KAPITEL 10

Camp Meir, gab Janie in das Suchprogramm ein. Sie war gespannt, ob die Suche erfolgreich dort hinführte, wo es Antworten gab.

Als erstes erschien eine Online-Werbebroschüre für die Familien potentieller Besucher. Sie las alle Seiten sorgfältig durch, klickte alle Querverweise an und ging zurück, wenn es notwendig war. Es gab schöne Bilder von einer idyllischen Lage und Fotos vom Inneren der Hütten, deren Sauberkeit und Ordnung gewiß übertrieben waren; man sah keine Spinnweben, keine Insekten und keine nassen Handtücher auf ungemachten Stockbetten. Den Eltern würden diese tadellosen Räume gefallen, aber ihre Kinder würden es besser wissen. Es gab detaillierte Speisekarten der im Lager servierten Mahlzeiten, gefolgt von strahlenden Kommentaren der Leiter und Erzieher. Gesund aussehende Berater in einheitlich israelisch blauen T-Shirts und Khaki-Shorts lächelten mit verschränkten Armen auf einem Gruppenfoto. Und es gab Bilder von vergnügten, gesunden Jungen mit sauberen Gesichtern und goldener Sonnenbräune ohne ein einziges zerrissenes Kleidungsstück. Lauter glückliche Bewohner eines Ferienparadieses.

Auf der zweiten Internet-Seite stand Camp Meir weit oben auf einer alphabetischen Liste von Sommerlagern, in denen Hebräisch unterrichtet wurde, und es gab einen Verweis auf die Broschüre, die sie gerade betrachtet hatte. Die dritte Seite präsentierte eine Aufzählung der Sommerlager im Staate New York, also blätterte sie weiter.

Die letzte Adresse war weit interessanter – es war die persönliche Homepage eines vierzehn Jahre alten Jungen, der unter anderem auch das Camp Meir besucht hatte. Er wollte mit anderen ehemaligen Kumpels korrespondieren. Auf der Homepage befand sich ein Foto des Jungen, wie er aus seinem Rollstuhl lächelte.

Janie versah sie mit einer Bookmark, druckte sie aus und steckte sie in ihre Handtasche.

Mrs. Prives saß noch immer am Bett ihres Sohnes und trug die gleichen, zerknittert aussehenden Sachen, die Janie bei jedem Besuch an ihr bemerkte. Sie fragte sich, ob die arme Frau das Zimmer nur verließ, um ins Bad zu gehen, oder ob sie jemanden hatte – Freunde, Familie, Nachbarn –, der ihr von zu Hause frische Kleidung brachte. Wenn nicht, entschied Janie, würde sie sich selbst erbieten, ihr etwas zum Anziehen zu beschaffen.

Sie wollte Mrs. Prives gerade begrüßen und ihr Angebot aussprechen, als die Frau sich umdrehte – Janie war überrascht von der dramatischen Veränderung ihres Gesichtsausdrucks. »Sein Zustand hat sich gebessert«, sprudelte die Mutter heraus. »Er wacht hin und wieder auf.« Ihr Lächeln war bewegend hoffnungsvoll.

Janie wartete ein paar Sekunden, bevor sie etwas sagte. Eine Veränderung des Bewußtseins war zwar ein positives Zeichen, hatte aber bei einer Rückgratverletzung nicht unbedingt viel zu bedeuten. Doch sie behielt diese traurige Feststellung für sich und bemühte sich, erfreut auszusehen. »Das ist wunderbar«, sagte sie leise. Sie ging wieder zur Tür und schaute hinaus auf den Gang – niemand war zu sehen, also schloß sie die Tür. Dann kehrte sie an Abrahams Bett zurück und bat die Mutter mit einem fragenden Blick um Erlaubnis. Mrs. Prives nickte eifrig.

Janie untersuchte den Jungen rasch im Hinblick darauf, ob sich sein Zustand wirklich gebessert hatte. Doch der war im wesentlichen unverändert, soweit sie bei dieser oberflächlichen Bestandsaufnahme feststellen konnte. Dann kratzte sie ein paar Hautzellen von einem seiner Arme und ließ sie in eine Plastiktüte fallen, die sie sorgfältig verschloß. Sie sah sich die computerisierte Akte an, die am Fußende des Bettes hing, und empfand schmerzhafte Frustration; ihr Identitätschip gehörte nicht zu denen, die Zugang dazu hatten. Selbst wenn Mrs. Prives ihr gestattete, sie sich anzusehen, würde ihr fehlender offizieller Status es nahezu unmöglich machen, die Krankenhausverwaltung von ihrer Kompetenz zu überzeugen. Und Chet würde ihr keine Hilfe sein. Im Gegenteil!

Aber sie fand sich damit ab, denn wahrscheinlich enthielt die elektronische Datei nicht sehr viel mehr, als sie bereits wußte. Und sie hatte nicht das Herz, dieser hoffenden Mutter zu sagen, daß es nicht Abrahams größtes Problem sein würde, das Bewußtsein wiederzuerlangen. Er ist nicht nur gelähmt, dachte sie, sondern wenn er zu sich kommt, wird er sich dessen auch bewußt. Doch seine Mutter freute sich offenbar, und sie hatte ein wenig Erleichterung verdient – sei es auch nur für kurze Zeit.

Janie behielt ihre Gedanken also für sich und wandte sich einem anderen Thema zu. »Dieses Sommerlager, in dem Abraham war und wo er die Injektion wegen dieser Biber-Sache bekam – ich würde mir das gern genauer ansehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Warum?«

»Nach dem, was Sie mir erzählt haben, könnte er einem Bakterium ausgesetzt gewesen sein, das Giardia heißt. Es handelt sich um eine parasitäre Erkrankung, und sie wird durch Kontakt mit jeder Wasserquelle verbreitet, in der die betreffenden Sporen leben. Die Symptome können manchmal schwer feststellbar sein«, log sie, »aber es treten bisweilen« – sie sah Abraham vielsagend an – »Nachwirkungen auf. Manchmal erst Jahre später.«

Mrs. Prives’ Lächeln schwand. »Du liebe Zeit, ich hatte keine Ahnung … niemand hat damals etwas gesagt.«

»Nun, es ist nicht allgemein bekannt, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, während der Zeit der schlimmsten Ausbrüche haben wir nicht sonderlich auf Nebenerscheinungen wie Giardia geachtet. Unsere ganze Aufmerksamkeit galt MR SAM. Aber ich frage mich, ob Sie vielleicht noch Aufzeichnungen aus dieser Zeit haben.«

»Ich habe nichts aufgehoben. Als wir das letztemal umgezogen sind, habe ich alles weggeworfen, was nicht absolut notwendig war.« Sie lächelte dünn. »Nach einer Weile wird man es leid, alles mit sich herumzuschleppen, und nach den Ausbrüchen, nun ja, da schienen diese ganzen Papiere irgendwie unwichtig – wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Stimmt!« Janie nickte.

»Aber ich erinnere mich an nichts dergleichen vom letzten Großreinemachen.«

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich das Lager kontaktiere und mir Abrahams Unterlagen zeigen lasse?«

»Nein. Überhaupt nicht.« Mrs. Prives schwieg einen Moment. Sie wirkte sowohl nachdenklich als auch verwirrt. Dann sah sie Janie direkt in die Augen: »Sie vermuten doch nicht …« Anscheinend konnte sie die Frage nicht beenden.

Daß sein Aufenthalt in diesem Lager etwas mit seinem gegenwärtigen Zustand zu tun hat? Darauf können Sie wetten. Ich weiß nur noch nicht, was. Doch wieder log Janie. »Das bezweifle ich. Und ich möchte keine Spekulationen anstellen. Aber ich glaube, ein Blick darauf lohnt die Mühe. Ich werde eine Vollmacht brauchen.«

Sie griff in ihre Tasche und nahm ein Blatt Papier und einen Stift heraus. »Hier habe ich eine mitgebracht, für den Fall, daß …«

Mrs. Prives griff nach Blatt und Stift und kritzelte ihre Unterschrift darunter, ohne den Text auch nur zu lesen. »Alles, was Sie für hilfreich halten!« Mit verkniffener Miene gab sie den Brief zurück. »Haben Sie schon etwas gehört wegen … der finanziellen Mittel?«

»Nein, tut mir leid. Aber ich bleibe am Ball. Und zwar, solange es irgend geht. Wir sind noch längst nicht am Ende.«

»Gut. Ich möchte Ihnen für Ihre Ausdauer danken.«

»Hoffen wir, daß sie sich auszahlt.« Janie schwieg einen Moment. »Und was haben sie Ihnen hier dazu gesagt, daß Abraham aufgewacht ist?«

»Überhaupt nichts!«

Janie warf ihr einen Blick zu, der bedeutete: Wieso dann …

»Dr. Crowe, ich bin seine Mutter. Eine Mutter kennt ihr Kind.«

Janie konnte ihr nicht widersprechen.

Sie war nervös wegen des Schlafmangels und verwirrt über die Ereignisse der Nacht; am liebsten wäre sie zum Essen nach Hause gegangen und hätte dann einen Mittagsschlaf gehalten, um wieder klar denken und den verrückten Ereignissen, die auf einmal um sie herum zu passieren schienen, einen Sinn abzugewinnen. Bitte, laß mich einfach einschlafen, und wenn ich die Augen wieder aufmache, laß es Weihnachten und all diese Probleme gelöst sein. Ohne, daß sie es wollte, ging ihr ein Weihnachtslied mit fremdem Text durch den Kopf … Allmählich sieht es hier aus wie in London …

Ihr Magen begann sich zu verkrampfen. Oh, bitte, nein! Nicht London. Alles andere, nur nicht London …

… mit seinen Compudocs und Biocops und lächelnden, freundlichen Leuten, die einen einbuchteten, wenn man ohne Taschentuch nieste, aber erst nach dem tadellos höflichen Angebot von Tee. Es war ihr so angenehm vorgekommen am Anfang, so zivilisiert und geordnet; aber als sie auf der Flucht war, hatte sie die Beine in die Hand genommen und nur noch gedacht: Zu Hause ist es doch am besten, zu Hause ist es doch am besten …

Doch heute war sogar der Gedanke an ihr Zuhause nicht so anziehend wie sonst, und zwar aus Gründen, über die Janie nicht nachdenken wollte. Sie tat, was ihr unausgeschlafener Verstand ihr sagte, ging in eine nahe Imbißstube, um sich mit Koffein aufzuputschen und vielleicht einen Bissen zu essen.

An einem normalen Tag hätte sie sich in die versteckteste Ecke gesetzt, die sie finden konnte, ihren Laptop aufgeklappt und gleichzeitig mit ihrem Sandwich die Nachrichten des Lokalsenders in sich aufgenommen. Zuerst die internationalen, dann die nationalen, schließlich, wenn sie noch Zeit hatte, etwas beschämt die Klatschseite. Das war eine zuverlässige und vertraute tägliche Routine, doch dafür fehlte ihr auf einmal schmerzhaft die Hardware. Jedesmal, wenn John Sandhaus sich darüber beschwerte, daß Computer zuviel Macht besäßen, und schließlich einen Aufstand gegen diese Technologie vorhersagte, die er als neuen Bolschewismus bezeichnete, jedesmal, wenn er etwas nach seinem eigenen Computer geworfen und um den Sturz der großen Datenbanken gebeten hatte, die auf einmal alles über jeden zu wissen schienen, pflegte Janie ihm mit erhobenem Zeigefinger zu drohen: Beißen Sie sich auf die Zunge, Sie Neandertaler. Wie sollten wir ohne Computer leben? Und jetzt saß sie da und beantwortete ihre eigene Frage mit dem Kauf einer Zeitung.

Leider allerdings war der »Zeitungs-Automat« nichts anderes als ein Internet-Terminal mit angeschlossenem Drucker, der ihr gestattete, mit ihrem ID-Sensor zu bezahlen. Sie legte die Hand flach auf die entsprechende Stelle, drückte einen Knopf, trat dann zurück und sah zu, wie das Nachrichtenblatt ausgedruckt wurde, eine Kopie der Lokalzeitung, die jede Stunde auf den neuesten Stand gebracht wurde. Sie wußte, daß einige der neueren Automaten die Zeitung sogar falteten.

Doch dieser nicht. Sie faltete sie selbst und genoß dabei das tröstliche, vertraute Knistern des Papiers. Mit den noch druckwarmen Seiten unterm Arm holte sie sich an der Theke ein Sandwich und einen Kaffee und schlenderte durch die Tischreihen, bis sie einen fand, der entlegen genug war. Steif setzte sie sich hin. Auf einmal fühlte sie sich alt und müde.

Dann legte sie die Zeitung so auf den Tisch, daß sie die obere Hälfte sehen konnte, und las die dicke Überschrift:

GESUNDHEITSBEHÖRDEN BEFÜRCHTEN NEUEN AUSBRUCH

Ihr stockte der Atem. Das war der zweite derartige Artikel in ebenso vielen Tagen. Aber MR SAM war so sehr Teil ihres Lebens, daß er kaum mehr Nachrichtenwert besaß. Man berichtete in den größeren Presseorganen nur darüber, wenn er hart und schnell zugeschlagen hatte.

Sie stellte ihre Kaffeetasse ab. Es muß also ernst sein.

»Die Verwaltung der einzigen Grundschule der Stadt war gezwungen, das Gebäude bis auf weiteres zu schließen …«

O nein, keine Kinder, bitte keine Kinder mehr!

Es war tausend Meilen entfernt. Aber das Opfer, von dem Caroline ihr erzählt hatte, hatte nicht weiter als zwanzig Meilen entfernt gelebt. Und bei Ausbrüchen konnten Meilen sehr, sehr kurz sein, je nach dem, wie der Träger reiste.

Es muß in diesem Ding doch auch gute Nachrichten geben, dachte sie unglücklich. Sie blätterte um und las den nächsten Titel:

BELIEBTER HILFSTRAINER BEI FAHRRADUNFALL zu TODE GEKOMMEN

Und der Untertitel:

Ungeklärter Unfall löst Ermittlungen der Universitätsbehörden aus

Sie sah das Foto. Es war vielleicht drei oder vier Jahre alt: kein Ziegenbart, und das Haar etwas länger. Aber es war zweifelsfrei der Mann, den Caroline vor ein paar Tagen zum Verlassen seines Computerterminals bewogen hatte.

Der Adrenalinstoß überwältigte sie nahezu. Obwohl Janies Magen das Frühstück längst verdaut hatte, das Tom ihr am Morgen zubereitet hatte, schien es bei der bloßen Erinnerung an diese Mahlzeit wieder hochkommen zu wollen. Übelkeit stieg in Janie auf, und ihr brach der kalte Schweiß aus. Die Zeitung glitt ihr aus den Händen und flatterte geräuschvoll zu Boden.

Überall drehten sich Leute nach ihr um, und sie begegnete ihren neugierigen Augen mit einem flammenden Blick, der besagte: Das geht euch nichts an. Als sie sich wieder unbeobachtet glaubte, schloß sie die Augen und legte eine Hand an ihre Stirn. Sie zwang sich, die Zeitung aufzuheben und den begleitenden Artikel zu lesen, obwohl sie schreckliche Angst hatte vor dem Text.

… ein erfahrener Radfahrer, bisher unfallfrei … auf einem Fahrradweg unterwegs nach Hause … seine übliche Strecke … verlassener Abschnitt … kein erkennbarer Grund für den Sturz in den Graben … Helm schützte ihn vor Kopfverletzungen, aber durch Genickbruch war er anscheinend sofort tot.

Mechanisch griff sie in ihre Tasche und nahm ihr Handy heraus. Sie sprach Carolines Namen aus, unsicher, ob der Apparat ihre zitternde Stimme erkennen würde, aber er tat es. Caroline nahm nach dem zweiten Läuten ab.

»Wir müssen es Michael sagen«, stammelte Caroline, nachdem sie die Neuigkeit erfahren hatte.

»Ich weiß«, sagte Janie. Sie hatte Angst vor seiner Reaktion.

Sie wollte nicht zum Revier gehen, sondern bestand darauf, ihn auf dem Platz zu treffen, wo niemand sie belauschen konnte.

»Du lieber Himmel,«, sagte er, als er die Geschichte gelesen hatte. »Ich verstehe das nicht.«

»Was ist da zu verstehen? Der Mann ist ganz plötzlich tot. Und wir waren noch vor wenigen Tagen mit ihm zusammen.«

»Das könnte nichts weiter sein als ein verrückter Zufall«, meinte Michael, während er mit geringem Erfolg versuchte, die Zeitung wieder zusammenzufalten.

»Michael, bitte. Du bist Cop. Du weißt, daß solche Ereignisse selten auf Zufall beruhen. In mein Haus wird eingebrochen, und sie nehmen nichts mit als meinen Computer. Der zufällig ein paar gestohlene Daten enthält. Und dann dieser junge Mann, der zufällig an der Beschaffung dieser Daten beteiligt war …«

»Das wußte er nicht, also kann er keinem davon erzählt haben …«

»… war auch nicht nötig! Die Identifizierung, mit der der Terminal in der Computerbar in Betrieb genommen wurde, war seine. Ich meine, ich hatte mir Sorgen gemacht, jemand könnte denken, er wäre es gewesen, wenn die Sache herauskäme; und fürchtete ein wenig eine offizielle Untersuchung. Mir ist nie in den Sinn gekommen, daß so etwas passieren könnte … und wir haben wahnsinnig darauf geachtet, alles so zu arrangieren, daß man ihm nichts vorwerfen konnte. Ich wollte doch bloß an diese Daten herankommen, und jetzt … o Gott!«

»Janie, ein Fahrradunfall ist nicht so furchtbar ungewöhnlich; dauernd sterben Leute daran, und oft ist die Ursache ein gebrochenes Genick.«

»Michael, weswegen bist du hier?« fragte Janie abrupt.

Ihre Frage schien ihn zu verwirren. »Weil du mich gerufen hast. Du wolltest, daß ich dich treffe.«

»Nein. Ich meine, warum bist du hier in diesem Land?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Das werde ich dir sagen – du bist hier, weil du, als in London auf einmal Leute an der Pest starben und Carolines DNS unter den Fingernägeln von einem der Opfer auftauchte, nicht mehr an einen bloßen Zufall geglaubt hast.«

Er starrte sie einen Augenblick an.

»Weil du, wie die meisten Leute mit einem halben Gehirn, Zufälle für etwas sehr Seltenes hältst. Aber ich habe dir noch nicht alles gesagt. Heute morgen bekam ich eine bizarre E-mail ohne Antwortadresse. Es war die zweite, die mir jemand mit demselben Decknamen geschickt hat – Wargirl. Die erste lautete bloß: ›He, wer sind Sie?‹ Ich dachte, das wäre ein Übermittlungsfehler oder ein Scherz von irgendeinem jugendlichen Hacker. Aber die zweite sagte: ›Haben Sie keine Angst.‹« Janie hielt einen Moment inne.

»Und sie kam zu einer Zeit, zu der ich Angst hatte, und zwar aus gutem Grund. Auch ich glaube nicht an solche Zufälle!«

Michael stimmte ihrer Hypothese zwar nicht direkt zu, hatte aber auch kein vernünftiges Gegenargument, um sie zu widerlegen. »Ich kann mir die Ermittlungsakte ansehen und schauen, was intern bekannt ist. Das ist nicht immer dasselbe wie die Zeitungsartikel.«

Sie warf ihm einen zynischen Blick zu. »Was du nicht sagst! Du hast mein Vertrauen in die Nachrichtenmedien total erschüttert.«

»Tut mir leid, Janie. Ich kann nicht klar denken.« Dann sah er sie durchdringend an und fügte hinzu: »Du hast mich mit all dem ein bißchen überfallen.«

Eigentlich hätte er sie anschreien müssen. Er nahm es unglaublich freundlich auf, daß sie ihm seinen Taschencomputer entwendet hatte. Deswegen sagte Janie mit echter Zerknirschtheit: »Es tut mir leid, Michael, ich weiß jetzt, daß das …«

»Vergiß es«, schnitt er ihr das Wort ab. »Ich an deiner Stelle hätte wahrscheinlich dasselbe getan. So, und jetzt diese Nachricht – wie lautete noch der Deckname? Ich werde sehen, ob ich etwas darüber ausgraben kann.«

»Wargirl«, sagte Janie erleichtert, »geschrieben, wie man’s spricht.«

Als sie am späten Nachmittag in den Empfangsbereich von Toms Anwaltskanzlei kam, waren die Streßfalten auf ihrer Stirn so deutlich sichtbar, daß Toms Sekretärin Janie fragte, ob sie sich nicht wohl fühle. Janie verneinte das halbherzig und bot eine schwache Erklärung an.

»Ich habe letzte Nacht nicht allzugut geschlafen, kann ja mal vorkommen.«

Und weil die Frau weitgehend über Janies juristische Probleme Bescheid wußte, nickte sie mitfühlend und sagte: »Oh, das tut mir leid. Es muß eine schwierige Zeit für Sie sein. Aber ich bin sicher, daß die Lage sich bald bessert. Mr. Macalester setzt sich sehr für Ihren Fall ein.«

Fälle, dachte Janie bei sich, und es sieht so aus, als könnte es einen weiteren geben. »Ja, das weiß ich. Ich habe volles Vertrauen zu ihm. Hören Sie, ich platze hier einfach so rein, aber bloß für ein paar Minuten. Tom bewahrt etwas in seinem Safe für mich auf. Das hätte ich bitte gern wieder, wenn es möglich wäre.«

»Warum nehmen Sie nicht Platz – ich werde mal nachsehen, was er macht.«

Janie war rasend nervös und wäre lieber auf und ab gegangen, um ein Ventil für ihre Energie zu haben; aber sie tat wie geheißen und setzte sich. Der zu weich gepolsterte Sessel war so bequem und angenehm, daß Janie sich in einem Halbschlummer befand, als Tom ein paar Minuten später aus seinem Büro kam, um sie zu begrüßen. Er weckte sie mit einer sanften Berührung am Arm.

»He, du Schlafmütze!«

Janie war sofort hellwach und setzte sich auf. Sie rieb sich die Augen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »O ja, damit hätte ich definitiv rechnen müssen.«

»Denk dir nichts dabei.« Er lächelte herzlich und tätschelte ihre Schulter. »Selbst Superwoman braucht mitunter etwas Ruhe. Monica sagte, du wolltest deine Sachen aus dem Safe haben.«

»Ja. Aber nicht Sachen. Nur eine Sache. Ich habe zwei Gegenstände in diesen Umschlag gesteckt. Einen würde ich gern dalassen. Ich werde aber wahrscheinlich ziemlich bald alles abholen. Nur muß ich vorher ein paar Vereinbarungen treffen.«

»Gut, in Ordnung. Dann komm nach hinten ins Allerheiligste.«

Janie stand auf und folgte Tom durch das unaufdringlich ausgestattete Büro. Sie war so oft hier gewesen, daß es ihr genauso vertraut war wie ihr eigener Arbeitsplatz; aber es wirkte wesentlich einladender. Das Privatbüro, in dem er seine Arbeit tat, war so spartanisch wie Tom selbst – nichts Belangloses, nichts ohne Sinn oder Funktion. Die Möbel hatte er allerdings sorgfältig ausgewählt – aber unauffällig, Erfolgsbeweis von Toms stiller, doch oft brillanter Arbeit für seine Mandanten.

Er ging direkt zu einem hölzernen Schrank hinter seinem Schreibtisch und öffnete ihn mit einem kunstvollen Messingschlüssel. Janie erblickte einen grauen, metallenen Safe, der in den Schrank eingebaut war.

»Dreh dich um«, sagte Tom zu ihr, »sonst foltert dich noch jemand, um dir die Kombination zu entlocken.«

»O bitte, wenn mich das aufwecken würde …«

Er lachte und drückte eine Reihe von Knöpfen auf der Schalttafel. Die äußere Tür öffnete sich. Dann tat er dasselbe bei der Innentür.

»Das muß ja ein toller Safe sein«, sagte Janie, die ihm noch immer den Rücken zuwandte. »Was hast du da drin, Staatsgeheimnisse?«

»Nur deine«, sagte er. »Keiner meiner Mandanten ist auch nur annähernd so interessant wie du.« Er kramte im Safe herum, nahm den Umschlag heraus, den sie ihm gegeben hatte, kam auf die andere Seite des Schreibtischs und überreichte ihn ihr. »Wenn du willst, kann ich dir eine Tasse Kaffee besorgen. Der würde dich vielleicht ein bißchen munter machen.«

Als hätte sie ihn nicht gehört, nahm sie den Umschlag mit beiden Händen und hielt ihn vor sich, während sie mit den Fingern nach dem Inhalt tastete. Sie legte ihn auf ihren Schoß, öffnete die Lasche und nahm vorsichtig das Journal heraus. Sie öffnete den hinteren Deckel des alten Bandes mit großer Behutsamkeit. Tom sah gebannt zu, wie sie eine Datendiskette des dritten Jahrtausends aus einer Handschrift des vierzehnten Jahrhunderts zog.

»Soll ich raten, welches von den beiden Dingen du mitnehmen willst?«

»Die Diskette«, kam sie ihm zuvor, »aber nur für die Dauer einer Kopie. Dann bringe ich sie zurück. Das Journal werde ich dalassen, vielleicht noch ein paar Tage, wenn du nichts dagegen hast.«

»Ich habe überhaupt nichts dagegen. Und ich kann dir diese Kopie wahrscheinlich gleich anfertigen, wenn du willst. Dann kannst du die Zweitausführung mitnehmen und deine Diskette wieder in den Safe tun.«

In ihrem etwas aufgelösten Zustand war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, um etwas so Einfaches zu bitten. »Das wäre toll – es würde mir einige Unannehmlichkeiten ersparen.«

Tom drückte auf den Knopf des Sprechgeräts. Ein paar Augenblicke später trat seine Sekretärin ein. »Bitte machen Sie uns hiervon eine Kopie, ja?«

»Selbstverständlich.«

Nachdem das erledigt war, bot er Janie wieder Kaffee an.

»Danke, aber ich glaube, ich werde einfach mein Ding nehmen und gehen. Ich bin so müde, daß ich kaum folgerichtig denken kann. Das war ein verrückter Tag.«

»Eine verrückte Nacht, meinst du.«

»Nein, ich meinte den Tag – heute sind ein paar Sachen passiert …«

Ihr Zögern veranlaßte Tom zu der Frage: »Irgend etwas, worüber du reden möchtest?«

»Ja. Über einiges werde ich mit dir zu reden haben. Aber nicht jetzt. Da muß ich erst mal was verdauen. Morgen vielleicht.«

Monica kam mit den beiden Disketten zurück. Janie steckte eine in den Umschlag, die andere in ihre Handtasche. Dann reichte sie den Umschlag Tom, der ihn wieder im Safe einschloß.

»Okay«, sagte sie, »ich denke, das wär’s. Ich sollte jetzt wohl besser nach Hause gehen, bevor ich zusammenbreche. Es ist zwar nicht besonders verlockend, aber leider ratsam.« Sie kicherte freudlos. »Und schließlich wohne ich da.«

»Ich fahre dich. Für heute bin ich ohnehin fertig.«

»Bist du sicher?«

»Absolut. Hier habe ich nicht genug Ruhe, um mich zu konzentrieren – das kann ich in meinem Arbeitszimmer zu Hause besser als hier.«

»Du bist so lieb zu mir, Tom. Danke. Sicher würde ich im Bus einschlafen.«

»Na, das können wir doch nicht erlauben!«

Es fühlte sich nicht wie ein Zuhause an, als sie dort anlangte – ein beschmutztes und vergewaltigtes Heim, sogar korrumpiert. Janie wußte, mit der Zeit würde das Gefühl weichen, aber im Augenblick war es noch übermächtig. Sie öffnete die Tür mit dem Schlüssel und tat einen vorsichtigen Schritt. Tom folgte ihr auf dem Fuß.

Die Überreste des Chaos erwarteten sie, aber es war nicht allzu schrecklich; vieles von dem, was ausgeleert oder umgeworfen worden war, hatten die freundlichen Cops, die Michael mitgebracht hatte, schon mitten in der Nacht wieder aufgeräumt. Aber Janie wußte, damit die Ordnung ihren Maßstäben genügte, brauchte sie etwas Zeit allein mit Eimern, Bürsten und Schrubbern. Und Maria Callas. He, vielleicht auch einem Exorzisten …

Und gleich am Ende des Gangs gab es ein Bett, ihr Bett, mit sauberen, kühlen Laken, weichen Kissen und einer mit Seide bezogenen Daunendecke.

Sie nahm den Hörer ab, und der Wählton verriet ihr, daß die Telefongesellschaft ihr Versprechen gehalten hatte. Im Moment schaffte sie es jedoch nicht, über alles nachzudenken, und wandte sich mit entmutigter Miene an Tom. »Weißt du was? Ich gehe einfach ins Bett. In mir herrscht der totale Nullzustand.«

Er zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und setzte sich. »Ich bleibe, bis du eingeschlafen bist.«

»Hast du denn Zeit? Was ist mit deiner Arbeit?«

»Ich habe meine Aktenmappe im Wagen. Also geht es.«

»Du rettest mir pausenlos das Leben. Ich frage mich immer, was ich getan habe, um das zu verdienen.« Sie gähnte und rieb sich die Stirn. »Ich würde dir ja anbieten, dir was zu essen zu machen – aber ich glaube nicht, daß in meinem Eisschrank viel drin ist.«

»Vergiß es. Im Augenblick habe ich keinen Hunger. Ich werde mir später was besorgen, wenn ich gehe.«

»Okay. Also, dann gute Nacht.« Nach einem kurzen Zögern drehte sie sich um und ging durch den Flur.

»Janie …«

»Was?«

Nach einem Moment Schweigen sagte Tom: »Laß die Tür auf. Dann kann ich nach dir sehen. Damit ich Bescheid weiß, wann du wirklich schläfst.«

Tom wollte soeben gehen, als das Telefon zu läuten begann. Obwohl es nicht sein eigenes war, überkam ihn der automatische Drang zu antworten. Vor dem zweiten Läuten nahm er den Hörer ab.

»Hier bei Dr. Crowe«, sagte er zögernd.

Nach einer kurzen Pause ertönte die überraschte Stimme eines Mannes. »Wer ist da?«

»Ich bin Dr. Crowes Anwalt.«

»Tom?«

»Ja.«

»Hier ist Bruce.«

»Oh! Hallo.«

Wieder eine kurze Pause. »Ist Janie da?«

»Ja. Aber sie schläft.«

Bruce schien einen Augenblick lang nach Worten zu suchen. »Es ist – wie spät? – sieben Uhr bei euch da drüben? Oder habe ich mich verrechnet?«

»Nein, das stimmt. Sieben Uhr acht, um genau zu sein. Janie hatte letzte Nacht ein kleines Problem.«

Bruces Beunruhigung war trotz der transatlantischen Entfernung spürbar. »Was für eins?«

»Jemand hat hier eingebrochen.«

»O weh, ist sie in Ordnung?«

»Es geht ihr gut. Sie konnte sich im Badezimmer verstecken – besonders weit hat der Kerl es nicht gebracht. Aber sie ist erschöpft – kurz nach zwei Uhr nachts passierte es, und die Polizei war hier bis zum Morgen. Wenn sie erst einmal ausgeschlafen hat, wird es ihr bessergehen – aber sie ist etwas erschrocken.«

»Ja, und was hat – wer …?«

»Sie wissen es noch nicht. Michael Rosow ist sofort hergekommen, aber sie haben nicht viele Spuren gefunden, und es besteht wenig Aussicht, daß sie jemanden schnappen werden. Außerdem haben sie bloß Janies Computer mitgenommen. Ich schätze, es ging ziemlich schnell. Ihr wird es wahrscheinlich wie Stunden vorgekommen sein.«

Bruce verdaute diese Information ein paar Augenblicke lang schweigend. »Sind Sie sicher, daß sie in Ordnung ist?«

»Den Umständen entsprechend ja. Ich habe sie heute nachmittag aus meiner Kanzlei nach Hause gefahren. Im Moment wollte ich … eh, gerade gehen.«

»Bevor Sie gehen, könnten Sie ihr eine Nachricht von mir aufschreiben?«

»Natürlich.«

»Sagen Sie ihr nur, daß ich angerufen habe. Nein – warten Sie. Notieren Sie noch, daß ich sie liebe.«

Pflichtschuldigst kritzelte Tom die Worte Bruce hat angerufen auf einen Zettel und fügte dann hinzu: Ich liebe dich. Er legte den Zettel auf die Arbeitsplatte in der Küche, wo er gut zu sehen war, dann trollte er sich.