sie, »ertappe ich mich dabei, daß ich bei Karle bleiben möchte!« Sie wischte sich die Tränen ab. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Diese Dinge sind so verwirrend.«
Marie legte einen Arm um Kates Schultern und versuchte, sie zu trösten. »Und bestürzend – Ihr seid hin- und hergerissen zwischen Eurem Vater und Eurem Liebsten, wie es allen Frauen irgendwann ergeht.«
»Er ist nicht mein Liebster, aber … aber …«
»Aber Ihr wünscht Euch, er wäre es.«
»Ja! Nein! Ich weiß nicht! Oh, wie kann man sein eigenes Herz nicht kennen?«
»Wer kennt schon sein eigenes Herz? Ihr müßt Euch einfach Zeit lassen, bis es sich offenbart.«
Kate warf Marie einen jämmerlich klagenden Blick zu. »Und was soll ich bis dahin tun? Ich habe kein Zuhause, ich kann meinen père nicht finden, dieser Karle ist so neu für mich …«
»Nun, natürlich werdet Ihr hier in Monsieur Marcels Haus bleiben. Er ist sehr großzügig und würde Euch nicht vor die Tür setzen. Außerdem würde ich es nicht zulassen! Momentan nehmen ihn seine Geschäfte in Beschlag, und da Madame so weit fort ist, wäre Eure Gesellschaft ein Segen für mich.«
Kate versuchte zu protestieren, aber die gute Marie wollte nichts davon hören. »Ihr werdet keine Last sein, sondern viel eher hilfreich. Schließlich sind nun zwei Herren im Haus, und zwei Herren scheinen immer der Arbeit von hundert Damen zu bedürfen, meint Ihr nicht? Auch wenn sie es nicht zugeben wollen.«
Kate gestand nicht, daß sie zu wenig Erfahrung besaß für solche Vergleiche; aber sie widersprach auch nicht.
»Ich kenne die Gewohnheiten des Herrn Guillaume nicht; aber vielleicht könnt Ihr Euch um seine Bedürfnisse kümmern, während ich für Monsieur Marcel sorge«, unterbreitete Marie ihr mit einem scherzhaften Zwinkern. »Zweifellos hätte Euer Monsieur heute morgen lieber Eure Hände beim Waschen seiner widerlichen Kleider gesehen als meine.« Dann kicherte sie. »Ich übrigens auch.«
»Aber was wird er von mir denken, wenn ich anfange, ihn auf diese Weise zu bedienen? Wird er mich für seine – Gemahlin halten? Ich weiß nicht, ob ich das möchte.«
»Er wird denken, was ihm ohne Euch alles fehlen würde, und sich doppelte Mühe geben, Euch zu gefallen. Und jetzt trocknet Eure Augen und faßt Mut, denn Eure Verwirrung wird bald zu Ende sein – das verspreche ich Euch.«
Sie verbrachten den kurzen Rest des Nachmittags mit Hausarbeit und der Vorbereitung eines schlichten Abendessens. Und als die Herren sich zu einer weiteren Runde strategischer Beratungen in den Salon zurückzogen, half Marie Kate, ihr langes Haar zu waschen. Während es trocknete, brachte Kate der Dienerin das Kartenspielen bei. Marie war entzückt, denn sie hatte sich noch nie an solch einem Zeitvertreib erfreut.
»Ihr besitzt eine rasche Auffassungsgabe«, bemerkte Kate.
»Die ganz nutzlos ist«, gab Marie von sich. »Nur wer von adliger Geburt ist, hat Zeit für solche Narrheiten. Hat Monsieur Karle Euch das beigebracht?«
Kate antwortete wahrheitsgemäß, sagte aber nur, was sie sagen durfte. »Meine Mutter hat einmal einer hochgeborenen Lady in England gedient«, erklärte sie. Wenn ich nur sagen könnte, wie hochgeboren! »Da hat sie viele schöne Dinge gelernt und dann an mich weitergegeben.«
»Ich habe schon bemerkt, daß Ihr feine Manieren habt«, teilte Marie ihr freimütig mit. »Woher stammen die?«
»Vieles kann man durch Beobachtung lernen«, erwiderte Kate und hoffte, das werde ausreichen.
Marie lachte. »Da würde ich mir wünschen, daß man auch Reichtum durch Beobachtung erwerben könnte!«
»Beneidet die Reichen nicht«, belehrte Kate sie. »Sie sind nicht immer die glücklichsten Menschen.«
»Das würde ich trotzdem gerne selbst ausprobieren«, sagte die kleine Magd, während sie eine Karte ablegte und triumphierend den Stapel einheimste. »Ich könnte Euch am Ende beweisen, daß Ihr Euch irrt.«
Plötzlich unterbrach der Klang der Glocke ihr Spiel. Marie legte sofort ihre Karten hin und eilte die enge Treppe hinauf. Nach ein paar Augenblicken kehrte sie mit erregter Miene zurück. »Monsieur le Provoste muß eine Nachricht überbringen lassen. Mich allein will er nicht schicken – aber er sagt, wenn wir zu zweit wären, würde uns nichts geschehen. Das heißt, wenn Ihr mich begleiten wollt. Es könnte bis zum Morgen warten, aber ich möchte gern ein bißchen Luft schnappen. Der Weg ist nicht weit.«
Guillaume Karles besorgter Gesichtsausdruck, als sie das Haus verließ, stand Kate noch angenehm vor Augen, während sie und Marie ihrem Ziel entgegenschritten. Seine offensichtliche Sorge war ihr eine seltsame Genugtuung. Sie wäre gekränkt gewesen, wenn es ihm kein Unbehagen bereitet hätte, sie aus den Augen zu verlieren, für wie kurze Zeit auch immer.
Der Franzose mit dem bernsteinfarbenen Haar hatte seit dem Austausch von – wie sollte man das nennen? Zärtlichkeiten? – an diesem Nachmittag ihre Gedanken fast ununterbrochen beschäftigt. Nein, Zärtlichkeit war ein zu starkes Wort. Verpflichtung? Seiner Sache ist er mehr verpflichtet, als er jemals mir oder irgend jemand anderem verpflichtet sein wird, dachte sie. Bewunderung, entschied sie, beschrieb am besten ihre Gefühle füreinander.
Sie fragte sich, was Alejandro davon halten würde, daß sie Karle bewunderte – er hatte dem Franzosen schon genug Ehre angetan, indem er sie in seine Obhut gab; doch das war fast ein Akt der Verzweiflung und so nicht vorgesehen gewesen. Wenn er ihn besser kennenlernte, würde er ihn dann für tapfer, intelligent und geistreich halten – wie sie selbst? Nicht einmal Père konnte leugnen, daß es nur natürlich war, wenn sie sich an einen starken Mann band, der sich um sie kümmerte. Das entsprach nur der Vernunft.
Aber wie lange würde es dauern, bis Leidenschaft die Oberhand über ihre Vernunft gewann?
Diese Gedanken beschäftigten sie so, daß sie kaum etwas von dem hörte, was Marie unterwegs daherschwätzte. Es war zu dunkel, um die Wunder der Stadt in sich aufzunehmen, die jetzt durch die Anarchie beeinträchtigt, aber immer noch prachtvoll waren. Ehe Kate sich’s versah, befanden sie sich in einem mit Kopfstein gepflasterten Innenhof vor einem massiven hölzernen Tor.
»Bonsoir«, sagte Marie zu dem Bediensteten, der auf ihr Klopfen öffnete. »Wir bringen eine Botschaft für Euren Herrn.« Sie reichte dem Mann ein kleines, gefaltetes Pergament. »Wir sollen eine Antwort mitnehmen, wenn das möglich ist.«
»Bitte, wartet hier«, erteilte der Diener ihnen Bescheid.
»Wollt Ihr uns nicht einlassen?« fragte Marie kühn.
Der Mann schien etwas bestürzt über dieses Ansinnen und sah über seine Schulter ins Haus zurück. Sein Widerstreben stachelte Kates Neugier an, und sie versuchte, unbemerkt an ihm vorbeizuspähen, während er noch mit Marie zu tun hatte. Doch sie konnte wenig sehen, denn der größte Teil des Hauses lag im Dunkeln.
Selbst die Reichen verschwenden heutzutage keine Kerzen mehr, dachte sie. Hinter dem Diener lag eine große Empfangshalle, von der mehrere andere Räume oder Flure ausgingen. Die meisten waren finster und leer, nur einer schwach erleuchtet. Der Salon, entschied sie nach einem kurzen Blick auf die Möbel. Zwei Wachen standen reglos davor. Sie starrten vor sich hin und ignorierten die neugierigen Besucherinnen.
Kate hörte keinen Laut aus dem helleren Raum, kein Gespräch, keine Bewegung, und sie dachte, darin lese oder studiere vielleicht jemand. Sie fühlte sich von dem weichen Licht angezogen wie eine Motte und bemühte sich, hinter dem Rücken des Dieners einen weiteren Blick zu erhaschen. Marie bot gegenüber dem Mann, der ihnen den Weg versperrte, alle Überredungskünste auf, sie über die Schwelle zu lassen – ohne viel Erfolg. Wenn er sie nicht einließ, so lag es jedenfalls nicht daran, daß sie es nicht versucht hatte.
»Ihr solltet doch besser hier warten«, sagte der Diener schließlich. »Ich habe genug von Euch gehört.« Dabei lächelte er eigenartig, schloß das Tor und verschwand mit der Nachricht.
Während sie die soliden Holzplanken betrachtete, die jetzt ihr Blickfeld füllten, bedachte Kate die Ironie ihrer Lage. Ich bin eine Königstochter, der ein Diener gerade die Tür vor der Nase zugeschlagen hat.
Sie hatte nicht lange Zeit, über diese Absurdität nachzudenken, denn bald darauf tat sich das Haus wieder auf. Als sie diesmal an dem Diener vorbeischaute, war der vorher erleuchtete Raum dunkel, und es gab keine Wachen mehr.
Auf einmal, dachte sie. Warum?
Sie würde keine Antwort erhalten. Der Diener gab Marie dasselbe Pergament, erneut zusammengefaltet. »Bringt das Marcel«, wies er sie an.
»Très bien, Monsieur«, sagte Marie. »Bonsoir und merci!«
Mit einem kleinen Knicks wandte sie sich zum Gehen. Kate verweilte noch einen kurzen Moment, um wenigstens irgend etwas mitzubekommen. Schließlich nahm Marie sie beim Arm und zog sie vorwärts.
Von seinem vergitterten Fensterchen aus schaute Alejandro auf die Straße unter ihm. Intensiv starrte er in die samtige Pariser Nacht und erhoffte sich einen kurzen Blick auf die unerwarteten Besucher, die der Grund gewesen waren, daß man ihn plötzlich wieder in seine Dachkammer verbannte. Er sprach laut, um nicht aus der Übung zu kommen, und kümmerte sich nicht darum, ob die Wachen ihn verschroben fanden. Sollen sie nur. Sie verachten mich ohnehin, weil ich ein Jude bin; sollen sie mich ruhig auch für verrückt halten. »Morgen«, haderte er laut, »wird er mich seinen ausgewählten Gästen vorführen – doch heute nacht sollen diese Fremden mich hier nicht sehen!«
Er hörte das Knarren des schweren Portals und die Schritte der Besucher, die sich entfernten. Zwei Gestalten traten aus dem Hoftor, und er begriff, warum die Schritte so leicht geklungen hatten. Es sind Frauen, erkannte er. Eine sehr groß, wie meine Kate! Sein Herz schmerzte beim Gedanken an sie.
Die Besucherinnen verschwanden in der Dunkelheit, und während sie das taten, regte sich in ihm der verzweifelte Wunsch nach einfachstem Kontakt mit ihnen; denn selbst der geringste Austausch von Worten würde ihm seine verhaßte Abgeschiedenheit erträglicher machen. Mit einer der beiden Frauen den Platz zu tauschen, und sei es nur für einen Moment, wäre das größte Glück, das er sich vorstellen konnte …
Im Augenblick, sinnierte er traurig, würde ich sogar in Betracht ziehen, mich als Frau auszugeben, wenn mir dieser Umstand die Freiheit brächte.
Sie betraten das Haus durch den Dienstboteneingang der Küche, wie Kate und Karle auch am Vorabend. »Monsieur sagte, heute nacht würden viele Herren da sein«, klärte Marie Kate auf. »Sie diskutieren wieder über ihren Krieg. Er möchte nicht gestört werden. Und ich mag auch nicht von ihren albernen Forderungen gestört werden. Tu dies, Marie! Und tu das, Marie! Wir werden sie also gar nicht merken lassen, daß wir zurück sind, ja?«
Karle wird unter ihnen sein, dachte Kate. Sie ertappte sich dabei, daß sie enttäuscht war, ihn nicht für sich allein zu haben.
Das erwartete Stimmengewirr drang bis in die Küche im Untergeschoß, als Kate und Marie sich die Zeit wieder mit Kartenspielen vertrieben. Die Worte waren wegen der Entfernung nicht zu verstehen; aber die Erregtheit der Diskussion bekamen sie trotzdem mit.
»Sie lieben diesen Krieg.« Traurig schüttelte Marie den Kopf.
»Nur die, die ihn nicht selbst miterlebt haben«, berichtigte Kate.
»Und dieser Krieg ist grausamer, als man sich vorstellen kann.« Für einen Moment sah sie wieder die Greuel vor sich, deren Karle und sie auf ihrer Reise nach Paris Zeuge geworden waren. Allzu lebhaft erinnerte sie sich an das Grauen, das immer noch auf ihrer Seele lastete. Sie spürte, wie ihr Mut schwand, und Erschöpfung senkte sich schwer auf sie herab wie ein Umhang aus nasser Wolle. »Ich bin auf einmal sehr müde«, sagte sie. »Ich würde gern zu Bett gehen.«
»Werdet Ihr wieder oben schlafen?« fragte Marie, eine Augenbraue neugierig hochgezogen.
Kate schwieg einen Moment und schob dann ihre Karten zusammen. »Gibt es denn noch einen Raum?«
»Nein, aber ich könnte Euch hier in der Küche ein Lager aufschlagen, wenn Ihr wollt. Manchmal schlafe ich selbst hier, aber wo ich heute nacht sein werde, weiß ich noch nicht.« Sie zwinkerte und lachte. »Jedenfalls seid Ihr willkommen. Aber es ist nicht so bequem wie das Bett aus Stroh.«
Bequemlichkeit war etwas, das Kate heute nacht dringend brauchte, in welcher Form auch immer. »Dann werde ich wohl nach oben gehen.«
»Also wollt Ihr es bequem haben«, folgerte Marie. »Monsieur hätte sicher nichts dagegen, daß Ihr etwas Wein trinkt, bevor Ihr schlafen geht. Das tut er selbst fast immer. Er sagt, der Wein würde sein – wie soll ich es ausdrücken? – sein temperament beleben. Vielleicht verbessert er ja auch Eure … Stimmung.«
»Wenn das so ist, wäre mir ein Trunk sehr willkommen.«
Rasch nahm Marie den Becher und die Karaffe und schenkte Kate reichlich von dem dunkelroten Wein ein. Dann goß sie ein paar Schlucke in einen kleineren Becher und hob ihn. »Auf daß Ihr in dieser Nacht Ruhe und Trost findet!«
Hoffentlich, dachte Kate und trank tapfer aus.
Die versammelten Führer von Paris verstummten und schauten auf, als sie rasch und leise vorüberging, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen. Das war etwas, was die Männer an König Edwards Hof niemals getan hatten. Aber damals war sie ein lästiges Kind gewesen, nicht das geschmeidige, goldhaarige Objekt der Begierde, zu dem sie inzwischen herangewachsen war. Sie konnte die brennenden Blicke der Fremden spüren, als sie leise zur Treppe ging und die Stufen erklomm. Ebenfalls spürte sie, wie sie sich nacheinander abwandten, da ihre Phantasien ohnehin unerfüllt bleiben mußten und sie deshalb ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Belange richteten. Die Stimmen erhoben sich erneut, und es erschollen markige Reden. Dennoch dämpften sie ihren Ton jetzt etwas, waren aber gewiß nicht weniger enthusiastisch.
Doch als Kate in dem schmalen Gang im Obergeschoß verschwand, spürte sie Karles Blicke noch. Sie fühlte sie wie eine Hand auf ihrem Rücken, und sie blieben auch bei ihr, als sie ihre Oberkleider auszog und sich im Hemd auf das Stroh legte. Und als der Wein sie einschlummern ließ, begleitete sie die warme, feste Hand auf ihrem Rücken bis in den Traum.
Später wachte sie auf, und er kniete neben ihr in der Dunkelheit. Seine Hand lag tatsächlich da, wo sie sie sich vorgestellt hatte, und seine Finger beschrieben leichte Kreise auf ihrer Taille. Sie schlug die Augen auf und sah, daß er sie unsicher betrachtete.
Wie kann er denken, daß ich ihn vielleicht nicht will? fragte sie sich schlaftrunken. Sie nahm seine Hand, führte sie an ihre Lippen und küßte sie sanft. Seine Handfläche war rauh und schwielig von Schwert und Zügel. Und dann zog sie ihn an sich. Er kam willig, ein großer, behutsamer Tröster, und nahm sie in seine Arme. Stammelnd erklärten sie sich gegenseitig ihre Zuneigung.
Alejandro erwachte mit angstvollem Schrecken aus einem verstörenden Traum und bemühte sich verzweifelt, das Entsetzen abzuschütteln, das ihn erfüllte. Doch der kalte Griff der Angst wollte nicht weichen. Seine Eingeweide krampften sich zusammen. Der Gedanke, daß diese nächtlichen Schrecken, die er nach vielen Jahren endlich besiegt glaubte, wiederkehren könnten, erfüllte ihn mit überwältigender Furcht. »Ach, Carlos Alderón«, flüsterte er in die Nachtluft, »seid Ihr wieder da? Bitte«, flehte er den Schatten an, der ihn so lange verfolgt hatte, »laßt mich das bißchen Frieden genießen, das mir vergönnt ist.«
Doch als er versuchte, sich an den Traum zu erinnern, erkannte er, daß es nicht der Geist des Schmiedes war, der ihn im Schlaf wütend verfolgt hatte. Es war Kate, und zwar das lebendige Bild des Mädchens selbst, die seinem Gemüt einen unheimlichen Besuch abgestattet hatte. Und im Unterschied zu seinen früheren Träumen von Carlos Alderón war der Jäger bei dieser mitternächtlichen Verfolgung nicht der in sein Leichentuch gehüllte Schmied, sondern er selbst, Alejandro, und das Wild furchtbarerweise – seine Tochter. Aber sie ließ sich nicht fangen, sondern entglitt ihm ständig mit fliegender Geschwindigkeit. Er rief laut ihren Namen und streckte die Hand nach ihr aus, aber konnte ihren Rockzipfel nicht erreichen; und sie eilte davon, aus seiner Reichweite, aus seiner Kontrolle, eine Frau mit einem ganz eigenen Ziel.