KAPITEL 16
Janies Gedanken überschlugen sich, als Kristina sie mit Virtual Memorial allein ließ. Es kam ihr vor, als habe sie ein neues Haustier. Da gab es Dinge zu lernen, Eigenheiten zu entdecken; Janie war hellwach und lebendig, obwohl sie sonst um diese Zeit im allgemeinen müde wurde. In London mußte es jetzt ungefähr Mitternacht sein, zu spät, um Bruce anzurufen. Und sie konnte nicht sicher sein, ob die leise Gereiztheit aus ihrem letzten Gespräch noch in der Luft lag. Trotz ihrer Zuneigung zu ihm wußte sie nur zu gut, daß Bruce manchmal zu Schulmeistergebaren neigte, und das letzte, was sie jetzt, da sie sich so für etwas Neues engagierte, gebrauchen konnte, war eine seiner Gardinenpredigten.
Vielleicht müßte sie sich einfach mal wieder physisch austoben, um ausgleichsweise alles loszuwerden, was sich durch zuwenig Schlaf, zuviel Streß und zu viele Sorgen angesammelt hatte. Ein Lauf oder ein schneller Gang würden ihr guttun.
Ich muß ohnehin mit Michael und Caroline reden.
Es war eine mondhelle Nacht und der größte Teil der Strecke gut beleuchtet. Janie hatte schon halb den ersten Häuserblock auf dem Weg zu Michael und Caroline hinter sich, als ihr einfiel, daß Virtual Memorial noch immer auf ihrer Arbeitsplatte in der Küche stand.
Ich sollte ihn mitnehmen.
Aber er enthält noch keine Daten. Wahrscheinlich macht es nichts, wenn ich ihn zurücklasse.
Doch die Erinnerung an das, was mit ihrem Laptop geschehen war, holte sie siedendheiß ein. Sie machte kehrt und rannte zurück, um ihn zu holen.
Nun, tatsächlich führe ich den Hund spazieren. Sie steckte das kleine Gerät in einen leichten, gepolsterten Rucksack und machte sich wieder auf den Weg.
Ein Teil der Strecke führte über den Fahrradweg, wo der Trainer seinen Unfall gehabt hatte. Sie ging diesen Weg regelmäßig und glaubte ihn gut zu kennen. Doch als sie die Straße verließ und die bewaldete Abkürzung nahm, empfand sie plötzlich Kälte und Einsamkeit – nicht das Alleinsein, das sie liebte und oft suchte, sondern die häßliche, zwanghafte Empfindung, die den Körper drängt, um jeden Preis in Bewegung zu bleiben. Das tat sie, während Adrenalin sie durchströmte. Sie achtete darauf, nicht über eines der trügerischen Hindernisse zu stolpern, denen sie begegnen konnte – und die es reichlich gab in einer Zeit, in der man ohne offiziellen Erlaubnisschein nicht einmal ein Unkraut ausreißen durfte. Herausstehende Wurzeln, niedrig hängende Zweige und Schlingpflanzen warteten nur darauf, ihr Fußgelenk zu ergreifen. Sie ging schnell und hob die Füße weit an.
Endlich erreichte sie den eigentlichen Fahrradweg, und als ihre Füße den Asphalt berührten, segnete Janie im stillen jenen unbekannten Regierungsbeamten, der den Weitblick besessen hatte, gegen alle Einwände von Umweltschützern diesen Belag zu genehmigen. Nach dem dunklen, unebenen Waldboden schien selbst das harte Pflaster freundlich; aber als sie einen Abschnitt erreichte, wo eine strategisch angebrachte Laterne eine gute Idee gewesen wäre, kehrte das kalte Gefühl zurück. Stetig einen Fuß vor den anderen setzend, lief sie keuchend durch die unbeleuchteten Abschnitte – es waren perfekte Verstecke, die sie nie zuvor bemerkt hatte.
War es dunkel gewesen wie jetzt, als der junge Trainer stürzte und starb? War er so tief in Gedanken gewesen, daß er einen Stein oder Stock oder sogar eine Schildkröte nicht bemerkt hatte – oder etwa eine Person?
Trotz Fahrrad und so weiter konnte jemand aus dem dunklen Gebüsch springen, einen Radler umstoßen oder anders überwältigen und ihm dann einen schnellen Schlag in den Nacken versetzen; zuletzt legte er den Körper so hin, daß es nach einem Unfall aussah, und dann … tauchte er ab. Es brauchte nur ein paar Sekunden zu dauern.
Als sie das Grundstück von Michael und Caroline erreichte, schwitzend und fröstelnd zugleich, sah sie die beiden in der Abendstille auf ihrer Verandaschaukel sitzen. Sie fühlten sich mühelos wohl miteinander, das konnte Janie sogar in der Dunkelheit ausmachen. Doch ihr gemeinsames Behagen würde, das wußte sie, noch viele Abende durch diese Frage gestört werden: Warum hatte Caroline es für richtig gehalten, Michael seinen Taschencomputer zu entwenden, eine Tat, die so schreckliche Auswirkungen zeitigte?
Es war Loyalität, Michael, hätte Janie gern gesagt. Sie ist mir gegenüber loyal, weil ich ihr das Leben gerettet habe. Aber so eine Erklärung konnte Caroline selbst besser und glaubwürdiger vorbringen. Janie zweifelte nicht daran, daß sie sie demnächst abgeben würde. Gegenwärtig wirkten die beiden, als ginge es ihnen recht gut.
Nachdem Janie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, verließ sie die samtigen Schatten und trat ins Licht der Straßenlaterne.
»He!« rief Caroline herzlich, als sie Janie entdeckte. »Komm und setz dich zu uns.« Sie klopfte neben sich auf den Sitz der Schaukel.
Janie bedankte sich und nickte Michael grüßend zu. »Ich hab mir überlegt … ich wollte, eh, fragen …« Sie hielt einen Moment inne und senkte den Blick. Nach einigen Sekunden innerer Buße blickte sie wieder auf. »Tut mir leid«, setzte sie neu an. »Ich hätte vorher anrufen sollen. Aber in letzter Zeit mag ich Telefone nicht sonderlich … vor allem, wenn man über Dinge reden muß, die andere Leute nicht hören sollen.«
Michael wußte, was Janie wollte, ohne es lange erklärt zu bekommen. Der Tod des Trainers würde für sie Gesprächsstoff sein, bis sie ihn in die Geschichte ihrer Beziehung verwoben hatten – bis er eine selbstverständliche Nebensache geworden war, über die man nicht mehr nachgrübelte. Er gab ihr ein paar Augenblicke, sich zu fassen, und ließ sich dann über die kleinen Stückchen Information aus, die er ihr schon mitgeteilt hatte.
»Es ist nicht offiziell als verdächtiger Todesfall eingestuft worden. Und das wird vermutlich auch nicht passieren, weil es keine Hinweise gibt, die zu einem Verdächtigen oder sonst einer Anklage führen könnten. Aber genau das macht dieses Unglück eigentlich suspekt. Es müßte wenigstens irgend etwas geben, das man sich näher ansehen könnte.«
In diesem Augenblick fragte sich Janie, ob sie Kristina vom Tod des Trainers erzählen sollte. Vermutlich weiß sie schon davon, dachte sie. Aber wenn nicht? War es wichtig, daß sie – oder die anderen – davon erfuhr? Aber wenn sie es Kristina berichtete, würden Caroline und vielleicht sogar Michael hineingezogen. Es war etwas anderes, sich selbst in die Mitte eines Tornados zu begeben, als seine Freunde ähnlichen Gefahren auszusetzen.
»Merkwürdig, daß es keine Spuren gab!« Janie fuhr sich durchs Haar. »Sind sie da sicher? Sie haben aber auch gar nichts gefunden?«
»So ist es.«
»Nun, das bedeutet, daß sie nicht nach Caroline, dir oder mir Ausschau halten werden; aber das bedeutet auch, daß sie wahrscheinlich nicht herausfinden, wer ihm das angetan hat – wenn es denn jemand war.«
»Oder es handelte sich wirklich um einen Unfall.«
Michael sah sie überrascht an. »Das hörte sich aber vor ein paar Tagen noch ganz anders an. Da warst du sicher, daß an der Sache etwas faul ist.«
»In mir geht es drunter und drüber«, gab Janie nach einer Weile zu.
Michael und Caroline wußten nichts von Kristina und der Arbeit, die Janie für sie übernommen hatte. Kristina wußte nichts von Janies kleinem Fischzug mit Caroline, um an die Daten der Jungen zu kommen. Sie hatte Janie durch ihre Erkundigungen beim Camp gefunden. Zumindest hatte sie das gesagt. Aus irgendeinem Grund, den Janie nicht erklären konnte, glaubte sie ihr.
Was bedeuten würde, daß irgendeine andere Person oder Gruppe oder Agentur die Jungen aus Camp Meir im Visier hatte. Nicht unbedingt das Camp selbst – obwohl das noch nicht feststand. Der tote Mann mußte eine Drohung gewesen sein – und Janie hatte keinen Grund zu der Annahme, daß sie an Michael oder Caroline gerichtet war. Aber wenn Kristina und ihre Agentur sie durch das Lager gefunden hatte, würden die anderen, die in ihrer Vorstellung rasch zu den Bösen wurden, sie dann nicht auch auf diesem Wege finden?
Vielleicht nicht. Oder bereits passiert … Möglicherweise war die Website vom Camp Meir ein zu enges Verbindungsglied, als daß jemand es riskieren wollte, sich durch ihre elektronische Abrufung zu verraten.
Keinen dieser Gedanken konnte sie aussprechen oder aufschreiben. Ich bin die einzige, die alles weiß, wurde Janie plötzlich klar. Deshalb sollte ich gut auf mich aufpassen.
Sie wandte sich an Michael. »Könntest du so nett sein und mich nach Hause fahren?«
Das Treffen zwischen Kristina und dem Mann, der ihr Tun beaufsichtigte, war fast wie die Befragung nach der Rückkehr von einem Einsatz.
»Ich fühle mich allmählich wie ein geheimer Regierungsspion«, sagte sie zu ihm.
»Worüber du natürlich Bescheid weißt«, antwortete er mit einem Lachen.
»Nun ja, ich habe eine Menge gelesen.«
»Klar! War nur ein Spaß – versuche, es leicht zu nehmen. Aber es sieht tatsächlich so aus, als sei dieses ganze Projekt auf einmal sehr kompakt geworden.«
»Na, das ist es doch auch, meinst du nicht?«
»Vermutlich. Und je eher die Sache endlich ans Licht kommt, desto besser werde ich mich fühlen. Weißt du, deine Arbeit war wirklich hervorragend, Kristina. Du hast deine Sache heute abend glänzend gemacht. Deine Erklärungen waren klar und präzise, und sie haben unserer neuen ›Anführerin‹ sehr energisch deutlich gemacht, welche Verpflichtungen auf sie zukommen.«
»Ach, weißt du, ich hatte ja reichlich Zeit, mich vorzubereiten.«
»Diese Zeit hast du offenbar gut genutzt. Aber es ist komisch. Ich dachte, sie würde vielleicht etwas … zögerlicher reagieren. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, daß sie ein bißchen davor zurückschreckt. Sich sogar zurückzieht.«
»Meiner Ansicht nach empfindet sie es als Herausforderung.«
»Wer weiß. Es wäre schön zu wissen, was sie wirklich über all das denkt.«
»Übrigens kann ich dir versichern, daß das so ungefähr das einzige ist, was wir nicht wissen. Der Apparat läuft wie geschmiert. Die Übertragungen kommen kristallklar durch. Sie hat das Gerät mitgenommen, als sie ihre Freunde besuchte, und wir haben alles mitgehört. Es war eine brillante Idee von dir, den Sender einzubauen.«
»Weißt du, das Unterlassen wäre eine Sünde gewesen. Obwohl es komisch ist, heutzutage einen solchen Sender zu verwenden. Eigentlich ein altmodisches Ding. Aber er funktioniert.«
Am nächsten Morgen stand Janie früher auf als die Vögel, und obwohl sie wußte, daß er nicht zu Hause sein würde, rief sie Bruce an. Sie wollte eigentlich gar nicht wirklich mit ihm sprechen, sondern nur in Kontakt bleiben, alles Nötige tun, um die Beziehung am Laufen zu halten, während sie seinen Rat, aus ihrem zunehmend komplizierten Leben auszusteigen, wenigstens für eine Weile, schlichtweg ignorierte. Sie hinterließ nur eine kurze Nachricht; aber sie hoffte, daß ihre Zuneigung rüberkommen und er begreifen würde, daß sie ihn liebte, trotz ihres harschen Verhaltens in letzter Zeit.
Gleich darauf, mit einer Tasse starkem Kaffee in der Hand, legte sie sich ordentlich ins Zeug. Sie aktivierte Virtual Memorial und stellte ihn auf Empfang. Dann lud sie alle Dateien, die vielleicht im Satelliten waren, zu ihm ein. Es kamen dreiundvierzig, die mit allen Informationen in das Datensammlungsprogramm aufgenommen wurden. V. M. verbrachte die nächsten paar Minuten damit, die Namen und Kennwörter mit der Liste zu vergleichen, die sie von Big Dattie hatte, und jeden Vermerk auf Vollständigkeit zu prüfen.
Die Mitarbeiter – Janie wußte nicht recht, wie sie sie sonst nennen sollte – waren im Sammeln von Informationen bemerkenswert tüchtig gewesen. Zu ihrem Bedauern befanden sich sämtliche Jungen, deren Daten eingegangen waren, in Krankenhäusern; deshalb war es so einfach, an die Daten heranzukommen. Janie stellte sich einen unschuldig aussehenden Labortechniker oder Sozialarbeiter oder Verwaltungsangestellten vor, der ans Bett des Jungen trat, wo dieser flach auf dem Rücken lag, mit Gipsverbänden gesichert wie Abraham Prives. Eine Mutter oder ein Vater oder auch beide, wenn das Kind Glück hatte, würde am Bett sitzen, abgespannt und bleich, und verzweifelt die Hände ringen. Der Mitarbeiter würde ein paar Entschuldigungen wegen der Störung flüstern, was die gramerfüllten Eltern akzeptieren würden, denn schließlich diente der ganze Aufwand ja dem Wohl des Kindes. Und während die Angehörigen nichtsahnend zuschauten, würde der Mitarbeiter leicht mit einem Tupfer zum Sammeln von Zellen über den Arm des Kindes fahren, den Tupfer diskret in einem Plastikbeutel verstauen und dann zum Labor für DNS-Auswertung bringen, falls die Einrichtung über eines verfügte.
Es fiel ihr leicht, die Dateien auszusondern, die von Mitarbeitern aus den Verwaltungen geschickt worden waren; denn diese Dateien enthielten die kompletten Bodyprints der Patienten. Techniker hätten zu dieser Informationsebene keinen Zugang, außer natürlich, wenn sie beim Bodyprinten mitwirkten. In Manhattan schien es einen Mitarbeiter zu geben – für Janie waren sie alle anonym –, der Zugang zu einer Menge Informationen hatte. Die Dateien, die von dort kamen, waren von fast perfekter Vollständigkeit.
Bei jeder Datei mit unvollständigen Daten sandte sie dem Absender die Nachricht, sie brauche mehr, und zählte genau auf, wo noch Lücken bestanden. Sie wollte benachrichtigt werden, falls diese Informationen aus irgendeinem Grund nicht zu beschaffen waren. Janie wußte, daß es bei einigen der Jungs einfach unmöglich sein würde, an Bodyprints heranzukommen.
Aber das, was wir tun müssen, schaffen wir auch ohne sie.
Lächelnd klappte sie V. M. zu. Sie hatte wir gedacht.
Myra Ross’ Stimme auf dem Anrufbeantworter überschlug sich nahezu hektisch. Oder war sie nur aufgeregt? fragte sich Janie.
Lieber Gott, dachte sie, während sie alles noch einmal abspielte, bitte laß diesem Journal nichts passiert sein.
Doch trotz all ihrer Bitten weigerte sich Myra, ihr am Telefon irgend etwas zu sagen, als Janie zurückrief. »Sie müssen einfach herkommen«, verlangte sie. »Ich muß Ihnen etwas zeigen.«
»Im Augenblick kann ich nicht weg, ich stecke mitten in der Arbeit.«
»Dann kommen Sie, sobald Sie können.«
Die Neugier brachte sie um. »Also gut, in ungefähr einer Stunde!«
»Die Wachleute wissen dann Bescheid, daß Sie es sind«, informierte Myra sie.
Als Janie das Museum erreichte, steckte Myras Erregung sie an. Die Kuratorin führte sie sofort in den gleichen Arbeitsraum, in dem sie schon einmal gewesen waren.
»Ich möchte, daß Sie sich das anschauen«, bat sie.
Zu Janies Überraschung lagen zwei Folianten auf dem Tisch. Einer war das Journal. Der andere war größer und offensichtlich älter mit einer Art Messingdeckel, vor Patina und von häufigem Gebrauch eingedellt. Es schien sich um irgendeine Handschrift zu handeln, die ebenso faszinierend wirkte wie das Journal, obwohl Janie den Grund nicht genau hätte angeben können. Sie merkte nur, daß er sie ebenso unvermittelt in Bann zog, wie das bei dem Journal der Fall gewesen war. Instinktiv streckte sie eine Hand aus, um ihn zu berühren.
Mitten in der Bewegung hörte sie Myra stöhnen. Janie zog ihre Hand zurück und spürte den geisterhaften Hieb irgendeines imaginären Patrons auf ihre unbotmäßige Pfote.
»Himmel, Entschuldigung!«
Myra stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, und lenkte ein:
»Schon gut. Eigentlich eine völlig verständliche Reaktion! Ich würde sie auch berühren wollen, wenn ich Sie wäre, aber wir müssen jeden unnötigen Kontakt mit dieser Handschrift vermeiden, denn sie ist einfach zu alt und spröde, um sie unbekümmert anzufassen.« Doch dann winkte sie Janie mit einer vergebenden Bewegung näher heran. »Nun, ich wollte Ihnen ja dieses Objekt zeigen – also schauen Sie es sich auch an. Sagen Sie, was Ihnen auffällt.«
Mit Schutzhandschuhen schlug sie unendlich behutsam eine bestimmte Seite auf. Janie sah mit gerunzelten Brauen aufmerksam hin und suchte nach etwas Aufschlußreichem. Die beiden Bände waren unterschiedlich in Aussehen und Material: Alejandros Journal besaß einen Ledereinband, die Seiten bestanden aus Pergament. Technisch aussehende kleine Strichzeichnungen illustrierten das Geschriebene. Das andere Buch wies wunderbar kunstvolle Zeichnungen auf, unter denen Texte standen, die Janie für Hebräisch hielt. Auf dem gegenüberliegenden Blatt aus Papyrus standen jeweils Anmerkungen in verblaßter Tinte, der lateinischen Schrift nach von irgendeinem Europäer verfaßt.
»Die Seiten«, meinte sie, »sind so dünn. Sie sehen fast aus, als könnten sie jeden Moment zerfallen.«
»Wir haben sie mit einem Konservierungsmittel behandelt. Aber das war es nicht, was ich Ihnen zeigen wollte.«
Allmählich fühlte sie sich wie in einem Examen. Vier minus, zensierte Janie sich selbst. »Ich gebe auf«, sagte sie schließlich zu Myra.
»Was soll ich denn hier sehen?«
»Ich dachte, Sie würden es sofort bemerken«, sagte die Kuratorin etwas unglücklich.
»Es tut mir leid, ich muß eine komplette Idiotin sein. Vermutlich liegt es einfach daran, daß ich müde bin; ich hatte einen anstrengenden Tag, aber ich weiß nicht, was …«
»Die Handschrift. Die Handschrift ist in beiden Büchern gleich.«
Wie vom Donner gerührt starrte Janie auf das andere Manuskript. Obwohl die Handschrift aufgrund des Alters nur noch schwer zu erkennen war, sah sie es schließlich. »Alejandro?« flüsterte sie.
»Das glauben wir.«
Janie spürte, wie ihre Knie weich wurden. »Jetzt schlägt’s dreizehn«, sagte sie.
Einige Minuten später saß sie auf einem Hocker und trank ein Glas Wasser, während Myra Ross darlegte, was sie bislang in Erfahrung gebracht hatte.
»Ich habe es erst bemerkt, als die neuere Handschrift unter einem Mikroskop lag. Da habe ich dauernd gedacht: Woher kenne ich diese Schrift bloß? Wir haben also genaue digitale Abbildungen beider Kalligraphien angefertigt und dann einen ziemlich komplizierten Verdeutlichungsprozeß durchgeführt, der für solche Dinge entwickelt worden ist. Bei alten Schriften sind die Unterschiede in den Materialien so groß, daß es schwierig ist, die Buchstaben selbst zu identifizieren. Aber es gibt eine Reihe von Wörtern, die in beiden Büchern vorkommen; die haben wir stark vergrößert und dann im Computer übereinandergelegt. Sie sind nahezu identisch. Höchstwahrscheinlich hat dieser Canches in beide Bücher geschrieben.« Sie seufzte träumerisch und schaute dann zu den beiden Folianten hinüber. Danach blickte sie erneut Janie in die Augen und sagte: »Ich kann Ihnen versichern, es war ein faszinierender Moment, als ich das herausfand.«
»Das ist in der Tat spannend, Sie haben völlig recht«, stimmte Janie ihr zu. »Vielleicht hätte ich auch gejubelt ›unglaublich, umwerfend, nicht zu fassen‹.«
»Lauter angemessene Bezeichnungen! Aber das ist nicht alles, es kommt noch mehr. Diese beiden Bücher stammen aus verschiedenen Epochen. Wir wissen, daß Ihres um 1300 entstanden ist, doch für das andere haben wir kein genaues Datum herausgefunden. Es ist aber erheblich älter, vielleicht sogar Generationen. Wieviel genau, können wir einfach nicht sagen. Wir haben die ganze Sache mehrmals überprüft, aber nirgendwo im Originaltext steht eine Jahreszahl. Die Datierungsmethoden, über die wir verfügen, geben uns einen zeitlichen Rahmen vor – zugegebenermaßen einen ziemlich großen.«
»Wie kann es sich dann um die gleiche Handschrift handeln?«
»Alejandros Schrift in dem älteren Buch ist nicht der Originaltext. Sie wurde lange nach der ursprünglichen Herstellung des Buches hinzugefügt. Wir sind zu der Schlußfolgerung gelangt, daß Ihr Dr. Canches einer der Übersetzer der älteren Handschrift war.«
»Es gab mehr als einen Übersetzer?«
»Eindeutig. Wir haben Abrahams Manuskript von einem Analytiker mittelalterlicher Schriften untersuchen lassen, als wir es bekamen. Und es ging auch aus der in der Übersetzung benutzten Sprache hervor – Canches’ Französisch war höfisches Französisch, eine archaische Version dessen, was heute gesprochen wird – ungefähr so wie Altenglisch. Deswegen konnten Sie bei der Übersetzung Ihres Journals Hilfe finden. Er könnte es in einer akademischen Umgebung oder einem Adelshaus erlernt haben. Ab einer gewissen Seite tauchte eine andere Handschrift auf, und das Französisch verändert sich auch. Es wird zu Provençalisch, das eigentlich dem Spanischen näher ist als dem Französischen. Die Leute, die es benutzten, gehörten den unteren Klassen an, zumindest damals – über den heutigen Gebrauch weiß ich kaum etwas –, oder sie kamen aus kleineren Orten im Süden Frankreichs. Wir glauben, daß Canches der erste von mehreren war, die allesamt in das Buch geschrieben haben. Er hat anscheinend seinen Wert erkannt und einige Zeit darauf verwendet.«
»Ich weiß, daß er das Lernen liebte, einfach um seiner selbst willen – aber ich frage mich, was dieses Buch für ihn so wertvoll machte.«
»Das genau zu sagen ist nicht leicht. Aber wenn ich ein Jude in jener Zeit gewesen wäre, hätte ich alles zu schätzen gewußt, was mir den Weg ein wenig erleichterte. Und dieses Buch ist im wesentlichen ein sehr langer Brief mit Anweisungen des Autors, eines Mannes namens Abraham, an die Juden, die in Europa lebten.«
Myras Augen funkelten vor Erregung. »Im ersten Teil des Buches erteilt er ihnen allgemeine Instruktionen zur Lebensordnung; aber eigentlich handelt es sich um ein alchimistisches Lehrbuch. Es enthält alle möglichen Rezepturen dafür, wie man gewöhnliche Metalle in Gold verwandelt. Vermutlich wollte Abraham sicherstellen, daß sein Volk über finanzielle Mittel zum Überleben verfügte. Also wies er sie an, wie sie ihr eigenes Gold herstellen konnten. Es klingt märchenhaft.«
»Aber das ist doch kompletter Unsinn!«
»Unsinn für uns, aber in der damaligen Zeit gab es viele Menschen, die glühend an eine solche Möglichkeit glaubten. Eigentlich war es eine Besessenheit des Mittelalters und der Renaissance. Heutzutage versuchen wir krampfhaft, Freunde bei der Berufssuche golden anzupreisen. Damals ging es ebenfalls um ›Vergoldung‹. Es kann durchaus sein, daß Ihr Dr. Canches so etwas für möglich hielt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Janie entschieden. »Alejandro war Wissenschaftler, und zwar ein integrer Mann.«
Myras Augen blitzten. »Ein mittelalterlicher Wissenschaftler. Vermutlich glaubte er, die Welt sei flach, wenn er überhaupt darüber nachgedacht hat. Und Babys entstünden, indem winzige Menschlein – sie nannten sie Homunculi – während des Geschlechtsverkehrs vom Vater in die Mutter gesät würden. Es wäre also nicht abwegig, wenn er sich ernsthaft für ein Handbuch der Alchimie interessiert hätte. Alchimisten waren, jedenfalls in Europa, die ersten, die etwas sehr entfernt mit der Chemie von heute Verwandtes praktizierten. Und all das geschah im Rahmen religiöser Rituale …«
Die Kuratorin verstummte, als sie Janies unglücklichen Gesichtsausdruck wahrnahm. »Was ist los?« fragte sie.
»Ich bin ein bißchen enttäuscht.«
»Meine Güte, warum? Sie wollen immer noch einen unbegreiflichen Genius aus ihm machen. Vergessen Sie es. Das hier ist viel, viel aufregender.«
»Nachdem ich sein Journal gelesen hatte, hatte ich den Eindruck, er sei brillant.«
Myra seufzte über so viel Begriffsstutzigkeit. »Hebräisch, Französisch, Latein, Spanisch, von Englisch ganz zu schweigen, damals eine noch ziemlich unentwickelte Sprache – natürlich war er brillant! Die Übersetzungen, die auf seine folgen, sind nicht annähernd so genau. Er hat einen großen Teil des Anfangs übersetzt und dann anscheinend ziemlich abrupt damit aufgehört. Obwohl ich Ihnen sagen muß, daß ihm ein paar Fehler unterlaufen sind. Aber wenn ich darauf wetten sollte, würde ich sagen, er hat diese Fehler absichtlich hineingeschmuggelt. Es waren einfache Wörter, und an anderen Stellen hat er sie richtig übersetzt.«
»So eine Nachlässigkeit paßt nicht zu ihm.«
»Vielleicht stand er unter irgendeiner Art von Zwang und wollte nicht, daß die Erkenntnisse des Buches in falsche Hände gerieten.«
»Das sieht ihm schon ähnlicher«, räumte Janie ein.
Myra lächelte und schaute auf die Handschrift nieder. »Aber trotz der Fehler ist es faszinierend, was da steht.« Vorsichtig blätterte sie die Seiten zurück und las die Anrede laut vor. »Abraham der Jude, Priester, Levit, Astrologe und Philosoph, wünscht dem Volk der Juden, vom Zorne Gottes im Land der Gallier zerstreut, Gesundheit.« Sie strahlte vor Zufriedenheit. »Er hat es auf die Rückseite der Blätter geschrieben. Papyrus, es waren also wirkliche Blätter. Deshalb sind sie in einem so zerbrechlichen Zustand. Blätter sind dazu geschaffen, sich aufzulösen.«
Diesmal schüttelte Janie ungläubig den Kopf. »Das ist zuviel.«
»Da bin ich Ihrer Meinung. Der Mann kam herum.«
»Ob er wollte oder nicht«, merkte Janie an. Mit etwas wie Sehnsucht schaute sie zwischen den beiden Bänden hin und her. »Ich bin von Alejandro Canches fasziniert, seit ich sein Journal das erste Mal gesehen habe.« Langsam und voll tiefem Respekt fuhr sie fort:
»Wissen Sie, daß er im vierzehnten Jahrhundert Antikörper begriff und dieses Verständnis benutzte, um sich mit Hilfe jener alten Hebamme Sarah ein Heilmittel gegen die Pest auszudenken? Die Pest! Wenn jemand, der etwas zu sagen hatte, auf ihn gehört und nur ein paar einfache Anweisungen befolgt hätte – dann hätte der Schwarze Tod vielleicht nicht so lange gewütet, und Millionen wären am Leben geblieben. Aber vermutlich haben ihn alle für verrückt gehalten.« Sie starrte ausdruckslos auf ihre Füße nieder und sah dann verwirrt wieder auf. »Verrückt oder nicht, manchmal habe ich fast das Gefühl, diesen Mann zu lieben. Über all die Jahrhunderte hinweg. Keine romantische Liebe, nur dieses tiefe, wunderbare Staunen, wie man es etwa bei einem Kind empfindet.«
Myras Gesichtsausdruck wurde wärmer. »Dann erkläre ich Sie hiermit offiziell zur Jüdischen Mutter ehrenhalber«, sagte sie.
»Jetzt können Sie zu Recht sagen: ›Und das ist mein Sohn, der Arzt …‹«
Endlich lachte Janie. »Ich fühle mich geehrt. Wahrhaftig. Also, von einer jüdischen Mutter zur anderen, was bedeutet das alles?«
»Es bedeutet, daß Ihr Schriftstück viel mehr wert ist, als ich ursprünglich dachte. Und ich spreche nicht nur von Geld.«
Die Nachricht vom potentiellen Wert des Journals war nicht sonderlich verstörend – aber von ein neuer Gast in Janies Gedankenhotel, und dieser Gast würde bald Zimmerservice verlangen.
Als Janie sich an diesem Nachmittag vor Virtual Memorial setzte, erwartete sie eine weitere Überraschung. Eine Auswertung, die sie am Vormittag in Gang gesetzt hatte, war beendet, die Ergebnisse blinkten.
Sie wußte, in der Sekunde, in der sie diese Datei öffnete, würde sie von ihr Besitz ergreifen.
»Neulich habe ich gelogen«, sagte sie am Telefon zu Tom. »Ich muß doch reden.«
»Nun, weißt du was? Ich glaube, du solltest auf Wanderschaft gehen.«
Oje! Sie schob eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr und biß sich auf die Lippe. Sie war dankbar, daß Tom ihre nervösen kleinen Gesten nicht sehen konnte. »Eh … habe ich vergessen, meine Rechnungen zu bezahlen?«
Sein Lachen kam von Herzen und war erfrischend zu hören.
»Nein. Das war bloß einer meiner lahmen Versuche, humorvoll zu sein«, sagte er. »Liegt mir nicht, schätze ich – obwohl ich wahrscheinlich nie aufhören werde, komisch sein zu wollen. Heute nachmittag hatte ich mir Zeit für einen Spaziergang freigehalten. Und das Wetter macht mit. Aber mein üblicher Partner hat abgesagt. Ich würde trotzdem gern gehen, bloß nicht allein. Du kannst wandern und gleichzeitig reden, oder?«
Sein üblicher Partner. Das klang ominös, aber sie fragte nicht nach. »Heute – ich weiß nicht. Ich verspreche nichts. Aber einen Versuch will ich gern unternehmen.«
»Die meisten Wanderer machen immer denselben Fehler: sie schleppen zuviel Zeug mit.« Er zupfte spielerisch an ihrem Schulterriemen, als sie vor ihm auf eine Felskante kletterte. »Es wäre einfacher, wenn dein Rucksack leichter wäre.«
»Er ist nicht schwer«, protestierte Janie. »Und ich habe nichts Überflüssiges mitgenommen.«
Im stetigen Rhythmus erklommen sie einen langen, felsigen Abhang, mehr ein Berg als ein Hügel, trügerisch wie die Höhle eines Löwen. Auf der Hinfahrt hatte Tom ihn als »mittelschwere Strecke« beschrieben. Doch stellenweise war der Aufstieg doch schwierig, und Janie mußte sich bemühen, sich festzuhalten. Sie schaute über die Schulter zurück und sah Tom tadelnd an. Er war dicht hinter ihr und lachte versteckt vor sich hin. Sie sah die Heiterkeit auf seinem Gesicht und verspürte einen Moment den Drang, ihm ihren Bergstiefel ins Gesicht zu pflanzen.
»Findest du das auch komisch, du Witzbold?« sagte sie. »Ich nicht. Du hast ganz eindeutig Spaziergang gesagt.«
Nachdem sie oben auf der Felsformation wieder festen Halt hatte, setzte Janie sich vor einen Geröllbrocken, lehnte sich zurück und gönnte ihren müden Armen und Beinen Entspannung. Nach einem langen Schluck aus ihrer Flasche schüttete sie sich ein bißchen Wasser ins Gesicht, wischte es mit dem Ärmel ihrer Bluse ab, und da sie schon einmal in der Nähe war, putzte sie sich damit auch gleich die Nase.
»Puh«, sagte sie und kniff die Augen zusammen, »Schweiß mit Insektensalbe ergibt wirklich eine ekelhafte Kombination.«
»Auf derartige Erfahrungen hat jeder Mensch von Zeit zu Zeit ein Recht. Wir üben hier also nur unsere Menschenrechte aus.«
Das Grinsen auf seinem Gesicht war so jungenhaft, daß Janie für einen Moment seine mittleren Jahre – er war ja in ihrem Alter – vergaß. Er hatte sich ein Stirnband um den Kopf gewunden, und sie sah wieder das volle Haar vor sich, das er einst hatte; obwohl ein gründlicher Beobachter schon in seiner Jugend bemerken konnte, daß es eines Tages dünner werden würde. »So sollte der Mensch leben«, verkündete er den Felsen, während er sich mit den Fäusten begeistert an die Brust schlug. »Schweiß und Dreck und Muskelkater!«
»Igitt.« Janie lachte. »Die Mensch in Crowe nicht! Zeig mir den nächsten Whirlpool.«
»Später, Weib. Heute mußt du ihn dir erst verdienen.« Er nahm seine eigene Wasserflasche heraus, trank durstig und wischte sich dann ebenso achtlos wie sie vorher mit einem Zipfel seines T-Shirts den Schweiß ab. »So«, sagte er sachlich, »jetzt rede.«
»Bist du sicher, daß du mich vorher nicht noch ein bißchen mehr foltern willst?«
»Nein. Du siehst gequält genug aus.«
»Tja, du hast mich durchschaut.«
Tom wartete einen Moment und sagte dann: »Das setzt dir alles ganz schön zu, oder?«
Ein über ihnen kreisender Falke erweckte Janies Aufmerksamkeit. Sie beschirmte ihre Augen und beobachtete, wie er ohne sichtbare Anstrengung nach seiner nächsten Mahlzeit spähte, für die er keinen Koch bezahlen mußte. Neidisch seufzte sie und sah dann wieder ihren lieben, vertrauten Gefährten an. »Ja, es setzt mir zu, in Ordnung. Bruce hat mir vor ein paar Tagen gesagt, ich sollte einfach alles stehen und liegen lassen, und irgendwohin rennen, wo man mich haben will. Vielleicht hat er recht.«
Tom schnippte sich eine Mücke vom Arm und stieß ein ironisches »Hmph« aus. »Bolivien würde dich nehmen«, stellte er zur Wahl. »Madagaskar auch. Und sogar jemand, der von den Einwanderungsgesetzen sowenig versteht wie ich, könnte dich wahrscheinlich in gewisse zentralafrikanische Länder schleusen. Oder nach Indien, wenn du wirklich verzweifelt bist.«
»Zu schade, daß ich dort nicht hinwill.«
»Darüber bin ich eigentlich ganz froh.«
Ihre Blicke trafen sich, und sie sahen sich einen Moment an.
»Ich würde dich vermissen.«
Endloses Schweigen. Dann fand Janie ihre Stimme wieder.
»Eventuell ich dich auch …«
Irgendwie mußte die Situation bereinigt werden, und wie immer schaffte Tom das mit einer Bemerkung, die ihn selbst ein wenig abwertete. »Ich meine, was würdest du mit all deinem Geld machen, wenn du es nicht mir geben müßtest?«
»Vermutlich würde ich mir einen neuen Anwalt suchen.«
Er lachte, und das klang vollkommen echt. »Na, wenigstens würde es innerhalb der Branche bleiben. Dafür muß man auch schon dankbar sein.« Dann wechselte er nahtlos das Thema und rettete sie beide. »Also, jetzt hast du mich hier raufgeschleppt, um zu reden …«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sagte sie: »Was das Schleppen betrifft, driften offensichtlich unsere Erinnerungen auseinander.«
Dann ächzte sie laut, wandte den Blick ab und starrte zum Horizont. »Es kommt mir vor, als würde wieder alles über mir zusammenschlagen.«
Nach einem kurzen Zögern legte er eine Hand auf ihre Schultern und begann, sie leicht zu massieren. »Deine rechtlichen Probleme werden sich mit der Zeit alle lösen. Ich kann dir nur zu Geduld raten.«
»Ja – wenn ich nur rechtliche Probleme hätte.«
»Meine Zulassung gilt halt für solche!«
»Im Augenblick brauche ich keinen Anwalt, Tom, sondern einen Freund.«
Jeder Humor verschwand aus Toms Stimme. »Janie, den hast du, das weißt du doch. Auch ohne Worte.«
»Ich weiß. So habe ich das nicht gemeint. Tut mir leid. Ein wie guter Freund möchtest du heute sein?«
Sofort wurde er wieder frech. »Welches Level dir gefällt.«
»Nett und absolut verschwiegen?«
»Verdammt. Und ich dachte, ich käme mit dir endlich weiter …«
Unwillkürlich mußte sie lächeln. »Na ja, vielleicht nicht unbedingt die höchste Geheimhaltungsstufe. – Ich weiß wirklich nicht, was ich von all dem halten soll.« Sie öffnete ihren Rucksack und nahm Virtual Memorial heraus, und während sie ihn auf ihren Schoß nahm, erzählte sie Tom von der rätselhaften Kristina und deren gewagtem Eindringen in Janies Leben. Sie schilderte die faszinierende Herausforderung durch diese junge Frau, die Betsy viel ähnlicher sah, als Janie lieb war.
»Es erinnert mich an: Mission Impossible.«
»Und all das passiert hier auf Virtual Memorial, meinem neuen Haustier. Ich darf ihn nie allein lassen.«
»Warum nicht? Knabbert er die Möbel an?«
»Gott sei Dank nicht, und bislang scheint er auch in etwa stubenrein.« Sie klappte den Deckel auf, und der Bildschirm erwachte zum Leben. »Vermutlich, weil er eine Menge Probleme verursachen könnte, wenn er in die falschen Hände fiele.«
Tom dachte ein paar Augenblicke nach. »Ist das der Grund, warum du dich nach deinem Testament und deiner Versicherung erkundigt und all deine Wertsachen in meinen Safe gebracht hast?«
»Ja. Kristina hat mir empfohlen, ›mein Haus zu bestellen‹.«
»Donnerwetter!« Tom schaute einen Moment auf die Felsen unter ihnen. Dann wandte er sich wieder an Janie und sagte: »Um einen Ausdruck aus unserer Jugend zu gebrauchen: Das ist heavy.«
»Ja, finde ich auch. Heute abend werde ich die erste Auswertung der gesammelten Daten durchsehen. Ich habe keine Ahnung, was ich finden werde, aber ich hoffe auf erste Zusammenhänge.«
»Janie«, sagte Tom nach einer Denkpause, »macht dir dabei irgendwas wirklich Sorgen?«
»Aber natürlich. Ich wäre eine Idiotin, wenn ich keine Angst hätte. Neuerdings scheint das mein Normalzustand zu werden. Diese kleinen Berichte über MR SAM erschrecken mich zu Tode.«
»Na, da stehst du nicht allein. Die jagen mir auch Angst ein.«
»Um Himmels willen, Tom, was sollen wir machen, wenn er wiederkäme?«
»Ich weiß nicht.«
Janie schwieg eine Minute. »Aber du liebe Zeit!« sagte sie endlich. »Angst oder nicht, ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und mir die Daten anzusehen.«
Tom nahm ihre Hand und drückte sie ermutigend. »Aber du sagst trotzdem, daß dich all das verrückt macht. Ich glaube nicht, daß es daran liegt. Eher fühlst du dich zum erstenmal seit Ewigkeiten wieder lebendig, und du weißt nicht, was du mit all der positiven Energie anfangen sollst.«
»Aber ich empfinde einen solchen … Konflikt … aus so vielen Gründen …«
»… vor allem, weil du dir solche Mühe gibst, ein harmloses Leben zu führen. Vielleicht hat der kosmische Troll für dich etwas anderes im Sinn?«
»Nun, dieses eine Mal wünschte ich mir, er würde sich mir in einer netten, normalen Laune präsentieren.«
»Das steht nicht zur Wahl, Janie.«
»Darüber könnte man streiten.«
Tom lächelte ironisch. »Es würde vermutlich nichts Gutes dabei herauskommen, wenn wir unsere persönliche Wahl träfen.«
Sie holte tief Luft und stieß dann langsam und entschlossen den Atem wieder aus. »Was also meinst du, soll ich tun, Weiser Mann?«
»Willst du die Antwort von dem Anwalt oder dem Freund?«
»Im Augenblick befinden wir uns auf dem Mensch-zu-Mensch-Level, oder?«
»Dann meine ich, daß du es machen solltest – diese Untersuchung, muß ich es wohl nennen –, und zwar mit aller Energie, die du hast. Dir wäre sonst nicht wohl in deiner Haut. Meiner Ansicht nach solltest du nicht einmal daran denken, woanders hinzugehen – solange die Sache nicht zu deiner Zufriedenheit abgeschlossen ist.« Er stand auf und klopfte sich den Staub vom Hosenboden.
»Außer«, sagte er und wies auf die nächste Felsspitze, »aufwärts.«
»Was ist mit Island?«
Er schaute ihr nicht in die Augen. »Na, das solltest du natürlich nicht auslassen …«
An ihrer Haustür verabschiedete er sich mit einem sanften Kuß, den Janie sich noch mehrmals vor Augen führte, bis sie zu dem Schluß kam, er sei wirklich nur aus Freundschaft erfolgt und somit bestehe kein Grund zur Aufregung. Dann trat sie unter die Dusche und schrubbte ihre Haut, bis sie rot glänzte und all der Schmutz, Schweiß und die Gifte aus der Luft in den Abfluß rauschten.
Der kleine Postbote in ihrem Computer lächelte und winkte mit Briefen, als sie nachsah.
Alle Reklame war vorschriftsmäßig gekennzeichnet, daher löschte sie sie ohne weitere Prüfung und ging weiter zu den Dingen, die sie interessierten. Die persönlichen Botschaften waren nach Länge geordnet. Von Bruce: Ich liebe dich, bitte mißverstehe nicht, was ich sage, ich finde dich wundervoll sowie weitere Äußerungen qualvoller Zerknirschung. Von Caroline: Alles okay? Wir sorgen uns um dich. Ruf an, sobald du kannst. Von Wargirl: Später.
Janie nahm an, dies bedeute, daß Kristina am Abend vorbeikommen würde. Das Haar noch in ein weißes Handtuch gewickelt, rief Janie das Auswertungsprogramm auf und widmete sich dem, wonach sie sich zuvor gesehnt hatte.
Doch als die sortierten Daten sich vor ihr entfalteten, empfand sie Enttäuschung. Sie hatte sie nach Alter, Geburtsort, Größe, Gewicht, Erbmasse, Impfungen, medizinischer Vorgeschichte und allen anderen Grundvorgaben ordnen lassen. Sie empfand es als traurige Wahrheit, daß nichts, was sie erblickte, sonderlich aus dem Rahmen fiel. Der deutlichste gemeinsame Nenner war noch immer das Sommerferienlager.
Erstens ärgerte es, zweitens frustrierte es sie. »Okay, dann bitte sehr«, sagte sie zu dem Computer, als sei er persönlich für die Daten verantwortlich, die ihm eingegeben worden waren. »Aber wie wär’s, wenn du mir jetzt etwas verraten würdest, was ich noch nicht weiß?« Sie öffnete das Befehlsfenster für genetische Auswertung.
»Hier«, sagte sie und berührte den Bildschirm, »damit du was zu tun hast, während ich mich anziehe.«
Ihre Anrufe waren erledigt, ihre Haare trocken, und sie verdaute bereits ein schnelles Abendessen, als sie einige Zeit später wiederkam, um die Fortschritte von V. M. zu überprüfen. Der kleine Taschencomputer hatte achtzig Prozent der riesigen Aufgabe, die sie ihm gestellt hatte, erledigt. Eine Auswahl Jungen war noch übrig, aber endlich meinte Janie auf dem Schirm vor sich etwas Unerwartetes zu erkennen.