KAPITEL 35
Was de Chauliac sah, als er der Demonstration der größten neuen Weisheit seines Lebens zuschaute, war nicht die sichere Arbeit eines Meisters der Wissenschaft, sondern statt dessen die hektische, unsicher wirkende Behandlung eines kleinen, erschrockenen Kindes, dessen Tod wahrscheinlicher war als sein Überleben, durch einen knochendürren Juden. An seiner Seite wirkte eine junge Frau mit, eine Witwe von noch nicht zwanzig Jahren, deren Leid schon jetzt alle Vorstellungen überstieg und nur noch schlimmer werden konnte. Und obwohl das Kind, das sie behandelten, die junge Frau unter anderen Umständen »Tante« genannt hätte, bestand für diese beiden Helfer keine familiäre Verpflichtung, den verängstigten Jungen von der Pest zu befreien. Der Franzose wußte, daß Alejandros Schuldgefühle, weil er die junge Gräfin getäuscht hatte, unmöglich ausreichen konnten, sich für ihren kranken Sohn derartig einzusetzen. Das konnte nur die unbegreifliche Ehre dieses Mannes sein, die Liebe, die er zu seiner Kunst empfand, und sein Wunsch, sie redlich auszuüben. Mit Sorgfalt und Zärtlichkeit wuschen, säuberten und trösteten er und seine Tochter den Kleinen, selbst als sie ihm jene gräßliche Flüssigkeit in den Mund zwangen – eine Kur, verschrieben von der Weisheit einer alten Frau, die den Arzt gelehrt hatte, das Notwendige zu erfüllen.
Aus der entfernten Ecke, in die Alejandro ihn zu seiner eigenen Sicherheit verbannt hatte, sah er erstaunt zu, wie Vater und Tochter Seite an Seite arbeiteten, ohne sichtbare Rücksichtnahme auf ihr eigenes Wohlergehen. Wie man sah, gönnten sie sich lange keinen Schlaf. Sie mischten ihren scheußlichen Trank in einem bestimmten Verhältnis – zwei Löffel eines ekligen grauen Pulvers aus einem Leinensäckchen auf eine Handvoll von der geheimnisvollen Brühe. Zu bestimmten Zeiten, von denen sie nie abwichen, flößten sie dem schreienden Kind die Dosen gewaltsam ein.
In den Zeiten, in denen die Schmerzen des Jungen erträglich schienen und er still lag, setzte sich der Arzt zu ihm und erzählte ihm Geschichten, Geschichten eines längst verstorbenen Gefährten, der ruhmreiche Schlachten geschlagen, durchgehende Pferde gezähmt, ritterliche Duelle bestanden und glorreiche Schwertkämpfe ausgefochten hatte – lauter Dinge, die diesen kleinen Prinzen eines Tages auch erwarteten, wenn er überlebte.
Das Mädchen wird eine gute Mutter werden, dachte de Chauliac bei sich. Und mit zunehmendem Respekt vor dem Juden, der seine Gedanken jahrelang so nachhaltig beschäftigt hatte, gestand er sich ein, daß das Mädchen gut erzogen war. Noch etwas, das der Mann hervorragend verstand.
Als das Fieber des Knaben endlich sank und seine Beulen zu schrumpfen begannen, erfüllte de Chauliac eine seltsame Freude, die er bis dahin noch nicht kannte. Es war nicht das Triumphgefühl, das er gewöhnlich verspürte nach dem Sieg über eine tobende Krankheit, sondern ein sehr schlichtes Glück: Das Kind würde überleben, um seiner Mutter anzuhängen und seinem Vater zu folgen – mit tiefer Verehrung blickte er auf diesen rätselhaften Wanderer und seine geniale Heilkunst. Ja, er empfand wahre Demut.
»Père«, hörte Alejandro.
Er erwachte in dem Sessel neben dem Bett des Jungen, und Kate stand bei ihm.
»Mein Bauch möchte sich heben.«
Fast sofort war er hellwach. Er stand auf und ließ sie seinen Platz im Sessel einnehmen. »Ist dein Fruchtwasser abgeflossen?«
»Es … ist mir seltsam zumute«, sagte sie zitternd, während sie sich zurücklehnte. »Ich habe geschlafen, am Kamin, aber meine Röcke sind naß, also muß es wohl so sein.« Dann krümmte sie sich nach vorn und umfaßte ihren Bauch. »O weh«, stöhnte sie. »Wieder hebt es sich … ich spüre es tief in den Eingeweiden.«
Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte; also ging er in die entfernte Ecke und weckte de Chauliac.
»Das Kind!« Er rüttelte den Franzosen wach.
»Kommt es?«
»Wahrscheinlich.«
Der Franzose stand auf und raffte rasch seine Gewänder um sich, um gehen zu können. Ohne seine eigene Gefährdung zu beachten, schritt er zu dem Bett, wo Kate noch immer im Sessel saß.
»Beschreibt Euren Schmerz, Madame«, befahl er.
»Er beginnt ganz unten in meinen Eingeweiden und breitet sich in meinem Bauch aus, bis ich das Gefühl habe, mein ganzes Innere will heraustreten«, beschrieb sie ihren Zustand. Hilflos sah sie zu Alejandro auf und sagte: »Das muß der Schmerz der Hölle sein, Père, da bin ich sicher.«
Alejandro eilte herbei, um sie zu trösten. »Diesen Schmerz wirst du nie kennenlernen«, sagte er verbissen.
»Wir bringen sie in mein Haus. Schnell, bevor es nicht mehr möglich sein wird, sie zu transportieren.«
Alejandro drehte sich um und sah nach dem Kind auf dem Bett. Dann schaute er wieder de Chauliac an. »Aber der Junge …«
»Ihr könnt hier bei ihm bleiben. Das Mädchen nehme ich mit. Sie kann nicht hier gebären – in diesem Raum ist die Pest, und ein Neugeborenes darf ihr nicht ausgesetzt werden.«
»Nein«, rief Kate, als sie den Vorschlag hörte, »ich bitte Euch, Père, verlaßt mich nicht … ich habe keine Schwester oder Mutter, die mir helfen könnte – nur Euch!«
Alejandro warf de Chauliac einen wild entschlossenen Blick zu.
»Ich verlasse dich nicht.«
Beide drehten sich bei dem langen, verzweifelten Stöhnen aus Kates Mund nach ihr um. Entsetzt sahen sie, wie sie plötzlich aufstand und ihren Rock hob. Ein langer Streifen Blut lief an ihrem Bein herunter, durchnäßte ihren Strumpf und sickerte in den oberen Rand ihres Stiefels. Alejandro sah das Messer, das sie immer dort aufbewahrte, dasselbe Messer, das sie dem Baron de Coucy an den Leib gedrückt hatte, als er versuchte, sie zu entführen. Es wirkte so klein, und doch hatte sie damit ihre Freiheit erkämpft.
Jetzt strömte das Blut des Lebens aus ihr heraus, und Alejandro spürte, wie sein eigener Magen sich bei dem erschreckenden Anblick umstülpte.
»Mon dieu«, flüsterte de Chauliac. »Dann wird das Kind hier auf die Welt kommen müssen.« Er rannte zur Glocke, zerrte daran und stürzte zur Tür, um ungeduldig auf den Diener zu warten.
»Bitte ruft die Gräfin«, befahl er, als der Mann erschien. »Es ist eine Angelegenheit von großer Dringlichkeit.«
»Der Prinz …?«
»Ruft sie endlich!«
Ein paar Augenblicke später erschien Gräfin Elizabeth in Person. Sie blieb auf dem Gang und erkundigte sich verstört: »Was ist mit meinem Sohn?«
»Preist Gott und den Spanier, er wird leben!«
Die Gräfin bekreuzigte sich affektiert. Gebete murmelnd faltete sie die Hände und schaute himmelwärts.
»Aber Ihr habt auch diesem Mädchen zu danken«, fuhr de Chauliac fort. »Sie hat ihm beigestanden und ihn gesäubert. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte er noch mehr gelitten. Und jetzt braucht sie einen sauberen Ort, um ihr eigenes Kind zu gebären.«
»Soll sie es hier bekommen«, wehrte Elizabeth ab. »Sie ist doch von Ärzten umgeben, nicht wahr?«
»Gräfin, das Kind darf nicht in einem Pestzimmer geboren werden … ich selbst sollte auch nicht hier sein, aber aus Loyalität zu Euch empfand ich es als meine Pflicht.«
»Das hätte sie sich überlegen sollen, ehe sie den Raum betrat. Und jetzt sollte sie dankbar sein, daß ich sie unter meinem Dach dulde.« Sie drehte sich um und wollte schon davonlaufen, als Alejandro an die Tür kam. Er trug ihren Sohn auf dem Arm.
»Gräfin, bitte«, rief er ihr nach.
Schweren Schrittes entfernte sie sich weiter.
»Elizabeth!«
Beim Klang ihres Namens sanken ihre Schultern ein wenig herab. Sie blieb stehen und schüttelte den Kopf.
»Schaut Euren Sohn an«, beschwor Alejandro sie. »Er lebt. Sein Fieber ist verschwunden, und er wird seine Krankheit nicht mehr an Euch weitergeben.« Er hielt das Kind von sich weg, und der blasse, schwache Junge streckte die Arme nach seiner Mutter aus.
Sie warf Alejandro einen kurzen Blick zu. Ihre grünen Augen blitzten vor Zorn und Schmerz über den Verrat – stumm verweigerte sie ihren Beistand.
»Kommt her«, flehte der Arzt. »Nehmt ihn! Er sehnt sich nach den Armen seiner Mutter.«
Endlich raffte sie sich zusammen. Und als sie ihr Kind ansah, begann sie zu weinen. Sie eilte herbei und nahm den Knaben in die Arme. »Er ist so bleich«, schluchzte sie.
»Mit der Zeit wird seine Farbe zurückkehren«, versicherte Alejandro ihr. »Er wird wiederaufblühen, ich weiß es, weil ich für ihn gesorgt, ihn gepflegt, mich selbst aufgeopfert habe, um ihn Euch zurückzugeben.« Er stieß die Tür ein wenig weiter auf. »Und nun schaut hier mein Kind an, wie es leidet. Werdet Ihr es möglich machen, daß sie mir zurückgegeben wird?«
Zögernd spähte Elizabeth durch die Tür und sah Kate mit einem Tuch, das schon völlig rot war, das Blut von ihren Beinen wischen, während de Chauliac neben ihr stand und sie stützte. Die Gräfin wurde blaß und flüsterte ein Gebet. Dann sah sie Alejandro ängstlich an. »Es kann nicht anders als schwer werden, wenn so viel Blut da ist.« Sie wagte einen weiteren Blick.
»Dann bitte, helft …«
Doch sie unterbrach ihn, indem sie eine Hand hob. Einen Moment lang starrte sie Kate an, und dabei schien ihre Miene sich zu verhärten. »Bei der Gnade Gottes«, murmelte sie, während ihre Augen das blutende Mädchen musterten, »Chaucer hat recht.« Alejandro traf ein anklagender Blick. »Diese Eure Tochter besitzt eine höchst unheimliche Ähnlichkeit mit meinem Gatten.«
Der Heiler brachte ein nervöses Lächeln zustande, aber sein Inneres krampfte sich erneut zusammen. »Es ist nichts weiter als ein Zufall, Madame. Da ihre Mutter Engländerin war, sieht man ihr das natürlich an – insbesondere, was ihre Farben betrifft.«
Er gab diese Erklärung ab, so schnell er konnte, aber Elizabeth wollte nichts davon hören.
»Sie hat keinerlei Ähnlichkeit mit Euch«, bemerkte sie argwöhnisch. »Aber sie könnte der Zwilling meines Gatten sein, wenn sie ein Mann wäre.«
»Doch an ihrem Zustand erkennt Ihr eindeutig, daß sie kein Mann ist. Im Augenblick hat sie ein höchst weibliches Problem, und Ihr könnt ihr den Weg erleichtern, wenn Ihr nur wolltet … bitte«, flehte er wieder. »Denkt nicht an diese unwichtige Ähnlichkeit … sie bedeutet nichts! Helft mir jetzt, wie ich Euch geholfen habe. Man kann sie nicht von hier fortbringen. Es ist zu spät. Wir müssen ein anderes Zimmer beziehen.«
Als die Gräfin seinen Blick erwiderte, waren ihre Augen noch voller Zorn über die Art, wie er sie im Stich gelassen hatte. »Ich verstehe nicht, warum Ihr zurückgekehrt seid, um mich zu quälen.«
»Es war nicht meine Absicht, Euch zu quälen.« Zögernd streckte er die Hand nach ihr aus, und als sie nicht zurückwich, berührte er kühn ihre Wange. Die Haut war weich unter seinen Fingern, und irgend etwas rührte sich in beiden. »Ich bin gekommen, um Euren Sohn zu retten«, führte er aus. »Aufgrund der Zuneigung, die ich für Euch empfinde, obwohl Ihr jedes Recht habt, mir nicht zu glauben. Ich schulde Euch das.«
»Das und mehr«, sagte sie, während ihre Augen sich mit Tränen füllten.
»Wie wahr! Und es tut mir leid, aufrichtig leid. Möge Gott gewähren, daß die Heilung, die ich bei Eurem Kind bewirkt habe, Euch das zu verstehen hilft. Aber wir müssen ein anderes Mal über diese Dinge sprechen, ich bitte Euch um Nachsicht, denn jetzt braucht meine Tochter alle erdenkliche Hilfe.«
Endlich gab die Gräfin nach. Sie winkte einer Dienerin, der sie ihren Sohn übergab. Als sie die Angst der Frau sah, sagte sie: »Die Krankheit kann nicht mehr aus ihm heraussickern. Das sagt zumindest dieser gelehrte Mann.«
Ihre Erklärung schien zu genügen, denn die Dienerin eilte mit dem kleinen Jungen auf dem Arm davon. Elizabeth wandte sich wieder an Alejandro. »Folgt mir«, ordnete sie an. »Ihr könnt die Kammer meiner Zofe haben.«
Sie führte sie eine enge Treppe in den zweiten Stock des Schlosses hinauf. Alejandro schleppte Kate, obwohl das all seine Kraft erforderte, und de Chauliac versuchte zu helfen; aber das Treppenhaus war zu schmal, um nebeneinanderzugehen. So wechselten sie einander ab, bis die Stufen überwunden waren.
Der Raum, in den die Gräfin sie führte, war dem sehr ähnlich, den Alejandro in de Chauliacs Palais bewohnt hatte; er hatte schräge Decken, mehr Ecken, als die Gesetze der Geometrie möglich erscheinen ließen, und ein kleines Fenster. Die Möblierung bestand nur aus einem schmalen Bett, einem Tisch und einem einfachen Stuhl. Das allgegenwärtige Kreuz mit dem leidenden Heiland hing an einer Wand, vermutlich der kostbarste Besitz der Dienerin. Er legte Kate auf das Strohbett und fing an, ihr die Kleider auszuziehen.
»Ich schicke meine Frauen mit dem Notwendigen«, sagte Elizabeth leise, und mit einem letzten traurigen Blick in seine Augen zog sie sich zurück.
Die versprochenen Helferinnen erschienen kurz darauf mit Leintüchern, Windeln und Wasser. Eine kräftige femme trug einen hölzernen Gebärstuhl herein, den sie selbst die Treppe hochgehievt hatte; aber ein Blick auf Kate verriet ihr, daß der Stuhl nicht mehr nötig war. Sie stellte ihn beiseite und zwängte sich zwischen Alejandro und de Chauliac durch.
Sie sprach mit einem Akzent, an dem man sie als Irin erkannte, eine Eingeborene der Heimat Elizabeths. »Ihre Hoheit sagt, daß die Herrschaften Ärzte sind!«
Als de Chauliac protestierte und behauptete, kompetent zu sein, stellte sie die Frage: »Hat einer von Euch zwischen ihre Beine geschaut?«
Verblüfftes Schweigen. Dann sprachen beide rasch von Anstand.
Die Irin schüttelte bei den gestammelten Erklärungen angewidert den Kopf. »Einfaltspinsel! Ihr müßt hinschauen, damit Ihr wißt, was zu tun ist.« Und als Kate bei der nächsten Wehe stöhnte, beugte die Frau sich vor und streichelte ihren Bauch. Sie murmelte dem keuchenden Mädchen beruhigende Worte zu. Dann wandte sie sich wieder an die beiden Herren Ärzte, denen der Mund offenstand.
»So bleibt und seht zu, wenn Ihr wollt – vielleicht lernt Ihr etwas Nützliches!«
Sie zogen sich wie nutzlose Drohnen in eine Ecke des Raumes zurück, während die Frauen das Bett umschwirrten wie ein Bienenschwarm, die irische Königin in ihrer Mitte. Die kräftige Rothaarige verfügte fast über magische Kräfte, denn mit kaum mehr als wohlplazierten, streichelnden Bewegungen ihrer Hände kam das Kind nach und nach ans Tageslicht.
Sanft drängte sie Kate der Erlösung entgegen. »So ist es recht, junge Frau«, lobte die Irin, »und nun preßt nach unten, als wolltet Ihr den Nachttopf füllen.«
»Aber ich werde das Bett beschmutzen«, stöhnte Kate.
»Nein, das werdet Ihr nicht«, lautete die Antwort, »auch wenn es Euch so vorkommt. Gegen dieses Gefühl ist nichts zu machen. Es bedeutet, daß das Kind nahe ist und auf seinem Weg an Eurem Darm vorbeikommt. Und wenn Ihr das Bett beschmutzt, so tut das auch nichts zur Sache. Es gehört eben dazu. Die Gräfin kann sich leicht ein neues leisten.«
Dergestalt getröstet, machte sich Kate entschlossener an den Gebärvorgang. Sie drückte und schrie, strengte sich an und stöhnte, und endlich erschien mit einem weiteren Blutschwall ein Köpfchen.
»So, nun tut dasselbe noch einmal und fördert unseren Stolz!«
Mit einem Keuchen, das aus der Mitte ihrer Seele zu kommen schien, preßte Kate so heftig, wie sie konnte. Endlich war das Kind frei und lag auf dem Stroh zwischen ihren Beinen. Die Irin griff in Kate hinein, zog die dampfende Nachgeburt heraus, beugte sich vor und biß mit ihren Zähnen die Nabelschnur durch. Sie wickelte das Organ in ein Tuch und reichte es einer ihrer Helferinnen.
»Kocht das, bis es braun ist«, befahl sie, »und bringt es dann zurück, solange es noch heiß ist.«
Sie hielt das Kind an den Füßen hoch und schlug ihm kräftig auf die Hinterbacken. Es begann zu schreien.
Die Frau wischte den Säugling ab, wickelte ihn in Windeln und legte ihn Kate in die Arme. »Einen feinen Sohn habt Ihr, und hell. Er zeigt die gleichen Farben wie Ihr!«
Alejandro trat näher und starrte in sprachloser Ehrfurcht auf das Kind, das er hinfort Enkel nennen würde. Obwohl erst Augenblicke alt, war das Baby Guillaume Karle wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch die Irin hatte recht; es würde den Teint seines Plantagenet-Großvaters und seiner halben Plantagenet-Mutter haben. Und selbst in den mageren Armen Kates sah der Säugling vollkommen und gesund aus, ein Wunder der Natur, hervorgebracht von Gottes Wunsch, der Menschheit ein weiteres Verweilen auf der Erde zu gewähren. Alejandro sehnte sich danach, das Kind in seinen eigenen Armen zu spüren. Also sagte er sanft: »Tochter, darf ich deinen Sohn begrüßen?«
»O ja«, flüsterte sie. Und während sie zusah, wie das Kind von ihren in die Arme seines Großvaters gehoben wurde, sagte sie leise:
»O Père, ich habe einen Sohn … wenn nur Karle hiersein könnte, um ihn zu sehen und zu halten.«
»Ich werde ihn wiegen an seines Vaters Statt«, versicherte ihr Alejandro.
De Chauliac, der in der Ecke zurückgeblieben war, trat jetzt vor und schaute Alejandro über die Schulter. »Er scheint ein hübscher Bursche zu sein«, bemerkte der Franzose mit seiner üblichen Distanz. »Aber ich kann ihn nicht gut sehen. Bringt ihn her ans Licht des Fensters. Ich möchte Einzelheiten prüfen, um mich zu vergewissern, ob er gesund ist.«
Doch die Sonne stand auf der anderen Seite des Schlosses, und am Fenster war das Licht kaum besser.
»Tragt den Säugling hinaus auf den Gang zur Westseite«, riet die Irin. »Dort wird reichlich Licht sein. Ich habe an der Mutter zu arbeiten, und dafür wird sie sich Intimität wünschen.«
»Darf ich?« fragte Alejandro Kate.
»Geht nur! Aber bringt ihn bald zurück.«
Mit langsamen, vorsichtigen Schritten, denn er trug eine Last, die weit kostbarer war als alles Gold, das er in seinem Leben gesehen hatte, brachte Alejandro das Kind auf den langen Gang hinaus und um eine Ecke zu dem Erker, den die Irin meinte. De Chauliac ging ein paar Meter hinterher. Dann blieb er zurück und sagte zögernd:
»Ihr werdet selbst gut genug wissen, ob der Junge gesund ist. Vielleicht sollte ich … mich jetzt auf den Weg machen.«
Alejandro drehte sich um. »Nein«, protestierte er, »bleibt, es sei denn, Ihr habt einen Grund zu gehen?«
»Hier werde ich nicht gebraucht …«
Der Jude sagte zu ihm: »Notwendigkeit ist nicht immer das, was Männer verbindet.«
»Zwischen uns war sie es jedoch, Kollege.«
»Nicht in diesem Augenblick.« Er bewegte den Kopf zu dem Fenster mit dem besseren Licht. »Kommt her, betrachtet meinen Enkel. Laßt dieses eine Mal etwas Freundlichkeit zwischen uns zu!«
Sie blieben dort, bewunderten das Kind und warteten auf die Ankündigung der Hebamme, Kates weibliche Körperteile seien angemessen versorgt und der Säugling solle zurückgebracht werden, um seine erste Milch zu kosten und wieder die Arme seiner Mutter zu spüren. Doch die Zeit verging, die Dämmerung brach herein, und bald fingen sie an, sich Sorgen zu machen.
»Es wäre möglich, daß etwas nicht stimmt«, sagte Alejandro.
»Ich werde mich erkundigen«, erbot sich de Chauliac.
Doch die Irin wollte ihn nicht einlassen. »Sie hat ein wenig geblutet, doch ich habe ihren Schoß in die richtigen Kräuter gepackt, und die Blutung scheint jetzt aufgehört zu haben. Aber sie möchte ruhen und sollte für den Augenblick nicht bewegt werden.«
»Was sollen wir dann tun?« fragte Alejandro nervös, als de Chauliac mit dieser Nachricht zurückkehrte. »Die Gräfin wird mich nicht eine Minute länger als nötig hier haben wollen. Und sie wird darauf bestehen, daß meine Tochter fortgebracht wird.«
»Sicher hat sie keine Einwände dagegen, daß Kate heute noch bleibt«, meinte de Chauliac. »Diese Frau mag zornig auf Euch sein, aber sie ist kein Ungeheuer. In ihrer Brust schlägt ein menschliches und sanftes Herz. Sie wird ihr gestatten, sich ein wenig zu erholen. Ich werde darauf bestehen.«
»Es widerstrebt mir, sie zurückzulassen«, sagte der Jude. »Einmal habe ich sie allein gelassen, und das hat zu nichts Gutem …«
Er hielt inne, weil Schritte auf der Treppe erschollen. Schwere, männliche Tritte, nicht die zarten Schritte der Gräfin und ihrer Damen. Und Stimmen – tiefe, männliche Stimmen, die entschlossen klangen. Sein Herz pochte; er schlüpfte in eine Nische, lehnte sich an die Wand und drückte das Kind an seine Brust. Voller Angst sah er de Chauliac an.
Die Schritte und Stimmen erreichten den oberen Absatz, und de Chauliac beugte sich ein wenig vor, damit er um die Ecke einen Blick auf die Ankömmlinge werfen konnte. Rasch fuhr er wieder zurück und fluchte lautlos.
»Es ist Lionel persönlich. Und … und …«
»Und wer?«
»… und Charles von Navarra, fürchte ich.«
»Elizabeth!« zischte Alejandro. Entsetzt schloß er die Augen.
»Das ist ihre Rache an mir.« Er drückte das Baby fester an sich. »Sie muß ihn benachrichtigt haben, sobald wir angekommen sind – und der Schurke hat den rechten Augenblick abgewartet, bis der Junge geheilt war. Nun, möge er den Rest seiner Zeit in der Hölle schmoren!«
Hastig versuchte er, das Kind de Chauliac in die Arme zu drücken, doch der Franzose wollte das hilflose Bündel nicht annehmen. Statt dessen packte er Alejandro und hielt ihn von der wahnsinnigen Tat ab, an die dieser dachte. Er flüsterte eindringlich:
»Nein! Lauft nicht weg!«
»Ich würde dieses Ungeheuer am liebsten umbringen …«
»Vergeßt Ihr, daß Ihr den Enkel des Königs von England auf den Armen tragt?«
Richtig, das hatte er vergessen. Er schaute auf das Kind nieder, seinen Enkel, und Gott sollte jeden vernichten, der danach trachtete, ihn von diesem Geschöpf oder seiner Mutter zu trennen.
Sie hörten Stimmen aus der Kammer. »Ich bin gekommen, um im Namen meines Vaters diesen meinen Neffen zu fordern«, äußerte Lionel mit großer Überzeugung, »und mit meiner lange verlorenen Schwester zu sprechen.«
Alejandro klopfte das Herz bis zum Hals.
»Wo ist das Kind?« hörten sie.
»Die Ärzte haben es weggebracht«, erteilte die Irin Auskunft.
»Wohin, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie die Treppe hinuntergegangen, vor Eurer Ankunft.«
Du gute Seele! dachte er und segnete sie.
»Der jüdische Arzt oder der französische?«
»Ich weiß nicht welcher«, tat die Irin ahnungslos. »Keinen von beiden hielt ich für einen Juden«, fügte sie hinzu. »Aber beide könnten gleichwohl welche sein …«
De Chauliac legte Alejandro eine Hand auf den Arm und sagte leise: »Ihr müßt das Kind nehmen und gehen.«
»Aber ich kann sie nicht zurücklassen …«
»Ihr Schicksal liegt nicht in Euren Händen. Ich werde bei den Hoheiten vorsprechen, denn ich habe von diesen Männern nichts zu fürchten. Zuviel weiß ich über ihre geheimen Unzulänglichkeiten. Ich werde sie ablenken, während Ihr mit dem Kind flieht.«
»Aber Kate …«, stöhnte Alejandro.
»Rettet ihr Kind«, drängte de Chauliac, »oder Ihr verliert beide! Ihr habt die Wahl. Doch wenn Ihr geht, werde ich alles tun für ihr Wohl, das verspreche ich.«
»Aber was könntet Ihr bewirken?«
»Das weiß ich noch nicht«, gab der Franzose zu, »aber was immer in meiner Macht steht, werde ich veranlassen. Ihr habt mein feierliches Gelöbnis – bei der großen Zuneigung und dem Respekt, die ich Euch entgegenbringe!«
Alejandro sah seinem früheren Mentor in die Augen und erkannte einen Freund. Noch zwei Wochen zuvor hätte er de Chauliac nicht getraut, doch jetzt erschien es ihm gerechtfertigt.
»Geht«, wiederholte de Chauliac. »Geht zu meinem Haus, nehmt ein gutes Pferd und verlaßt Paris. Euer Beutel mit Gold befindet sich in meinem Studierzimmer hinter dem Buch mit den griechischen Werken, das ich Euch geliehen hatte.«
Wohin sollte er sich wenden? Wo in dieser dunklen Welt war Sicherheit zu finden?
»Gibt es noch Juden in Avignon?« fragte er.
»Das denke ich«, bestätigte de Chauliac. »Die Edikte von Clemens haben großen Einfluß gehabt. Sie sollen dort ein blühendes Viertel bewohnen. Man wird Euch willkommen heißen.«
Alejandro schwirrte der Kopf von all den Einzelheiten, die noch ausgesprochen werden wollten, ehe er ging. »Dann werde ich dort Zuflucht suchen. Wo es Juden gibt, kann man immer einen Rabbiner finden. Sendet mir durch ihn eine Botschaft!«
»Sobald das gefahrlos möglich ist, werde ich es tun.« Mit seinen langen Armen umarmte de Chauliac den verängstigten Alejandro mitsamt dem Säugling. »Gott sei mit Euch, Kollege! Und möge Er gewähren, daß wir einander in besseren Zeiten wiedersehen!«
Dann ließ der große Franzose ihn los und schlich um die Ecke, den Gang entlang. Alejandro spähte ihm nach und beobachtete, wie de Chauliac jene Kammer betrat und die Tür sich hinter ihm schloß. Er hörte laute, ärgerliche männliche Stimmen, als er geräuschlos daran vorbei und die Treppe hinunterhuschte. Das Baby fest in den Armen, eilte er sogleich den Hauptaufgang des Schlosses hinunter und aus dem Tor in die kalte, dunkle Pariser Nacht.