KAPITEL 11
Nachdem das Staatsoberhaupt die Torhüter angewiesen hatte, ihre Wachsamkeit zu erhöhen, wurde es immer schwieriger, die Stadtmauern von Paris zu durchdringen. Ein Tor nach dem anderen war in den letzten paar Tagen geschlossen worden, und jeder, der hineinwollte, war jetzt auf das Wohlwollen der Raufbolde angewiesen, die die Einlässe bewachten. Aber Karle zog diskret Erkundigungen ein und stellte fest, welche von ihnen insgeheim Sympathisanten waren. Danach fand er einen Mann, der ihm öffnete. Sie ließen ihre Pferde bei ihm zurück und versprachen, für deren Versorgung zu bezahlen. Außerdem vereinbarten sie, daß er die Tiere für sich behalten könne, wenn sie innerhalb einer bestimmten Frist nicht zurückkehrten. Der Mann würde also so oder so profitieren, und daher war er nur zu gern bereit, sich gefällig zu erweisen.
Kate beschrieb Karle, welcher Treffpunkt verabredet worden war. »Aber warum gerade dort?« fragte Karle. »Das ist ein Viertel, in dem Juden wohnen.«
Nach einem Augenblick verwirrender Unsicherheit, wie sie ihm das erklären sollte, antwortete Kate: »Weil keiner daran denken wird, uns da zu suchen.«
Er wußte noch immer nicht, wovor sie flohen. »Jetzt müßt Ihr mir aber verraten, wer Euch suchen sollte.«
Sie lächelte nur und sagte: »Das werde ich Père überlassen.«
In letzter Zeit hatte er festgestellt, daß ihr Lächeln ihm unerwartete Freude bereitete. Es lenkte ihn, wenn auch nur kurz, von all den Schreckensbotschaften, dem Streit und Elend ab. Ich werde den Klang ihrer Stimme vermissen, wenn sie fort ist, wurde ihm klar. Und ihre fast unheimliche Klugheit. Doch diese Gedanken behielt er für sich, denn er wußte, es wäre viel besser für ihn, wenn sie bereits fort wäre. Je schwieriger der Aufstand im Griff zu halten war, desto mehr würde ihre Anwesenheit ihn ablenken und nicht mehr die gelegentliche Freude sein, zu der sie sich in aller Stille entwickelt hatte. Es würde gefährlich werden, und er konnte sich nicht die Zeit nehmen, eine Frau vor Schaden zu bewahren, wenn er sich um eine Revolte kümmern mußte.
Ein Mädchen, meine ich. Aber jedenfalls ein weibliches Wesen, was immer Schwierigkeiten mit sich brachte.
Doch nach einer Wartezeit, während derer die Schatten immer länger wurden, begann er sich zu fragen, ob er sie überhaupt loswerden konnte.
»Seid Ihr sicher, daß dies der richtige Ort ist?«
»Ohne jeden Zweifel.«
»Vor wie langer Zeit wart Ihr zuletzt hier?«
»Vor vielen Jahren, aber es hat sich nicht viel verändert.« Sie zeigte auf das gelbe, keilförmige Schild des Käseladens. »Das Schild ist noch genauso wie früher.«
Angesichts ihrer Gewißheit beschloß er, nicht weiter in sie zu dringen, und blieb eine Weile still. Doch als der Tag seinem Ende zuging, wurde er sichtlich ungeduldig und meinte sich doch gründlicher erkundigen zu müssen. »Was passiert, wenn er sich verspätet? Wir können nicht die ganze Nacht hier warten.«
»Das braucht Ihr auch nicht. Ihr habt Eure Pflicht erfüllt. Aber gebt mir meine Münzen zurück, bitte.« Sie streckte die Hand aus.
Diese Entlassung überraschte ihn. »Wie könnt Ihr mich so gering einschätzen nach allem, was wir zusammen durchgestanden haben? Habt Ihr gedacht, ich würde Eure Münzen stehlen und Euch hilflos zurücklassen?«
Sein Zorn traf sie unvermittelt. »Ich … es … es tut mir leid … ich wollte Euch nicht beleidigen – aber ich wäre nicht hilflos.«
Er fragte sich, ob sie aus Angst diesen falschen Wagemut an den Tag legte. Versucht sie, ihre Furcht zu verbergen? Vielleicht sollte ich sanfter mit ihr umgehen. »Es ist möglich, daß Euer père nicht durch die Stadtmauern kam, bevor die Tore geschlossen wurden.«
»Er dürfte kaum so lange gebraucht haben wie wir. Und er würde in jedem Fall einen Weg finden. Er ist ein sehr kluger Mann.«
»Das sagtet Ihr schon.«
»Es stimmt. Und er hat mich zu einem klugen Mädchen erzogen.«
»Trotzdem werde ich mit Euch warten, um Euch sicher zu übergeben!«
»Wie Ihr wollt«, meinte sie kurz angebunden.
Sie sprachen nicht mehr, bis die Sonne hinter dem höchsten Gebäude der Straße verschwunden war.
»Ich muß zu Marcel«, sagte Karle schließlich.
»Dann geht!« Sehr leise fügte Kate hinzu: »Und nehmt meinen Dank für Eure Begleitung. Und Eure Gesellschaft.« Wieder hielt sie die Hand für den Beutel Münzen auf.
Er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut – es wurde dunkel, sie hatte keine Unterkunft, war eine junge Frau ganz auf sich gestellt, und – und er wollte sich noch nicht von ihr trennen.
»Es paßt mir nicht, Euch hier zurückzulassen«, setzte er zu einer längeren Rede an. »Mir scheint, das wäre nicht ehrenhaft, nachdem ich doch versprochen habe, mich um Euch zu kümmern. Kommt mit mir zum Haus des Provosts von Paris. Er wird uns für die Nacht Obdach geben – und morgen kommen wir wieder her. Bald wird es zu dunkel sein, um Euren père zu erkennen – selbst wenn er noch auftauchen sollte. Und er würde nicht wollen, daß Ihr Euch hier draußen herumtreibt, das steht fest!«
Hinter der Entschlossenheit auf ihrem Gesicht sah er das besorgte junge Mädchen, das genauso unschlüssig war wie er hinsichtlich des nächsten Schritts.
»Bitte«, flehte er.
»Nun gut«, antwortete sie schließlich. »Aber ich werde Euch bei Eurem Wort nehmen – daß wir morgen wieder hier sind.«
Erleichterung durchströmte ihn, aber er ließ es sich nicht anmerken. »Ich werde Euch nicht im Stich lassen«, versprach er feierlich. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zum Fluß.
»Ah, Doktor Canches«, komplimentierte de Chauliac seinen frisch gewaschenen Gefangenen herein, als dieser auf die von Kerzen erleuchtete salle à diner zuhinkte, »setzt Euch!« Er wies auf einen Stuhl ihm gegenüber. »Ihr müßt Euer Bein schonen.«
Die Wachen blieben draußen vor der Tür, während Alejandro mühsam vorwärtshumpelte.
»Habt Ihr die Natur Eurer Verletzung festgestellt?« gab sich sein Lehrer teilnahmsvoll.
»Ich glaube nicht, daß irgendwelche Knochen gebrochen sind«, antwortete der unfreiwillige Gast. »Es wird höchstens ein paar Tage dauern, dann ist es geheilt.«
»Nun, das höre ich gern. Aber natürlich möchte ich Euch selbst untersuchen. Es soll Euch alle Pflege zuteil werden, solange Ihr Euch in meiner Obhut befindet. Nach dem Diner schaue ich den Fuß an.«
»Ihr könnt Euch selbst davon überzeugen, de Chauliac – aber Ihr werdet meine Knochen ganz unversehrt finden.«
»Ich habe festgestellt, daß die Juden ein Volk mit schwachen Knochen sind, das muß ich sagen. In meiner Zeit in Montpellier habe ich beobachtet, daß bei ihnen, vor allem bei den Alten, häufig gebrochene Gliedmaßen vorkommen.«
»Wir sind nicht so leicht zu zerbrechen, wie es vielleicht den Anschein hat.«
»Ach«, meinte de Chauliac, »da ist er wieder – Euer aufsässiger Geist! Ihr seid ein besonders angenehmer Gesellschafter, wenn Ihr aufgebracht seid.« Er winkte mit der Hand, und ein Diener erschien mit einer Karaffe. Ihre Becher wurden mit einer dunklen, aromatischen Flüssigkeit gefüllt. De Chauliac hob seinen grüßend und sagte: »Ich schlage vor, daß wir auf viele geistreiche Gespräche trinken.« Er lächelte breit. »Und auf die Heimkehr des verlorenen Sohnes!«
»Ich habe von dieser Eurer christlichen Parabel gehört«, bekannte Alejandro, »aber ich verstehe sie nicht.«
»Nun«, sagte de Chauliac. »Wie Ihr auch ›Maranatha‹ nicht verstanden habt.«
Alejandro wand sich auf seinem Stuhl, der sich als wesentlich unbequemer erwies, als er auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Er spielt mit mir, dachte er. Und er genießt es.
»Ich werde sie Euch erklären«, fuhr de Chauliac fort. »Der Sohn nimmt seinen Anteil vom Reichtum seines Vaters und läuft davon. Er geht in ein fernes Land, wo er alles verpraßt. Als er bettelarm zurückkehrt, freut sich der Vater so sehr, ihn wiederzuhaben, daß er dem Lotterbuben verzeiht und ihn willkommen heißt.«
Mit wachsendem Unbehagen wand der ehemalige Schüler ein:
»Vergebung ist eine gute Sache, besonders zwischen Vater und Sohn. Aber ich habe den Reichtum meines Vaters nicht vergeudet.
Und ich habe auch keine Söhne – also weiß ich nicht recht, was Ihr mit dieser Geschichte meint.«
De Chauliac starrte ihn im Kerzenschein an. »Aber wie wir aus England hören, habt Ihr etwas, das man als Tochter bezeichnen könnte.«
Kalte Angst umklammerte Alejandros Herz.
De Chauliac sah sie an seiner Miene und lächelte wieder boshaft.
»Aber diese Geschichte dreht sich nicht um Söhne oder Töchter, sondern vielmehr um eine Gabe, die nicht weise eingesetzt wurde. Seht Ihr, Ihr habt in Avignon ein Geschenk erhalten, von mir, von Seiner Heiligkeit, dem Papst, und dieses Geschenk habt Ihr vergeudet.« Er stellte seinen Becher ab und nickte dem Diener zu, der eine Platte mit Fleisch zwischen den beiden Männern auf den Tisch stellte.
De Chauliac schnupperte an dem Duft, der von der Platte aufstieg. »Köstlich«, sagte er. Er schloß einen Moment die Augen und genoß das Aroma von Zwiebeln und Gewürzen. »Laßt uns im Augenblick nicht weiter von diesen Dingen sprechen. Sie sind unerfreulich und würden unsere Verdauung stören. Wonnen, wie ich sie Euch heute abend vorsetze, sind in diesen Zeiten sehr schwer zu bekommen, wirklich sehr schwer!« Er nahm ein Messer und schnitt ein kleines Stück Fleisch ab, das er dann auf die Spitze des Messers spießte und in den Mund steckte. »Bitte«, lud er kauend ein, »eßt! Ihr seht zwar recht wohl aus, aber man könnte Euch ein wenig dünn nennen.«
Alejandro aß schweigend, die Augen mißtrauisch auf seinen Peiniger gerichtet, und dachte: Es ist, als hätte er meine Rückkehr geplant.
»Jetzt müßt Ihr mir von Euren Reisen erzählen, Arzt. Nach Eurer Flucht aus Canterbury haben wir viel weniger von Euch gehört, als uns lieb war.«
Wir? Wer genau war »wir«? Unbewußt packte Alejandro sein Messer fester, was die Adern auf seinem Handrücken bläulich hervortreten ließ. Es fuhr ihm kurz durch den Sinn, über den Tisch zu springen und diesem arroganten Schurken, der ihn gefangenhielt, die Kehle durchzuschneiden.
Doch er wollte seinen Häscher nicht alarmieren und legte das Messer wieder hin; seine Hand ließ er aber dicht daneben ruhen, während ihm der wilde Gedanke durch den Kopf schoß, sich von de Chauliac zu befreien. Es würde nur einen Moment dauern. Aber die Wachen würden ihn sofort ergreifen. Er konnte durch eine solche Tat nichts gewinnen.
Außerdem wäre sie wie das Verhalten eines Tieres. Im Gegensatz zu dem niederträchtigen Bischof in Spanien besaß der Franzose de Chauliac einen Intellekt, der es wert war, erhalten zu bleiben. Und ich habe all das Sterben so unendlich satt, gestand er sich ein. Es muß einen anderen Weg geben.
Also faltete er die Hände und seufzte. »Meine Reisen sind eine lange und traurige Geschichte«, begann er. »Sie werden Euch miserabel unterhalten.«
Aber de Chauliac lächelte nachsichtig. »Das glaube ich nicht. Es sei denn, Ihr hättet Euch verändert seit unserer letzten Begegnung. Aber ich sehe Anzeichen dafür, daß Ihr einige Eigenheiten bewahrt habt. Ihr seid immer noch ein Mann, der forscht. Wozu sonst würdet Ihr ein Manuskript bei Euch tragen wie dasjenige, als ich Euch ›fand‹?«
Das Gesicht des Juden zeigte Unruhe und Bestürzung, da er seinen Schatz kurz vergessen hatte.
»Seid unbesorgt«, beruhigte de Chauliac ihn. »Ihr müßt wissen, daß gerade ich großen Respekt vor einem solchen Gegenstand habe. Ich werde ihn mit Sorgfalt behandeln.«
Alejandro entspannte sich ein wenig.
»Beginnt nach Canterbury«, forderte der Graf ihn auf. »Was davor geschah, ist mir bekannt. Wärt Ihr an einem Hof auf dem Festland gewesen, so hättet Ihr viele Troubadoure von Euren Taten singen hören. Ihr seid zu so etwas wie einer Legende geworden – nun ja …«
Karle wartete, bis es völlig dunkel war und alle Bürger von Paris, zumindest die, die etwas zu essen hatten, beim Abendbrot saßen.
»Selbst in so schlimmen Zeiten wie unseren werden die, die durch die Straßen patrouillieren, eine Pause machen und irgendeine Kleinigkeit zu sich nehmen«, sagte er zu Kate. »Paris hat noch immer ein wenig von seiner Kultur bewahrt.«
Dennoch war er nicht so töricht, direkt das Haupttor des Säulenbaus anzusteuern, in dem Marcel seit seinem Amtsantritt als Stadtoberhaupt wohnte. Man mußte Schwierigkeiten ja nicht unbedingt herausfordern. Statt dessen näherten sie sich der Hintertür neben der Küche und schauten durchs Fenster. Sie sahen eine Magd am heißen Herd stehen, wo sie eifrig in einem eisernen Topf rührte.
Vorsichtig klopften sie an die Scheibe. Die Magd wandte den Kopf nicht zum Fenster, sondern zur Tür. Ein erwartungsvoller Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.
»Sie muß einen Liebsten haben«, flüsterte er Kate zu. »Ich glaube, wir sind eben auf ihr geheimes Zeichen gestoßen.«
Durch einen glücklichen Zufall waren sie das tatsächlich, denn das junge Mädchen wischte sich rasch die Hände an der Schürze ab und glättete ihr Haar.
»Haltet Euer Messer bereit«, brachte Karle zwischen den Zähnen hervor.
»Karle!« flüsterte Kate entsetzt. »Sie ist noch ein Mädchen, sicher nicht einmal so alt wie ich …«
»Ihr sollt ihr keinen Schaden zufügen«, erläuterte er, »sondern nur ein bißchen Angst einflößen. Ich kann ihr nicht mit dem Messer drohen und gleichzeitig mit ihr verhandeln. Denn nur sie kann uns zu Marcel führen.«
»Ihr kennt diesen Marcel gar nicht?«
»Ich bin dem Mann nie begegnet. Aber wir sind Brüder im Geiste der Revolte.«
Bevor Kate noch ein weiteres Wort äußern konnte, eilte das Mädchen schon zur Küchentür. Sie öffnete sie, schaute noch einmal zurück, trat dann rasch ins Freie und erwartete eine Umarmung.
Ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte Karle sie ergriffen und ihr eine Hand auf den Mund gelegt. »Das Messer!« zischte er, Kate zog es aus ihrem Strumpf und hielt es dem Mädchen nervös unter die Nase. Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Entsetzen; aber Kate fragte sich unwillkürlich, ob sie nicht merkte, wie sehr ihre Bedroherin zitterte.
»Ist Marcel in der maison?« flüsterte Karle rauh.
Das großäugige Mädchen nickte bejahend, da Karle ihr noch immer den Mund zuhielt.
Er sprach schnell und drängend. »Dann werdet Ihr uns zu ihm bringen. Ich will hier niemandem Schaden zufügen; aber außerhalb dieses Haushalts darf mich keiner sehen, und notfalls werde ich mich zu wehren wissen. Ich nehme jetzt meine Hand von Eurem Mund, wenn Ihr jedoch schreit, wird Euch das leid tun. Zweifelt nicht daran!«
Benommen drückte Kate dem Mädchen die Spitze ihrer Waffe in den Rücken. Im folgenden übernahm Karle das Messer und hielt dem Mädchen beide Hände auf dem Rücken zusammen. Dann schob er sie vorwärts. »Zeigt uns den Weg«, befahl er.
Über eine enge, dunkle Treppe führte sie sie in die von Öllampen erhellte maison. Sie folgten ihr zum Salon, und als sie über die Schwelle traten, standen sie im Rücken eines Mannes vor einem Schreibpult. Er beugte sich über irgendein Pergament und las beim Licht mehrerer Kerzen.
»Monsieur le Provoste«, sagte das Mädchen schüchtern.
»Oui«, antwortete Marcel abwesend.
»Hier sind, eh, Gäste, die Euch zu sehen wünschen.«
Etienne Marcel drehte langsam den Kopf, und als er sah, daß seine Magd festgehalten wurde, stand er abrupt auf. Er baute sich vor den Eintretenden auf und legte eine Hand an das Schwert in seinem Gürtel. »Laßt sie los«, donnerte er. »Nur ein Feigling versteckt sich hinter einem Weib!«
»Ich bin kein Feigling, Monsieur, sondern ein Mann, der Euch wohlgesonnen ist. Aber ich wußte nicht, wie Ihr mich empfangen würdet, und so hielt ich es für geraten, den Einlaß zu erzwingen. Niemand wird zu Schaden kommen.« Er ließ die Hände des Mädchens los, und ängstlich eilte sie in die sicheren Arme ihres Arbeitgebers.
Karle spreizte die Hände und hielt das Messer von sich. Er winkte Kate heran, sie griff nach der kleinen Waffe und schob sie wieder in ihren Strumpf.
»Ich nehme an, Ihr seid Marcel«, leitete Karle über.
Etienne Marcel, noch immer bereit, sein Schwert zu ziehen, nickte streng. »Und Ihr, Monsieur?«
»Ich bin Guillaume Karle.«
Marcel nahm die Hand vom Schwertgriff und streckte sie eilig zum Gruß aus. »Mon Dieu!« Er schwenkte Karles Arm auf und ab.
»Ihr seid die letzte Person, die ich hier erwartet hätte!« Er wandte sich an die verwirrte Magd. »Steh nicht herum, bring Wein, und das reichlich!« Sie rannte gehorsam davon.
Marcel wies auf Stühle und sagte: »Endlich! Diese Begegnung hat Gott beschlossen!«
Wie sollte Alejandro jene Zeiten beschreiben, selbst einer Persönlichkeit mit der scharfen Intelligenz eines de Chauliac? All die Dinge, die er gesehen hatte, die Orte, an denen er gewesen war; die Hölle auf Erden – oder könnte es der Himmel gewesen sein? Irgendeine seltsame Mischung von beidem in einem Leben, das er nie für möglich gehalten hätte …
Da er Alejandros Widerstreben spürte, drängte de Chauliac ihn mit einer Frage, auf die er bestimmt eine Antwort erhielte. »Warum habt Ihr es riskiert, das Kind mitzunehmen?«
Das riß Alejandro aus seiner Melancholie. »Weil sie selbst und ihre Amme mich darum baten. Beide fürchteten Isabellas Zorn, und das mit gutem Grund, glaube ich.« Er sah seinem Kerkermeister in die Augen. »Ihr hattet recht, mich vor ihr zu warnen. Ich hätte wachsamer sein sollen.«
De Chauliac stieß ein zynisches Kichern aus. »Auch Adam durchschaute die Schlange nicht.«
Darauf reagierte Alejandro mit einem schiefen Lächeln – aber das schwand schnell, als er seine Erzählung fortsetzte: »Nachdem wir England verlassen hatten, waren wir eine Zeitlang ständig unterwegs; und überall, wo ich hinschaute, gab es englische Soldaten. Ich weiß, sie hatten viele Gründe, sich in Frankreich aufzuhalten; aber ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, sie warteten nur auf mich. Ich durfte Kate – das Mädchen – nicht sprechen lassen, denn sonst hätte sie sich verraten. Sie war ein sehr redseliges Kind und ganz reizend – es machte mir viel Kummer, sie ständig still zu halten.«
»Ihr habt sie also recht gern.«
Alejandro seufzte. »Wie meine wahre Tochter! Ich werde meinen Geist wohl nicht durch ein eigenes Kind weitergeben können, also ist sie mein kostbarstes Gut.«
Unter dem Einfluß des Weines war de Chauliac wesentlich weniger bissig und beinahe mitfühlend. »Aber Ihr seid nach wie vor rüstig«, bemerkte er, »jedenfalls jünger als ich, und wenn wir diese schreckliche Zeit überleben, werden wir gewiß noch Gelegenheit haben, uns fortzupflanzen. Es mangelt in Paris nicht an schwangeren Leibern, obwohl Gott allein weiß, wie viele davonkommen werden. Aber das Leben geht weiter, Arzt, so ist es immer gewesen und wird es nach dem Willen des Allmächtigen auch bleiben. Leider sind viele der Ansicht, die Juden sollten ein für alle Male untergehen – die ich nicht teile. Auf unserer Welt ist Platz für alles und jeden. Es hat Gott gefallen, durch Noah ein Paar von jeder Art zu erhalten. Es kann nicht Sein Plan sein, die Juden gänzlich zu vernichten.«
Das gute Einvernehmen, das zwischen ihnen aufkeimte, trübte sich, als Alejandro diese Worte vernahm. Wir sind für ihn also Tiere. Doch er hat nicht vor, mich umbringen zu lassen. Das verschaffte ihm vorübergehend ein Gefühl der Erleichterung. Gleich darauf dachte er allerdings: Was hat er aber dann mit mir vor?
»Und wenn es Juden gibt, die überleben und sich vermehren, dann wünschte ich mir, es wären solche wie Ihr.«
»Juden, denen man es nicht ansieht?«
»Männer von Geist, Vernunft und Weisheit, Männer, die die Welt verstehen und lehren, wie sie eigentlich sein sollte.«
»Die Welt sollte besser sein«, warf Alejandro ein.
»Da habt Ihr recht, Kollege. Es scheint, daß wir alle, Christen und Juden gleichermaßen, nach der Pfeife Satans tanzen, der uns in boshafter Freude regiert. Doch ich glaube, daß sich das mit der Zeit ändern wird.« Er lächelte. »Aber nun fahrt mit Eurer Erzählung fort.«
Nach kurzem Zögern sprach Alejandro weiter. »Nach dem ersten Winter gingen wir nach Straßburg.«
»Ach«, schüttelte de Chauliac den Kopf, »es ist ein Jammer, was da passiert ist.«
»Ich denke, dafür wäre ein stärkeres Wort angebracht. Man könnte von Verirrung sprechen. Aber wie immer man die Tragödie auch nennen mag, selbstredend konnten wir nicht dort bleiben. Wir kamen für eine Zeitlang nach Paris und lebten im Marais unter Glaubensbrüdern.«
»Ihr wart hier in Paris?«
Alejandro nickte. »Nach einer Weile flohen wir dann wieder nach Norden.«
»Wohin seid Ihr gegangen?«
»Es fiele mir schwer, einen Ort zu nennen, an dem wir nicht waren«, gab Alejandro seufzend Auskunft. »Wir konnten wohl kaum in ein Dorf reiten und verkünden: ›Attendez! Hier kommt ein Jude auf der Flucht, verachtet und gejagt von der Prinzessin von England, mit einer illegitimen Tochter von König Edward – auf eigenen Wunsch vom Hofe ihres grausamen Vaters entführt!‹ Wer hätte ein solches Paar schon willkommen geheißen, außer, um ein Lösegeld herauszuschlagen?«
»Wie habt Ihr dann gelebt? Wenn Ihr niemandem vertrauen konntet?«
»Es fehlte nie an verlassenen Hütten. Wir wählten immer die entlegensten und blieben nur, solange wir unbemerkt waren. Dann zogen wir weiter, mit unserer bescheidenen Habe, und da sie sich gegenwärtig in Eurem Besitz befindet, wißt Ihr, daß das nicht viel war.«
»Hmm«, machte de Chauliac. »Aber es ist auch nicht gerade wenig. Ihr habt noch immer Euer Gold, von dem einiges zweifellos von meinem geheiligten Herrn stammt. Ihr Juden seid eine genügsame Sippschaft.«
»Das sind wir, wenn es sich empfiehlt.«
»Und die ganze Zeit habt Ihr Eure Medizin nicht ausgeübt? In Eurer Tasche befinden sich einige ausgezeichnete Werkzeuge.«
Alejandros Miene verdüsterte sich. »Nur sehr selten.«
De Chauliac lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Seht Ihr? Ihr habt Eure Gabe also doch vergeudet!«
»Ich habe sie an das Kind weitergegeben, indem ich ihr alle meine Kenntnisse beibrachte«, protestierte Alejandro. »Sie ist eine gute Heilerin geworden. Und wenn Hilfe wirklich nötig war, habe ich sie immer geleistet. Aber jedesmal, wenn wir bekannt wurden, mußten wir weiterziehen. Das Risiko, gefangen zu werden, war immens.«
»Vielleicht macht Ihr Euch auch zu viel Sorgen – zumindest jetzt.« De Chauliac beugte sich vor und stützte sein Kinn in die Hände. »Laßt Euch berichten, was ich durch meine Spione gehört habe. Im ersten Jahr wurdet Ihr aktiv gejagt, vor allem zu Clemens’ Lebzeiten. Der Papst war natürlich sehr ›enttäuscht‹, als er Eure wahre Identität erfuhr, und obwohl er das war, was einige als Judenfreund bezeichnen würden, meinte er, einen Fehler begangen zu haben, indem er Euch mit jener Aufgabe in England betraute. Ich versuchte natürlich nach Kräften, Euch zu verteidigen, indem ich darauf hinwies, daß Eure Mission erfolgreich war. Kein weiteres Mitglied der englischen Königsfamilie starb mehr an der Pest. Aber er war trotzdem nicht zufrieden.«
»Wir schwebten damals also wirklich in Gefahr?«
»Eine Zeitlang. Aber nach dem Tode von Clemens hegte nur noch Isabella einen wirklichen Groll gegen Euch – ihr Vater war mit Staatsangelegenheiten zu beschäftigt. Sie konnte die Jagd daher ungestört weiterführen; und als Edward schließlich immer mehr mit dem erneuten Krieg zu tun hatte, schwand überhaupt sein Bestreben, ihr zu gefallen.«
»Als ich dort war, schien es noch sehr lebendig.«
»Oh, das glaube ich gern. Er hat sie schamlos und abgöttisch geliebt. Aber jetzt interessiert ihn eigentlich nur noch Isabellas baldige Vermählung.«
»Sie hat keinen Gemahl? Aber sie muß doch inzwischen sechs- oder siebenundzwanzig sein.«
De Chauliac lachte. »Wieso überrascht Euch das? Selbst eine königliche Xanthippe bleibt doch eine solche. Sie hat es geschafft, daß ihr Bruder Edward die Jagd auf Euch weiterführt; er war häufiger in Frankreich als ihr Vater. Er ist zu einem furchterregenden Krieger herangewachsen – man nennt ihn wegen seiner bevorzugten Rüstung jetzt den Schwarzen Prinzen. Auf einer seiner Reisen hierher hat er sich persönlich nach Euch erkundigt. Aber sein Interesse schien mir nicht echt. Ich hatte das Gefühl, daß er Euch nur verfolgt, weil seine Schwester darauf besteht. Aus irgendeinem Grund hängen sie sehr aneinander.«
»Ich weiß. Und ich finde es eigenartig.«
»In der Tat! Jetzt hat er Euch eher aufgegeben.«
De Chauliac sah die Erleichterung auf Alejandros Zügen. Da ihm das nicht gefiel, fügte er hinzu: »Doch sein Bruder Lionel ist nicht so mit dem Krieg beschäftigt. Er hält sich im Augenblick mit seinem ganzen Gefolge in Paris auf. Man ruft mich gelegentlich, wenn ein Familienmitglied meiner Behandlung bedarf. Beim Klerus bin ich aus irgendeinem Grunde nicht mehr wohlgelitten – aber bei den Mitgliedern des Königshauses scheine ich nach wie vor eine gewisse Wertschätzung zu genießen.«
Er sah, wie Alejandros Miene wieder besorgt wurde, und lachte leise. »Habt keine Angst! Lionel erinnert sich nicht an Euch. Ich habe ihn bereits danach gefragt, was ihn ziemlich aufbrachte. Gegen Ende Eures Aufenthalts in Windsor kamen und gingen die Mitglieder seiner Dienerschaft, einige von denen mögen Euch gesehen haben; aber während der Pestepidemie war Lionel die meiste Zeit mit Gaddesdon in Eltham. Und seine Dienerschaft hat er dorthin nicht mitgenommen.«
»Hmm«, sagte Alejandro. »Der unvergleichliche Meister Gaddesdon!«
»Ein Schwachkopf«, bemerkte de Chauliac milde. »Man begreift nicht, wieso Edward an ihn glaubt.«
Bringt uns Beweise, hatte Gaddesdon gesagt, als Alejandro ihn seinerzeit um eine Audienz bei König Edward bat. Dann werden wir Euch anhören. »Er hat mir das mit den Ratten auch nicht geglaubt.«
De Chauliac schnippte sich eine Fleischfaser von der Fingerspitze und beugte sich vor. »Ach ja, die Ratten«, kam er wieder zum eigentlichen Thema. »Bitte, vergebt mir meinen Spott von vorhin. Im ersten Moment erschien mir Eure Theorie töricht. Aber ich bin immer bereit zuzuhören. Jetzt habt Ihr meine Aufmerksamkeit.«
»Ein Geschenk, das man nicht vergeuden darf«, sagte Alejandro trocken.
Nahezu ganz Paris war auf den Straßen, um ein wenig frische Luft zu schöpfen, mit Ausnahme von Etienne Marcel und Guillaume Karle, die im Haus blieben und unter der feuchten Hitze litten; aber sie hatten Geheimnisse, deren Austausch nicht auf günstigeres Wetter warten konnte.
Kate litt mit ihnen und mußte sie ständig ermahnen, leise zu sprechen; denn sie »flüsterten« wie die Marktschreier, und die Fenster waren weit geöffnet.
Diese beiden sind echte Gesinnungsgenossen, dachte sie. Gerade erst haben sie sich kennengelernt, und schon unterhalten sie sich so offen wie alte Freunde.
»Navarra ist bloß einer von vielen Adeligen«, behauptete Karle, »obwohl er sich König nennt. Ich glaube, er wäre gern König von Frankreich, und darunter hätten wir alle zu leiden. Er unterscheidet sich kein bißchen von dem, den wir jetzt haben.«
»Wenn Ihr gestattet – da bin ich anderer Meinung, Kamerad. Navarra ist weit besser als unser gegenwärtiger Monarch. Zumindest stärker.«
»Ich habe die Beweise seiner Stärke gesehen. Möge Gott uns vor weiteren verschonen!«
Marcel runzelte die Stirn. »Er könnte uns gute Dienste leisten – wenn er uns gegen seinesgleichen anführt; mit ihm würden wir weit besser fahren als ohne ihn.«
»Aber er ist ein teuflischer Schurke und ein gewissenloser Schlächter!«
»Trotzdem kann man darauf vertrauen, daß er seine Interessen im Auge behält, und um unseren Erfolg zu sichern, brauchen wir nur dafür zu sorgen, daß unsere Interessen mit seinen übereinstimmen.«
»Aber wie sollten unsere Interessen je vereinbar sein? Er wird sich zu unserem neuen Herrn aufschwingen und weit grausamer sein als der Schwächling, der jetzt Anspruch auf den Thron erhebt. Und er wird nichts tun, die Auseinandersetzungen zu beenden, denn sie dienen seinen Zwecken! Alle liegen miteinander im Krieg: Johann gegen Edward, Navarra gegen den Dauphin, die Bauern gegen den Adel, und der Adel metzelt sich gegenseitig nieder! Frankreich befindet sich in einem Zustand der Anarchie, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Wir müssen uns erheben, solange wir die Gelegenheit dazu haben, und die Herrschaft übernehmen!«
»Das sind kühne Vorstellungen, Karle, aber nicht genug durchdacht«, beharrte Marcel. »Bedenkt doch: Wenn wir versprechen, Navarra gegen den Dauphin zu unterstützen, dann wird der ganze Adel sich untereinander bis aufs Blut bekämpfen, und wir werden bewaffnet teilnehmen! Sobald die Schlachten vorüber sind, werden wir immer noch bewaffnet sein, und die Zahl unserer Gegner wird abgenommen haben. Dann sind sie geschwächt, und wir können den tödlichen Schlag führen.«
Denselben Plan hatte Kate geäußert – allerdings unter Vorbehalt. Und obwohl ihm der Gedanke mißfiel, Navarras Sache zu fördern, um seiner eigenen zu nützen, schien es ein vielversprechender Weg, damit auch die letztendliche Erhebung gegen Navarra vorzubereiten.
»Ich muß zugeben, daß es so gelingen könnte.«
»Dann sind wir ja einer Meinung!« rief Marcel erfreut. Er winkte der Dienerin Marie, die inzwischen überschwengliche Entschuldigungen von Karle und Kate wegen ihres groben Auftretens entgegengenommen hatte; jetzt stand sie zur Aufwartung bereit. »Laßt uns auf den Sieg des einen Edelmannes über den anderen trinken – auf daß sie einander abschlachten bis zum letzten Ritter und Frankreich uns Menschen überlassen!«
Das Mädchen trat vor und füllte die Becher. Marcel brachte einen Trinkspruch aus: »Auf den Untergang der Aristokratie!«
Karle stieß wacker mit Marcel an. »Und auf den Erfolg, daß wir am Ende auch Navarra fallen sehen – denn mein Kopf soll eher durch meine eigene Hand in den Staub rollen, als daß ich ihn König nenne!«
Marcel erhob sich halb von seinem Stuhl und drohte Karle mit dem Finger. »Wir werden ihn benutzen, solange wir ihn brauchen, und Ihr seid ein Narr, wenn Ihr das nicht einseht!«
Erneut gerieten sie sich in die Haare. Erst stimmten sie überein, dann widersprachen sie sich; mal beleidigten sie einander, um sich danach gegenseitig zu besänftigen. Und dabei tranken sie ohne Unterlaß. Wie überaus französisch, dachte Kate, während sie zusah, wie die beiden mit Worten und mit ihren Bechern aufeinander losgingen. Sie prosteten sich zu und verfluchten einander im selben Atemzug. Theorien der Revolte wurden hin und her geschoben wie glühende Kohlen. Schließlich konnte Kate nicht länger schweigen.
»Meine Herren!« rief sie. »Ihr bekämpft einander auf derselben Seite der Frontlinie! Marcel hat recht, und Karle ebenfalls. Aber ich glaube, daß Karle vielleicht ein bißchen mehr recht hat.«
»Seht Ihr?« lallte Karle. »Sogar eine Frau versteht das.«
Aus halbgeschlossenen Augen musterte Marcel sie. »He? Was redet dieses Mädel für einen Unsinn?«
»Dieses Mädel hat das Werk Navarras gesehen«, erhob Kate ihre Stimme. »Und wenn ich zu den Bauern gehörte, würde ich lieber dem Teufel schnurstracks in die Hölle folgen, als mich den Launen eines Charles von Navarra auszusetzen.«
Marcel warf ihr einen neugierigen, doch etwas glasigen Blick zu.
»Aber Ihr seid ein Bauernmädchen. Und ein hübsches dazu, finde ich.«
Karle zwinkerte Kate zu und hob trunken seinen Becher. »Ein Prosit auf die Schönheit der jungen Bäuerin!«
Kate wußte nicht, ob sie dankbar oder beleidigt sein sollte. Jedenfalls war sie rot vor Verlegenheit.
Die Männer tranken ihr zu, und ihre Argumente wurden immer lauter und dümmer. Endlich, als Kate es nicht mehr ertragen konnte, warf sie die Hände in die Luft und gebot ihnen Einhalt.
»Messieurs!« zischte sie. »Ihr seid nicht mehr Ihr selbst, nur der Wein spricht noch aus Euch. Und das klingt nach lauter Unsinn.«
Marcel starrte sie benebelt an. »Schön und kühn«, meinte er. Dann wandte er sich an Karle und fragte: »Was habt Ihr noch gesagt, wo Ihr sie gefunden habt?«
Karle streckte die Hand aus, packte Kate und zog sie an sich. Sie wehrte sich kurz gegen seine Umarmung, landete aber auf seinem Schoß. »Das ist kein Mädel«, sagte er mit einem gewissen Stolz, »sondern eine Hebamme. Und ihr eigener père hat sie in meine Obhut gegeben.«
Kate erschrak. Würde Karle sie jetzt in seiner Trunkenheit verraten, nachdem er sie noch vor wenigen Augenblicken beschützt hatte?
Aber Marcel brach in Gelächter aus. Seine Faust schlug auf den Tisch, und er lallte: »Mais oui, natürlich, aber der Wein hat meinen Blick verschleiert, und ich habe sie irrtümlich für das Ergebnis der Bemühungen einer Hebamme gehalten. Sie sieht eigentlich wie ein Kind aus: frisch und rosa und rundlich wie ein Hosenmatz, nicht wahr?«
Kates Wangen brannten vor Scham und Empörung. Wie konnten diese Trunkenbolde ihre Fertigkeiten so leichthin abtun und von ihr reden, als wäre sie ein kleines Dummchen? Finster starrte sie die beiden an. Karle bemerkte es nicht, denn er begann zu schielen.
Dann lachte Marcel und sagte: »Jetzt wird es Zeit, daß dieser betrunkene Narr sich auf sein Lager zurückzieht.« Er versuchte halbherzig, sich zu erheben, fiel aber wieder auf seinen Stuhl zurück. Langsam sank sein Kopf nach vorn, und er legte ihn auf den Arm. Seine Lider schlossen sich flatternd, und nach wenigen Sekunden schnarchte er selig.
Die Magd räumte leise die Becher ab und kehrte mit zwei brennenden Kerzen zurück. Mißbilligend starrte sie die Trunkenbolde an und schüttelte angewidert den Kopf. »Folgt mir«, forderte sie Kate auf. »Nehmt Euren Monsieur mit.«
»Er ist nicht mein Monsieur«, berichtigte Kate, während sie von seinem Schoß und aus seiner Umarmung schlüpfte. Mit ziemlicher Mühe brachte sie den schwankenden Karle auf die Beine. »Und im Augenblick ist er sowieso nur ein Mehlsack und genauso hilfreich.«
»Ich bin niemandes Mehlsack«, beschwerte er sich weinerlich.
»Und schon gar nicht meiner«, ergänzte Kate. Sie stützte ihn mit einer Schulter und versuchte, den Gerüchen seines ungewaschenen Körpers und des starken Rotweins auszuweichen. Marie führte sie eine schmale Treppe hinauf.
Oben betraten sie eine winzige Kammer, in der unter dem Fenster ein Haufen Stroh aufgeschüttet war. In einer Ecke stand ein Nachttopf. Die Kammer bot kaum genug Platz für eine Person zum Stehen. Als das Mädchen Kates bestürzten Blick sah, sagte sie:
»Etwas anderes gibt es nicht. Nur noch das Zimmer des Herrn.«
Das dieser heute nacht vermutlich nicht benützen wird, wenn man ihn nicht hinträgt. Und dazu war das Mädchen zu klein. Also schläft in seinem großen Bett nur eine Dienerin, während ich mich neben diesen Saufaus quetschen muß.
»Bitte helft mir, ihn hinzulegen«, bat sie, und zusammen gelang es den beiden jungen Frauen irgendwie, Guillaume Karles beeindruckende Gestalt der Länge nach auf das Stroh zu betten. Kate stieg über ihn hinweg und riß die Läden des kleinen Gucklochs auf.
»Könnt Ihr mir eine Schüssel Wasser und ein Tuch bringen, bitte? Ich werde mich nicht neben diesen Hund legen, ohne ihn vorher zu säubern – sonst wache ich gewiß morgen mit Flöhen auf.«
Marie kam ein paar Minuten später mit den gewünschten Gegenständen zurück. Dann knickste sie und ging rückwärts aus der Kammer, ein ironisches Lächeln auf den Lippen. »Bonne chance, Mademoiselle!«
Allein mit ihrem recht ramponierten Helden, bemühte sich Kate, ihm seine Kleider auszuziehen. Sie hob seine Arme und Beine, zerrte und zog verbissen an jedem Stück. Kaum gelang es ihr mit den Stiefeln, denn das Leder war alt und hatte sich der Form seiner Beine angepaßt. Sie stand an einem Ende des Lagers und mühte sich ächzend, bis sie seine Füße befreit hatte, die nach der langen Reise wund und voller Blasen sein mußten. Ihre eigenen waren das jedenfalls – aber ihre Schuhe saßen auch nicht so gut wie Karles. Seine Beinkleider mußten aufgeschnürt werden, und als sie die Schnüre aus den Löchern zog, versuchte Karle in seiner Trunkenheit, sich wegzurollen. Sie war also gezwungen, ihn mit einer Hand niederzuhalten, während die andere arbeitete. Sein Haar verfing sich in einigen Fasern seines Hemdes, als sie es ihm über den Kopf zog – es müßte dringend geflickt werden, wenn er es noch länger tragen wollte. Seine Sachen waren schmutzig und rochen ranzig, deswegen verstaute sie alles in einer Ecke unter dem Fenster. Er lag auf dem Stroh, nackt und hilflos – all die guten Dienste entgingen ihm, die ihm eine junge Frau leisten könnte …
Sie betrachtete ihn im Schein der Kerze, bewunderte scheu seinen stattlichen Körper, und ihre Wangen röteten sich. Die Nacht schien plötzlich unerklärlich warm geworden, also tauchte sie die Finger in den Wasserkrug und spritzte sich ein paar Tropfen auf die Stirn, um sich abzukühlen. Doch das bewirkte wenig.
Wenn Père sie jetzt sehen könnte … was würde er sagen? Sie fragte sich, ob Alejandro sie schelten würde, weil sie diesen armen Mann zuerst nackt ausgezogen und dann seine Blöße auch noch betrachtet hatte.
Er würde verstehen, daß sie ihm etwas Gutes tun wollte, besonders im Hinblick auf Reinlichkeit, denn Père legte großen Wert darauf …
Mondschein fiel in die Kammer, also blies sie die Kerze aus und stellte sie beiseite, gewährte Karle ein wenig Diskretion. Sie goß Wasser in die Schüssel, tauchte das Tuch hinein, wrang das überschüssige Naß aus und begann langsam, den Schmutz abzuwaschen, der sich auf dem feuchten Körper des Mannes angesammelt hatte.
Er stöhnte in seinem trunkenen Taumel, und sie dachte einen Augenblick, das Gefühl des nassen Tuchs störte ihn. Doch im Mondlicht sah sie, daß seine Augen zwar geschlossen waren, sein Mund aber in einem fast einladenden Lächeln offenstand. Das kühle Wasser ist ihm doch angenehm auf der Haut, nahm sie nun an und freute sich auf die eigene Säuberung, sobald sie mit ihm fertig war. Sie spülte das Tuch in der Schüssel aus und begann von neuem, ihn zu reinigen, doch als sie an seinen Rippen entlang nach unten fuhr, weckte eine leise Bewegung ihre Aufmerksamkeit.
Bon Dieu, dachte sie, das ist also gemeint, wenn die Leute darüber reden, daß … Sie setzte sich auf ihre Fersen und starrte in ehrfürchtiger Bewunderung Guillaume Karles Gemächte an. Ihre brennende Neugier machte sich durch Wärme in einem Teil von ihr bemerkbar, der sich nie zuvor gemeldet hatte. Sie betrachtete sein Gesicht; er war ohne jedes Bewußtsein, vollkommen weggesackt. Langsam streckte sie die Hand aus und berührte mit leicht zitternden Fingern seinen intimen Körperteil.
Einen Augenblick ließ sie ihre Finger dort ruhen, doch da bewegte sich dieser Teil von ihm abermals. Sie schnappte nach Luft, zog rasch ihre Hand weg und drückte sie an ihre Brust.
Doch sie spürte seine Haut noch an den Fingerspitzen, und so hielt sie die Hand hoch, um sie im Mondlicht zu mustern. Sie sah aus wie immer, und entschieden war es ihre eigene, vertraute Hand. Trotzdem fühlte sie sich irgendwie verändert an.
Leicht durcheinander spülte sie das schmutzige Tuch aus, so gut es ging, und schüttete dann das gebrauchte Wasser aus dem Fenster. Sie füllte die Schüssel mit frischem Wasser aus dem Krug wieder auf, zog sich dann selber aus und wusch sich. Dabei schaute sie sich hin und wieder über die Schulter nach ihrem sägenden gentilhomme um. Danach zog sie ihr Hemd wieder an und legte sich nieder. Als das Stroh unter ihr raschelte, streckte Guillaume Karle eine Hand aus, als sei das die natürlichste Sache der Welt, und legte sie auf ihren Arm. Er öffnete die Augen nur einen Spalt. »Träume ich«, murmelte er benommen, »oder haben Eure Hände mich eben berührt?«
Sie zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Ihr habt gestunken, deshalb mußte ich Euch waschen. Sie haben uns nur dieses eine Bett gegeben.«
Er schien verwirrt und runzelte die Stirn.
Die Hand, die er auf ihren Arm gelegt hatte, war warm und die Berührung zart. Ganz gegen ihren Willen spürte Kate, wie sie ihm gewogener wurde. Doch das unterdrückte sie und äußerte eine deutliche Warnung: »Wir haben keine Wahl, als das Lager zu teilen. Ich vertraue auf Euren Anstand. Solltet Ihr dagegen verstoßen, werde ich gezwungen sein, das restliche Wasser über Euch zu gießen.«
»Aber ich«, lallte er, »ich hätte schwören können …«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ihr seid betrunken, Karle«, flüsterte sie. »Gebt jetzt Ruhe.«
Er schloß die Augen, und schon näherte sich ihm wieder der Schlummer. »Aha … ja … Ihr habt recht.« Seine Worte waren so verschwommen, daß sie sie kaum verstehen konnte. »Das … kommt … vom … Wein …«
Doch die letzten paar Worte, die er seufzend ausstieß, ehe er wieder einschlief, waren nicht mißzuverstehen. »Aber … Ihr … seid … schön.«
Alejandro rülpste, was sein Unbehagen etwas linderte, und fragte sich schuldbewußt einen Augenblick lang, ob Kate irgendwo auf den Straßen von Paris hungerte, während er sich selbst in diesem Palast fast bis zum Platzen vollstopfte.
Wo ist sie jetzt? Sorgt dieser Gauner Karle für ihr Wohlergehen?
Er fragte sich auch, ob de Chauliac vielleicht eine gewisse Verlegenheit wegen seiner reichen Tafel empfand, während so viele französische Bauern auf dem Lande verhungerten; aber Schuldgefühle lagen wohl kaum in der Natur dieses Mannes. Komplimente wird er jedoch haben wollen. »Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft«, sagte er, und die Worte schmeckten bitter auf seiner Zunge.
»Seit meiner Zeit an Edwards Hof habe ich so ein Mahl nicht mehr genossen.«
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Arzt, denn Edward ist ein berühmter Gastgeber.« Dann zog er eine Augenbraue hoch: »Aber Ihr hättet Euch doch gewiß leisten können, angenehm zu leben.«
Da Ihr jetzt im Besitz meiner Reichtümer seid, kann ich es vielleicht nie mehr, Ihr dafür aber ganz bestimmt. »Es war keine Frage der Kosten«, erklärte der Jude. »Ich wollte nicht durch prahlerisches Benehmen Aufmerksamkeit erregen.«
»Gut zu essen kann wohl kaum als prahlerisch betrachtet werden. Vergeßt nicht, daß Ihr in Frankreich seid. Hier ißt jeder so erlesen wie möglich. Einige natürlich besser als andere!«
Alejandro fragte sich, ob de Chauliac irgendeine Vorstellung von der Hungersnot in den Provinzen Frankreichs hatte. Zorn auf diesen gewissenlosen Privilegierten stieg in ihm auf – aber durch irgendein Wunder gelang es seinem Willen, ihn zu unterdrücken. Äußerlich blieb er ruhig, obwohl in seinem Inneren Aufruhr und Nöte tobten. Er konnte an nichts anderes denken als an Flucht und ein Wiedersehen mit Kate. Auch wenn er dabei seines Goldes verlustig ginge, sollte es eben so sein. Dennoch würde er überleben.
Doch was war mit Abrahams Buch? De Chauliac wußte dessen Wert bestimmt zu schätzen und behandelte es entsprechend ehrfürchtig, doch im Besitz des Franzosen würde seine kritische Botschaft die, an die sie gerichtet war, nicht erreichen.
Vielleicht gibt er es zurück …
Nein, es wäre lächerlich, darum zu bitten. De Chauliac würde niemals einwilligen.
Doch er kann seine Geheimnisse ohne Hilfe eines Juden nicht entschlüsseln. Und ich bin der einzige Jude, den er hat.
Wieder argumentierte er mit sich selbst, und das in Gesellschaft eines anderen menschlichen Wesens – auf diese Weise kam er natürlich nicht weit …
»Die Handschrift, die ich mitbrachte …«, begann er, umständlich.
»Ach ja«, sagte de Chauliac. Erwartungsvoll lehnte er sich zurück und wartete darauf, daß Alejandro fortfuhr.
»Sie ist für mich von einigem Wert.«
»Ein schönes Buch, das will ich zugeben.« De Chauliac setzte eine neugierige Miene auf. »Aber es scheint nicht wertvoller zu sein als irgendein anderes. Worin liegt seine Bedeutung?«
Wieder spielte de Chauliac mit ihm: Es war schon genügend Text übersetzt, um ihm die Natur seiner Geheimnisse zu enthüllen.
Aber er will es mich sagen hören. »Es enthält Botschaften der Weisheit für mein Volk.«
»Botschaften von Eurem Gott?«
»Nein.«
De Chauliacs Fragen bekamen plötzlich den Ton eines Verhörs.
»Von wem dann?«
Alejandro schwieg.
»Von wem, frage ich noch einmal.«
»Das weiß ich nicht!« Der Gefangene schrie beinahe. »Es steht nur der Name Abraham darin und daß er ein Priester und Levite gewesen sei.«
»Auf diesen Seiten befinden sich alchimistische Symbole, Kollege. Ist dieser Abraham jemand, der diese Kunst praktiziert?«
»Ich habe noch nicht genug von dem Text entziffert, um das beantworten zu können.«
De Chauliac schwieg eine Weile und dachte nach. Alejandro beobachtete, daß der elegante Franzose reglos auf seinem geschnitzten Stuhl saß, gedankenverloren in die Ferne schaute und die Anwesenheit seines ›Gastes‹ scheinbar vergessen hatte.
Dann erhob sich der Ältere von seinem Stuhl und fing an, den Raum zu durchmessen. Er schwieg immer noch, offenbar mit sich selbst beschäftigt. Endlich schaute er in Alejandros Richtung und sagte: »Morgen werde ich ein paar Gäste zum Diner einladen. Darunter wird auch ein Mann sein, der mit dem Handwerk der Alchimie vertraut ist.«
Alejandro warf de Chauliac einen frostigen Blick zu. Morgen? dachte er. Nein, nicht morgen, denn morgen werde ich fort sein, selbst wenn es mich ein gebrochenes Bein kostet. »Wie Ihr wünscht«, sagte er mit einem feierlichen Nicken. »Ich freue mich darauf.«
Nachdem ihn in dieser Nacht zwei andere Wachen in seine Kammer zurückgeführt hatten, sah Alejandro erschrocken, daß nun ein Holzgitter das Fenster versperrte. Die Arbeit war hastig und nicht allzu sorgfältig ausgeführt, und der Zimmermann hatte etliche Holzreste auf dem Boden liegen lassen. Alejandro nahm eines der Stücke auf und drehte es einen Moment zwischen den Fingern.
Also will er mich hier festhalten, dachte er bei sich, während er mit dem Daumen über das Holz strich. Zumindest werde ich keiner anderen Autorität übergeben.
Dann lachte er laut und bitter auf. Gegenwärtig gibt es keine anderen Autoritäten.
Er versuchte hinauszuschauen, aber sein Kopf paßte nicht zwischen die Gitterstäbe. Wenigstens das hätte er mir lassen können, dachte er unglücklich. Den Blick auf den Fluß. Etwas, worauf ich hoffen könnte.