KAPITEL 15
Als Alejandro am nächsten Morgen die Augen aufschlug, sah er Abrahams Manuskript auf dem Tisch beim Fenster liegen, daneben Tinte und Feder. Noch größer war seine Überraschung, als er ein Tablett mit einem einladenden Frühstück entdeckte – ein schöner, roter Apfel, ein Stück Käse, ein Laib knuspriges, goldenes Brot. Neben der Porzellanschüssel gab es einen Krug mit Wasser und ein sauberes weißes Tuch.
Habe ich so fest geschlafen, daß ich den Diener nicht hereinkommen hörte? Der Gedanke verstörte ihn. Ziemlich niedergeschlagen machte er sich klar, daß seine Behandlung als de Chauliacs Gefangener von ähnlicher Art war wie die Aufmerksamkeit, die er als König Edwards Gast in Windsor Castle genossen hatte. Ich soll mich an den Zustand gewöhnen, dachte Alejandro. Er möchte mich gefügig machen.
Keine schwierige Aufgabe, dachte er niedergeschlagen. Da ich sonst nur die Härte und Unsicherheit des Lebens auf der Flucht kenne, bringt mich erwartungsgemäß die einfachste Freundlichkeit völlig aus der Fassung. Sein Leben war schwer gewesen, manchmal fast unerträglich. Doch trotz alledem hatte er ein Menschlein großgezogen – ganz gegen die Regel der Natur, nach der ihm die eigene Selbsterhaltung wichtiger hätte sein müssen als die des Kindes eines anderen Mannes. Daß er noch immer alle seine Zähne hatte, war für ihn ein Wunder; denn ein Mann mit weniger Willenskraft würde das knusprige Brot in Wasser tauchen müssen, bevor er es verzehrte, und diesen wunderbaren Apfel nur mit wehmütigen Erinnerungen an das Vergnügen betrachten, hineinzubeißen. Er war immer noch stark und bereit, das Notwendige zu tun, um zu überleben. Wiewohl nicht mehr ganz derselbe wie früher, betraf der Verlust an Kraft doch eher seine Seele als seinen Körper.
Doch wer kann mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich mir einen Moment der Freude gestatte? Es war schlimm genug, einen großen Teil der Nacht in unbewußtem, vergeblichem Streben nach Wiedervereinigung mit jenen zuzubringen, die er liebte; oder er floh vor der Rache eines längst verstorbenen Riesen, aber wachte dann auch noch in der Morgenkälte Tag für Tag mit Blick auf einen elenden Hüttenboden aus gestampfter Erde auf. Er konnte nur annehmen, daß das ein böser Scherz des christlichen Gottes war, der vom Himmel aus auf ihn niederschaute und sein göttliches Vergnügen daran hatte, daß der rastlos wandernde Jude hüpfte und tanzte wie eine Marionette, wenn er an den Fäden des Schicksals zog. In einem sauberen Bett zu erwachen, ohne die Mäuse dicht neben ihm im Stroh rascheln zu hören – welcher Luxus! Er stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete seine behagliche Umgebung. Wenn ich schon ein Gefangener sein soll, dann laß ich es mir nur unter solchen Bedingungen gefallen!
Er wusch sich, stillte seinen Hunger, indem er mit intakten Zähnen dankbar kaute, und wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Manuskript zu. Der Papyrus begann sich mit seinen schönen Schriftzügen zu füllen. Abrahams Worte hatten den Lauf der Zeit mit wunderbarer Frische und Weisheit überlebt. Wenn er ruhig und sorgfältig arbeiten konnte wie jetzt, schritt die Übersetzung stetig voran, und an manchen Stellen freute er sich beinahe über besonders gelungene Wendungen.
Doch dann stieß er auf einen Absatz, dessen Sinn sich ihm entzog.
Achtet auf eure Knochen, stand da, auf daß sie nicht brechen. Es gibt unter euch solche, denen es mangelt an – was war das für ein Wort? Er konnte die Bedeutung der archaischen Schriftzeichen nicht entziffern. Knochen des Rückens, lautete die wörtliche Übersetzung. Im Zusammenhang des Textes konnte es nur Rückgrat bedeuten. Aber warum eine so spezifische und detaillierte Ermahnung, wenn sonst keine Fragen der persönlichen Gesundheit eingehender erörtert wurden? Und was hatte de Chauliac gesagt, das ihm nun undeutlich wieder ins Gedächtnis kam, während er diese Worte las?
Er ließ eine Stelle frei, um das Wort einzusetzen, wenn er dessen Sinn endlich erkannt haben würde. Ich werde ihn herausfinden, versicherte er sich selbst. Gerade schrieb er die ersten Worte des nächsten Absatzes, als ein Klopfen an der Tür ertönte.
Es gab auf der Innenseite keinen Türknauf – de Chauliac hatte ihn vom gleichen unbeholfenen Zimmermann entfernen lassen, der kürzlich auch das offene Fenster mit Gittern versah. Das Klopfen war also reine Höflichkeit. Seine allgegenwärtigen Bewacher kontrollierten jeden Besucher, und nach ein paar Sekunden trat einer von ihnen ein, die Augen niedergeschlagen.
Alejandro verdroß es, daß sie seinem Blick stets auswichen. Warum sieht mich keiner von ihnen je direkt an? Bin ich einfach ein Gegenstand, den sie auf Befehl ihres Herrn von hier nach da transportieren? Vielleicht war es indessen Diskretion, die sie dazu veranlaßte … in einem so eleganten Haus mußten sich sogar die Wachleute ordentlich benehmen können.
Doch dann kam ihm eine verblüffende Erkenntnis: Sie fürchten mich. Aber nicht, weil ich ihnen schaden könnte.
Der Wächter brachte ihm einen Arm voller Kleider, sah ihn aber wieder nicht an. »Für die Gesellschaft heute abend …«, murmelte er.
Alejandro stand regungslos da und forderte den Mann im stillen heraus, ihm in die Augen zu sehen. Bitter fragte er sich: Was glauben sie denn zu finden – irgendein exotisches Tier von unvorstellbar abscheulichem Äußeren? Sein Groll wuchs von Sekunde zu Sekunde. Fürchtet Ihr, daß ich mit dem Gesichtsausdruck gottloser Lust meine erigierte Männlichkeit in der Hand halte? Oder soll ich die Zähne fletschen und Euch zeigen, daß sie vom Blut christlicher Säuglinge triefen, wie Eure Priester von uns Juden behaupten? Er schleuderte die Kleidungsstücke mit Schwung beiseite, und der Diener verließ rasch die Kammer.
Mißmutig sah Alejandro sich die Gaben an. De Chauliac hatte ihm eine ansehnliche Auswahl gesandt, die in ihm den demütigenden Gedanken hervorrief: Man muß sein Spielzeug immer auf die bestmögliche Weise präsentieren. Da gab es eine Tunika aus feinem blauen Leinen und elegante Kniehosen. Er hielt sich die Sachen an; sie sahen aus, als paßten sie ihm genau. Er fragte sich kurz, ob de Chauliac in der Nacht womöglich einen Schneider geschickt hatte, der ihm die Maße abnahm, während er schlief.
Aber das soll mich nicht stören, dachte er mit einem grimmigen Lächeln, denn wenn ich fliehe, werde ich ein erstaunlich eleganter Flüchtling sein.
Charles von Navarra nahm den Brief entgegen, den der Page des Barons de Coucy ihm reichte, und entließ den Boten mit einer raschen Handbewegung. Das rote Siegel erkannte er jetzt auf den ersten Blick, denn es prangte in letzter Zeit auf zahllosen Briefen an ihn. Wieder eine Mitteilung meines Verbündeten in Paris. Wenn man an all die Pferde dachte, die ihre tägliche Korrespondenz beförderten! Es war eine sündhafte Verschwendung, aber notwendig. Mit eifrigem Interesse las er Marcels Worte:
Letzte Nacht ist Guillaume Karle hier eingetroffen, wie Ihr vorhergesagt hattet. Ich halte ihn für einen besonders intelligenten Menschen, wenn auch etwas übereifrig; aber seine Leidenschaft ist auf Revolte gerichtet und kann uns nur von Nutzen sein. Zu meiner Überraschung befindet er sich in Begleitung eines jungen Mädchens; ich nehme an, daß sie ihm mit ihrem Liebreiz ein großer Trost ist, und welchem Mann kann man verübeln, daß er sich in solchen Zeiten von einer Frau verwöhnen läßt? Wir müssen schließlich auch unsere Erholung haben. Zu meiner Freude kann ich Euch berichten, daß er sich durch sie nicht von seinen aufrührerischen Plänen ablenken läßt; seine Hingabe an die Sache scheint ungeheuer. Nach sorgfältiger Prüfung bin ich zu dem Schluß gelangt, daß er mit entsprechender Überzeugungsarbeit durchaus eine Armee von Bauern um sich sammeln kann, die unsere Sache fördern.
Doch ich bedaure, Euch mitteilen zu müssen – was Euch gewiß nicht überraschen wird –, daß er Euch mit derselben Leidenschaft verabscheut, mit der er die Freiheit liebt. Und wenn das, was er mir von Euren Eskapaden auf dem Lande berichtet, wahr ist, dann kann ich ihm dieses Gefühl nicht verübeln. Vielleicht, werter Herr, solltet Ihr über Eure Maßnahmen gegen die Bauernschaft noch einmal nachdenken. Macht ihnen Schwierigkeiten, denn damit müssen sie rechnen – aber schlachtet sie nicht mit so offenkundiger Begeisterung ab! Ihr solltet auch jene Edelleute, die Euch unterstützen, dazu bewegen, sich zu mäßigen.
Außerdem bitte ich Euch, über die Verfolgung von Karle selbst noch einmal nachzudenken – denn es würde uns nur schaden, wenn er tot wäre oder in Ketten läge. Für den Augenblick nützt er uns mehr, wenn er auf unserer Seite gegen jene stünde, die Euch Euer Recht vorenthalten wollen. Wenn Ihr sowohl ihn als auch die Anhänger des Königs bekämpft, werden unsere Kräfte unnötig gespalten.
Natürlich muß ein solcher Aufschub von Zeit zu Zeit überdacht werden, und wenn Ihr ihn, nachdem Ihr den Euch zustehenden Platz eingenommen habt, zu bedrohlich findet, dann solltet Ihr das Nötige unternehmen, um Eure Stellung zu sichern.
Der Brief enthielt noch einige weitere Mitteilungen, aber keine davon war auch nur annähernd so wichtig wie die erste. »Ich bin mit diesem Provost Marcel sehr zufrieden«, teilte er später Baron de Coucy mit.
Aber er tut diese Dinge nicht aus Loyalität mir gegenüber, dachte Navarra, sondern weil er denkt, daß er zu guter Letzt weiterhin Paris regieren wird.
Solche Arroganz bei einem Mann bürgerlicher Herkunft ziemte sich eigentlich nicht. Wenn ich König von Frankreich sein werde, dann lasse ich ihm Paris nur vielleicht. Wenn es mir gefällt …
Das Licht der Sonne war ihr nie wohlwollender erschienen, ein Strohlager nie behaglicher.
Kate drehte sich zu Guillaume Karle um, der noch schlief. Sie fuhr mit dem Finger an seinem Kinn entlang, und bei dieser zarten Berührung schlug er die Augen auf. Er verzog die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln und nahm sie in die Arme.
Zufriedenheit erfüllte sie, und sie dachte: Kann es eine größere Freude geben als die, die ich im Augenblick erlebe?
»Wie schön die Nacht war«, flüsterte er leise. »Für meinen Geschmack ist die Sonne viel zu schnell aufgegangen.«
»Und ich habe gerade gedacht, wie herrlich das Licht heute wärmt.« Sie lachte ein wenig. »Mir scheint, wir streiten uns schon am ersten Tag, und das über eine Sache, auf die wir nicht einmal Einfluß haben.«
Er küßte sie leicht auf die Stirn. »Eine Sache, die ihren eigenen Lauf nimmt, egal, was wir darüber denken. Die Sonne wird verschwinden und wiederkommen, ohne sich um unsere Wünsche zu kümmern.« Dann erstarb sein Lächeln. »Es gibt andere Dinge, die sich nicht von allein lösen werden, denke ich.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da spürte Kate schon schmerzlich das Vergehen der Zeit, den tragischen und unvermeidlichen Tod jedes kostbaren Augenblicks. Die Nacht war schon vergangen, der Tag schritt unaufhaltsam voran. Sie würden sich von ihrem Strohlager erheben und das Leben wiederaufnehmen, das sie zuvor geführt hatten – weitab von dem, was in der Nacht zwischen ihnen geschehen war. Karle mußte eine Erhebung vorbereiten, sie ihren père finden. Diese Liebesnacht würde nicht die beiden Schwerter beseitigen, die Gott selbst über ihre Häupter gehängt hatte. Trotzdem würde Père, sobald sie ihn gefunden hatte, die Veränderung an ihr zweifellos bemerken. Sie spürte sie selbst mit verwirrender Deutlichkeit. Konnte sie verhindern, daß man sie ihrem Gesicht ansah? Nein, auch nicht mit Hilfe der Gesegneten Jungfrau persönlich. Er würde auf den ersten Blick sehen, daß sie nicht mehr nur Tochter war.
Er kann nicht denken, ich würde ewig sein Kind bleiben. Diese Unmöglichkeit muß ihm klar sein!
Als Karle sich auf einen Ellbogen stützte, als wolle er aufstehen, klammerte Kate sich an seinen Arm.
Bitte noch nicht, dachte sie verzweifelt. »Wirst du mich jetzt schon verlassen?«
Er legte sich wieder hin, zog sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr:
»Wenn ich die Wahl hätte, würde ich dich nie verlassen. Aber man kann keine Drachen töten, wenn man in den Armen der Dame liegt, die man beschützen möchte.«
»Die Drachen sollen warten.«
»Aber sie müssen dennoch getötet werden.«
Sie preßte sich an ihn. »Laß sie warten!«
Inzwischen wurden die Strahlen der schönen Sonne wieder länger, als sie einem weiteren Rendezvous mit dem Horizont entgegenstrebte. Schwer lastete das Schweigen auf Kate und Karle, während sie abermals die Rue des Rosiers aufsuchten; Kate mußte sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, so sehr fühlte sie sich von Zweifeln und Bedauern bedrückt. Welch seltsamen neuen Körper hat meine Seele geschaffen? fragte sie sich. Binnen eines Tages hat er einen eigenen Willen bekommen, der mir ganz fremd ist.
Doch welch lustvoller Ungehorsam war das, welch süße Scham! Sie war sich ihrer Weiblichkeit ungewöhnlich bewußt, während sie dahinschritt; zum erstenmal hatte sie sie so benutzt, wie von Gott vorgesehen. Gott hat es so gewollt! wiederholte sie sich innerlich.
Warum war es dann ein Grund zur Scham?
Ihr Kopf steckte voller Fragen, die sie sich noch nie gestellt hatte. Wenn ein Mann und eine Frau das Lager teilten, ging dann stets der Homunculus von ihm auf sie über und wuchs in ihr als ein Kind heran? Gewiß nicht, überlegte sie, sonst wären die Frauen ständig schwanger! Aber was, wenn es doch so wäre? Wohin verschwanden diese Homunculi, wenn sie im weiblichen Schoß nicht willkommen waren? Gab es in der Welt einen besonderen Ort für den nicht benutzten Beitrag eines Mannes zur Vaterschaft? Das erschien ihr nur vernünftig. Und was sollte eine Frau tun, wenn ihr Geliebter sie erkennen wollte, während ihrer Regel?
Für einen kurzen Moment sehnte sie sich nach einem Wiedersehen mit ihrer verstorbenen Mutter oder der Hebamme, Frau Sarah, die Antworten auf diese Fragen wüßten und sie mit einem freundlichen, verständnisvollen Zwinkern erteilen würden. Bei einem ihrer seltenen und schwierigen Gespräche über Frauenangelegenheiten hatte Père, der so liebevoll versuchte, ihr Vater und Mutter zugleich zu sein, gesagt, die Juden hätten strenge Regeln für die Aktivitäten von Mann und Frau im Bett. »Darin sind die Christen vernünftiger«, hatte er widerstrebend eingeräumt. »Sie erlegen ihnen keine anderen Beschränkungen auf als die, daß Mann und Frau vor ihrem Gott verehelicht sein müssen.«
Sie spürte den Stachel dieser einen, geheiligten Beschränkung, denn dagegen hatte sie eklatant verstoßen. Und plötzlich empfand sie unerklärliche Angst. Würde sie dafür in der Hölle schmoren? Bitte nicht, Herr! Habe ich unter Deiner Willkür nicht schon genug gelitten?
Wo blieb die Gerechtigkeit? Wie viele Frauen hatte ihr leiblicher Vater in sein Bett geholt, während er doch nur mit einer von ihnen verheiratet war? Niemand hatte sie gezählt, zum unverdienten Nutzen seines Rufes. Er hatte nur die oberflächlichsten Versuche unternommen, seine Untreue zu vertuschen. Und war ihre eigene Mutter nicht Edwards Geliebte gewesen, wenn auch gegen ihren Willen, ohne mit ihm verheiratet zu sein?
Ganz bestimmt ruhte ihre edle Mutter nun in Gottes Armen und wurde von Engeln mit der Verheißung eines ewigen Lebens getröstet, das weniger tragisch wäre als ihr irdisches. Jeder andere Verlauf wäre schlicht undenkbar. Gott ist gnädig, versicherte sie sich, trotz allem, was die Priester uns glauben machen wollen.
Aber Père hatte Lady Throxwood in sein Bett geholt, und es hatte kein gutes Ende genommen.
Ich werde um Vergebung beten müssen, dachte sie.
Aber welch köstliche Sünde war das gewesen! Sie würde in aller Demut Abbitte leisten und dadurch vielleicht alles wiedergutmachen.
Als von Alejandro immer noch jegliche Spur fehlte und sie zu Marcels Haus zurückkehrten, fühlte Kate sich seltsam erleichtert.
De Chauliacs Dienerschaft eilte hektisch und geschäftig im Haus umher und bereitete die Soiree vor. Alejandro saß an einem Ende des Tisches im Arbeitszimmer des Franzosen und beobachtete das Treiben ringsum. Abrahams Manuskript lag offen vor ihm. De Chauliac saß ihm gegenüber und hatte ein medizinisches Werk in Händen; aber seine Augen vermochten anscheinend nicht auf dessen Seiten zu verweilen.
Über seine lange Nase hinweg überwachte er streng seine emsige Dienerschaft. Aus seinem Ausdruck schloß der Jude, daß sein Kerkermeister mit deren Aktivitäten nicht zufrieden war; er wunderte sich, warum de Chauliac keine Mätresse hielt, die sich um solche Belange kümmerte. Und warum wurde von ihm selbst verlangt, Zeuge zu sein? Ich möchte, daß Ihr bei meinen Studien anwesend seid, hatte der französische Arzt erklärt, als er Alejandro aus seiner Kammer hatte holen lassen. Vielleicht ergibt sich das Bedürfnis, den einen oder anderen Punkt zu diskutieren.
Dann ruft doch einen Eurer Studenten, hatte Alejandro gesagt. Sicherlich reißen sich alle um das Privileg, zu Euren Füßen zu liegen!
Das tun sie in der Tat, aber ich ziehe bei meiner Lektüre die Gesellschaft von Gleichen vor, hatte de Chauliac erwidert.
»Franzose, Ihr studiert nicht, sondern seid zerstreut. Wozu braucht Ihr dann meine Gesellschaft?«
»Weil ich es so will, Spanier!« Er lächelte sarkastisch. »Obwohl sie im Augenblick wenig taugt …«
Weil ich Euch nicht mit Konversation zufriedenstelle. Bis auf die Klage eben hatte Alejandro noch nie das Wort ergriffen, wenn sein Gastgeber ihn nicht als erster ansprach, obwohl er sich nach einem ordentlichen Gespräch sehnte, über irgend etwas, das seine Gedanken von den gegenwärtigen Schwierigkeiten ablenkte. Das verwirrende Wort, das er zuvor gefunden hatte, war noch immer nicht entziffert, und das Manuskript enthielt noch viel mehr, das nach Aufklärung verlangte. Aber er gestattete sich nicht das schlichte Vergnügen eines Dialogs, denn sein Häscher würde sich ebenfalls daran erfreuen, und dazu wollte er auf keinen Fall beitragen.
Als die Schatten länger wurden und die Abenddämmerung hereinbrach, trafen allmählich diejenigen ein, die für die Unterhaltung sorgen würden. Zuerst kamen Musiker und ein Narr, dann eine exotisch aussehende Frau mit dunklem Haar und bräunlichem Teint, seinem eigenen nicht unähnlich. De Chauliac behauptete, sie würde der Gesellschaft Tänze vorführen. »Sie läßt in höchst aufreizender Weise den Bauch kreisen«, sagte er mit einem verschmitzten, fast jungenhaften Lächeln. »In diesen mageren Zeiten freut sich jeder über ein Engagement, und deshalb wird sie tun, was sie kann, um ihr Publikum zu entzücken.«
Alejandro folgte ihr mit den Augen, als sie durch die Vorhalle wogte. Ein leises Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, und er sagte: »Und wie werden die Damen diese Unterhaltung aufnehmen?«
De Chauliac lachte. »Heute abend werden keine Damen anwesend sein. Die meisten sind fortgeschickt worden, bis in Paris wieder normale Zustände herrschen.«
Alejandro dachte an Kate, die sich jetzt irgendwo in der Stadt aufhielt. Insgeheim betete er, wenn auch widerstrebend, daß sie noch mit Karle zusammen war. »Ist es hier im Augenblick für Frauen wirklich so gefährlich?« erkundigte er sich.
»Nur für Damen von Adel«, antwortete de Chauliac. »Die aus den niedrigeren Klassen können noch immer kommen und gehen, wie es ihnen gefällt.« Er schaute aus dem Fenster und schätzte die Zeit. »Ich denke, es ist vielleicht angebracht, daß Ihr jetzt in Eure Kammer zurückkehrt«, ordnete er an. »Obwohl ich unser anregendes Gespräch eigentlich nicht mehr lange hinausschieben möchte. Ihr solltet eine Weile ruhen und Euch dann fertigmachen.«
Wofür? fragte sich Alejandro, als die Wachen ihn hinausschoben.
Etwa eine Stunde später erschien de Chauliac persönlich, um Alejandro wieder nach unten zu geleiten. »Ihr seht recht gut aus, Arzt!« Er tätschelte seine Schulter. »Aber schon damals habt Ihr eine gute Figur gemacht, als ich Euch fein ausgestattet nach England schickte. Ihr habt mit den vergehenden Jahren Euren Schwung nicht verloren. Ich muß sagen, man käme niemals darauf, daß Ihr Jude seid.«
Ihr seid auch nicht darauf gekommen, dachte Alejandro. Aber er behielt den Gedanken für sich, denn er würde seinen Gastgeber nur reizen, und er wollte ihn so friedlich wie möglich sehen. Es würde seinen Zwecken nicht dienen, de Chauliac heute abend aufzubringen.
Als könne er Alejandros Fluchtgedanken lesen, sagte der Franzose: »Ich will Euch den Gefallen erweisen, Euch zu warnen. Versucht nicht, während ich mich meinen Gästen widme, von hier fortzulaufen. Heute nacht werden viele Wachen Posten beziehen. Ihr könnt Euch im Haus bewegen wie jeder andere Gast, aber man wird Euch im Auge behalten. Aufmerksam! Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Durchaus«, gab Alejandro zurück.
»Nun, was die Vorstellung angeht, so werde ich Euch den anderen Gästen als Dr. Hernandez präsentieren.«
Gibt es unter Euch irgendwelche Juden? erinnerte er sich, de Chauliac vor Jahren fragen gehört zu haben. Dieses elegante Scheusal sah kaum anders aus als damals im Papstpalast in Avignon, wo er vor allen Ärzten von Avignon gesprochen hatte, denen es irgendwie gelungen war, der Pest zu entgehen. Falls ja, tretet vor! Das hatte Alejandro nicht getan, sondern sich statt dessen als sein Gefährte ausgegeben – als Spanier Hernandez, den ihm erst am Vortag die gefürchtete Pest genommen hatte. Er erinnerte sich, wie er, von dem schmerzlichen Verlust noch völlig betäubt, voller Neid zugesehen hatte, wie man die anderen Juden entließ: man hielt sie für ungeeignet, Seiner Heiligkeit, Papst Clemens VI., zu Diensten zu sein. Von ganzem Herzen und aus ganzer Seele hatte er damals gewünscht, sein Fuß hätte den Schritt getan, nach dem ihn verlangte. Einen Schritt, der ihn auf einen völlig anderen Weg geführt hätte.
De Chauliac bemerkte seine Unaufmerksamkeit nicht und fuhr mit seinen Warnungen fort. »Ich vertraue darauf, daß Ihr mich nicht in Verlegenheit bringen werdet, denn eine solche Torheit würde zu nichts Gutem führen. Laßt Euch raten, die Gesellschaft einfach zu genießen – denn Ihr werdet dergleichen nicht so bald wieder erleben.«
»Und wenn jemand nach unserer Beziehung fragt?«
»Dann werden wir wahrheitsgemäß einfach sagen, daß Ihr ein früherer Schüler von mir seid, der jetzt Bedeutung erlangt hat in seinem eigenen Land.« De Chauliac lächelte süßlich und fügte hinzu: »Vielleicht sollten wir sagen, daß Ihr zu einem Besuch bei Eurem Mentor nach Paris zurückgekehrt seid. Was ja nicht völlig unwahr ist …«
Abgesehen davon, daß ich nur unter extremem Protest hier bin.
»Weiter gibt es nichts zu sagen. Aber zweifelt nicht daran, daß Ihr große Unannehmlichkeiten erleben werdet, wenn Euer Verhalten mir irgendwie Schande bereiten sollte.«
Nach diesen Ermahnungen drehte de Chauliac sich um und ging voran. Alejandro folgte, in Gedanken rasende Pläne schmiedend.
Das ganze Gebäude erstrahlte im Schein von Fackeln und Kerzen, und die Luft war erfüllt von Musik, nicht den seltsamen, unheimlichen Klängen, die man in den Kirchen des christlichen Gottes hörte, sondern von lebhafteren und eher profanen Melodien. Überall duftete es nach den seltenen Gewürzen und exotischen Kräutern, die de Chauliacs Köche benutzt hatten, um den Gaumen der Gäste zu kitzeln. An der Eingangstür standen zwei livrierte Diener, und im ganzen Haus sah Alejandro viele weitere, weit mehr als nötig gewesen wären, um ihn zu bewachen. Reglos und grimmig verharrten sie an allen möglichen Ausgängen, wie de Chauliac angekündigt hatte. Jedesmal, wenn er nach ihnen sah, stellte er fest, daß sie ihn beobachteten und wie prophezeit darauf warteten, daß er etwas Törichtes unternähme.
Einer nach dem anderen erschienen die prächtig herausgeputzten Festgäste zu dem Schlemmermahl, das de Chauliac für sie hergerichtet hatte, und Alejandro wurde jedem so vorgestellt wie vereinbart. Als sechs Herren bereits in ein Gespräch vertieft waren, trat ein kleiner, korpulenter Mann, weit weniger eindrucksvoll gekleidet als die anderen, durch die Tür. Alejandro war überrascht zu sehen, daß de Chauliac diesem Ankömmling die allergrößte Aufmerksamkeit widmete.
Die Begrüßung war fast übertrieben beflissen. »Ah, Monsieur Flamel«, säuselte de Chauliac, »ich bin entzückt über Euer Erscheinen! Fast fürchtete ich, Ihr würdet heute abend nicht unter uns sein.«
Während er seinen Umhang einem Diener überließ, entschuldigte sich Nicholas Flamel: »Je regrette, Monsieur le Docteur, meine Verspätung. Sie war unvermeidlich. Meine Frau, wißt Ihr, hat es nicht gern, wenn ich sie allein lasse.« Der kleine Mann verneigte sich ungeschickt und allzu tief, und Alejandro erinnerte sich an sein eigenes linkisches Verhalten an Edwards Hof; damals hatte Kate, kaum sieben Jahre alt, es auf sich genommen, ihm die Feinheiten höfischen Verhaltens beizubringen.
Eine Zeitlang war sie meine einzige Freundin, erinnerte er sich.
Flamel erging sich in weitschweifigen Erklärungen, obwohl Alejandro de Chauliac ansah, daß dieser darauf gerne verzichtet hätte.
»Ich war gezwungen, mich um sie zu kümmern, ehe sie mir gestattete, sie zu verlassen.«
»Ich verstehe ihren Zorn über den Verlust Eurer anregenden Gesellschaft. Wir werden dafür sorgen, daß Ihr mit einem Arm voller Süßigkeiten nach Hause geht, um ihre Stimmung zu heben. Eine solche Geste wird sie gewiß entschädigen.«
»Nur, wenn ich sie Stückchen für Stückchen selbst damit füttere«, bekannte Flamel kichernd.
Wieder eine unnötige Bemerkung, aber de Chauliac ging darauf ein. Aus einem Grund, den Alejandro nicht erraten konnte, schien er Wert auf die Aufmerksamkeit des seltsamen kleinen Mannes zu legen. »Dann gestattet mir, Euch dazu zu ermutigen«, sagte de Chauliac augenzwinkernd. »Hoffentlich werdet Ihr an dieser Aktivität auch selbst Gefallen finden.« Er nahm Flamel beim Arm und zog ihn zu Alejandro. »Und nun möchte ich Euch einen weiteren Kollegen vorstellen, den ehrenwerten Doktor Hernandez, einen Mann, den ich fast so schätze wie Euch – denn auch er ist besonders gelehrt und weise. Aber wie sollte es auch anders sein? Er war einst mein Schüler.«
»An der Universität?« fragte Flamel überraschend.
Und ehe de Chauliac die gefährliche und unerwartete Richtung des Gesprächs ändern konnte, mischte Alejandro sich ein: »In Avignon. Im ersten Jahr der Pestilenz.«
Flamels Gesicht wurde neugierig. »Wart Ihr einer von denen, die Seine Heiligkeit, Papst Clemens, er möge in Frieden ruhen, ausgesandt hat?«
Während de Chauliac ihn sprachlos vor Entsetzen beobachtete, lächelte Alejandro und sagte: »Richtig. Ich war einer von ihnen.«
»Wie interessant! Und an welchen Hof wurdet Ihr geschickt?« fragte Flamel lebhaft.
Er sah, wie die Farbe aus de Chauliacs Gesicht wich, und lächelte innerlich. Eure Schachzüge zeitigen nicht immer die Ergebnisse, die Ihr wünscht, mein Freund, dachte er bei sich. »Ich bin viel umhergezogen. Die Wanderschaft steckt mir, könnte man wohl sagen, im Blut!«
Bei dieser geschickten Antwort schien de Chauliac etwas von seiner Fassung zurückzugewinnen. »Ich möchte Euch unbedingt ein Manuskript zeigen, das Doktor Hernandez mitgebracht hat«, wandte nun er sich an Flamel, »denn es enthält alchimistische Symbole in der Sprache der Juden und wird Euch sicher faszinieren.«
Flamels rotes Gesicht platzte fast vor Erregung. Er sprach beinahe mit Schaum vor dem Mund. »Jetzt weiß ich endlich, worin die Überraschung besteht, die Ihr in Eurer Einladung andeutetet!« Er lächelte breit. »Wahrhaftig, Monsieur, zuerst habe ich den Grund Eurer Verbindlichkeit gar nicht verstanden. Das ist mehr, als ich erhofft hatte!« Für einen Augenblick schien er nachdenklich, doch dann zeigte sich wieder seine große Anteilnahme. »Allmächtiger«, setzte er an, »Monsieur de Chauliac … darf ich zu hoffen wagen … daß es das Manuskript eines gewissen Abraham ist?«
De Chauliac gab sich unwissend, sah Alejandro an und tat geheimnisvoll. Mit hochgezogenen Augenbrauen fragte er: »Kollege?«
Alejandro sank das Herz. »Ja, das ist es«, gab er schließlich Auskunft.
»Preis sei allen Heiligen!« Flamel schrie fast. »Ich habe von diesem Buch gehört und seit Jahren danach gesucht!«
De Chauliac strahlte siegesgewiß. »Und heute abend werdet Ihr es sehen«, versprach er, »sobald meine anderen Gäste gegangen sind. Es erfordert ungeteilte Aufmerksamkeit. Wenn Ihr Euch zurückhalten könnt, bis wir gespeist und die Darbietungen genossen haben, werden wir es gemeinsam betrachten.«
»Dann laßt Ihr am besten eine ganze Wagenladung Süßigkeiten für meine Frau vorbereiten!« Flamel kicherte vor Eifer.
»Dafür wird gesorgt werden«, schwor de Chauliac.
Weitere Herren trafen ein, doch der Hausherr gab sich mit den Vorstellungen keine solche Mühe mehr. Dennoch verhielt er sich höchst charmant und liebenswürdig, während sich das Haus füllte und die allgemeine Fröhlichkeit zunahm. Alejandro wurde unwillkürlich davon angesteckt und fing beinahe an, sich zu amüsieren, als ein schmächtiger junger Mann, eigentlich noch ein Junge, hereinschlüpfte.
Gekleidet in die Livree eines Pagen oder Kammerdieners hielt er ein Pergament in der Hand und sah sich um. Offenbar wollte er es zustellen. Er wirkte gänzlich fehl am Platz, weit mehr als der servile Flamel, und sehr nervös.
Und dann traute Alejandro seinen Augen nicht: Auf dem Umhang des Pagen befand sich das Symbol des Hauses Plantagenet. Gebannt sah er zu, wie der Page die Wachleute in einem Französisch befragte, das eindeutig den Akzent einer anderen Sprache trug: Englisch!
De Chauliac kam herbei und streckte die Hand aus. »Darf ich annehmen, daß diese Nachricht mich betrifft?«
»Wenn Ihr, wie mein Herr sich ausdrückte, der ›berühmte und erlauchte Monsieur le Docteur de Chauliac‹ seid, dann ist sie in der Tat für Euch!«
De Chauliac strahlte. »Und an Eurem Umhang sehe ich, daß Euch der berühmte und erlauchte Prinz Lionel schickt, junger Page.«
Lionel! Der jüngere Bruder von Isabella!
Der Junge ergriff wieder das Wort. »Geoffrey Chaucer, zu Euren Diensten, berühmter und erlauchter Arzt! Ich soll Euch von meinem Prinzen von Herzen und aufrichtig einen schönen guten Abend wünschen.«
Der ältere Halbbruder Kates!
»Darf ich fragen, junger Chaucer, warum Euer Prinz diesen wohlformulierten Gruß nicht selbst überbringt – wozu ich ihn eingeladen hatte?«
»Mein Prinz bittet um Eure Nachsicht, Sir. Er bedauert, heute abend nicht hier sein zu können«, fuhr der Page fort.
Alejandros Schrecken wich allmählich, aber quälend langsam.
»Gestern noch hat er seine Anwesenheit versprochen!« De Chauliac schmollte enttäuscht. »Ich bin bekümmert und gekränkt.«
Der Page ließ sich auf ein Knie nieder und brachte noch einmal die Entschuldigung seines Prinzen vor. »Habt Mitleid mit ihm, Herr! Er liegt an einem Gichtanfall darnieder. Wegen seiner großen Schmerzen hat er gelobt, heute nacht nicht mehr aufzustehen.«
»O je«, sagte de Chauliac streng. »Junger Mann, Ihr müßt mir sagen, wenn seine Pfleger ihn mißhandeln.«
»Zum Glück nicht, Herr«, verneinte der Page. »Ich darf zur Kenntnis bringen, daß der Dauphin sich höchstselbst um Lord Lionels Wohlergehen kümmert. Und um das unsere, die wir keine Mitglieder des Königshauses sind, und uns daher weniger Luxus zusteht. Aber wir alle finden die Unterbringung überaus zufriedenstellend.«
De Chauliac winkte dem Pagen Chaucer, sich zu erheben. Er war eindeutig erfreut, daß Lionel den Pagen angewiesen hatte, ihn so wortreich zu entschuldigen. »Gut«, sagte er. »Darüber bin ich sehr erleichtert. Aber wir Franzosen haben die Kunst, unsere Gefangenen mit Zartgefühl und Zuvorkommenheit zu behandeln, ja auch hoch entwickelt, nicht wahr?« Obwohl de Chauliac den Blick nicht von Lionels Pagen wandte, wußte Alejandro, daß dieser Kommentar niemand anderem als ihm selbst galt.
Chaucer schien nur zu beflissen, ihm beizupflichten. »In der Tat, Herr, die Franzosen behandeln uns … durchweg zuvorkommend.«
De Chauliac lachte. »Der Dauphin hat mich beauftragt, für Prinz Lionels Gesundheit und Lebensfreude zu sorgen, solange er auf unserem Boden weilt. Offenbar habe ich versagt, und es tut mir aufrichtig leid. Oh!« fuhr er mit großer Geste fort. »Welche Schande! Wir können den guten Prinzen nicht zu seinem lieben Vater zurücksenden, wenn seine Gesundheit durch unser üppiges französisches Leben angegriffen ist, nicht wahr? Nein, nein! Dem muß abgeholfen werden.«
»Wenn Ihr ein Heilmittel gegen die Gicht kennt, guter Arzt«, flehte der Page, »dann verratet es mir zum Nutzen meines hohen Herren.«
»Heilmittel? Ach, nein, da gibt es keines, wie ich leider gestehen muß. Aber man kann Vorsichtsmaßnahmen treffen. Ich werde Euren Prinzen sehr bald wieder besuchen und die Ratschläge erneuern, die ich ihm bereits erteilte. Und die er, wie ich eilig hinzufügen möchte, unvorsichtigerweise ignoriert hat, um seinen Vergnügungen nachzugehen. Ihr müßt ihm bestellen, daß ich ihn zwar sehr gern habe, er aber ein ungehorsamer Patient ist; richtet ihm bitte meinen Unmut darüber aus. Und natürlich meine allerherzlichsten Wünsche für eine baldige Genesung von seiner Erkrankung.«
Der junge Mann nickte und sagte: »Die werde ich überbringen, mein Herr, unverzüglich!« Dann verneigte er sich und wandte sich zur Tür.
De Chauliac faßte ihn am Arm. »Aber für den lieben Prinzen ist an der Tafel ein Gedeck aufgelegt, das jetzt nicht benutzt wird. Bei so viel Not in der Welt würde Gott es mißbilligen, wenn es vergeudet wird.« Er musterte den Pagen einen Moment. »Ihr scheint ein freundlicher Mensch zu sein. Beehrt uns doch und nehmt den Platz Eures Herren ein.«
Bei diesem Angebot errötete Chaucer. »Aber er erwartet meine Rückkehr.«
»Dann wird er enttäuscht werden, wie ich es bin, weil meine Tafel seine Anwesenheit entbehren muß«, sagte de Chauliac. »Das scheint mir ein gerechter Ausgleich.«
»Ich verdiene es nicht, den Platz eines Prinzen einzunehmen, Herr! Daran kann kein Zweifel bestehen. Und was ist mit den Wachen, die mich hierher eskortiert haben? Sie haben Anweisung, mich sicher zurückzugeleiten.«
Aber de Chauliac ließ sich nicht beirren. Er legte einen Arm um die Schultern des jungen Mannes und sagte: »Wir werden ihnen gut zu essen geben, während sie warten. Ich werde mich persönlich darum kümmern, daß Lionel sich in dieser Sache nicht zu beklagen hat. Und nun sagt mir noch einmal Euren Namen, denn ich habe ihn schon wieder vergessen.«
»Geoffrey, Herr.«
»Habt Ihr auch einen Zunamen, junger Geoffrey?«
»Ja, Herr. Chaucer.«
»Aha!« erinnerte sich de Chauliac. »Ich habe Euren Namen in Lionels Haushalt gehört. Ihr habt einen Stein im Brett bei Eurem Prinzen, junger Chaucer – er spricht lobend von Euch! Er berichtete mir, daß Ihr ihn oft mit sehr phantasievollen Erzählungen unterhaltet. Auf englisch, sagt er. Ihr müßt in der Tat sehr klug sein.«
Dabei warf er einen vielsagenden, sarkastischen Blick in Alejandros Richtung.
»Sprecht Ihr Englisch, Herr?« fragte der Page aufgeregt.
Alejandro sah rasch zu de Chauliac hinüber, der sich an seinem Unbehagen weidete. Der Franzose machte keine Anstalten, das Thema zu wechseln, und so antwortete Alejandro: »Ein wenig.«
»Dann bin ich doppelt froh über Eure Bekanntschaft«, sprudelte Chaucer heraus und schüttelte Alejandro kräftig die Hand. Er verfiel ins Englische. »Ich habe niemanden, mit dem ich hier reden kann.«
Alejandro mühte sich aufrichtig, und die Worte fielen ihm wieder ein, hart und guttural. »Ein Leid, das ich selbst nur zu gut kenne.«
»Was ist Euch zugestoßen?«
Obwohl der Jude den jungen Mann von Minute zu Minute liebenswerter fand, zögerte er mit der Antwort. »Auf meinen Reisen bin ich ein oder zwei Engländern begegnet«, rückte er schließlich heraus. »Die Sprache hat sich meinen Ohren aufgedrängt, und ich habe etwas davon aufgeschnappt, wenn auch unwillentlich. Das ist eine etwas unerwünschte Begabung von mir.«
»Jeder scheint eine Meinung über unsere Sprache zu hegen. Sagt mir«, bat er, »wie lautet Eure?«
Das war ein gefährliches Terrain, aber würde dieser neugierige Chaucer die Verweigerung einer Antwort nicht verdächtiger finden als seine unwahrscheinlichen Kenntnisse des Englischen? Diese Gefahr bestand. »Ich finde sie schwierig«, sagte Alejandro zögernd, »und verwirrend. Sie ist anders als alle sonstigen Sprachen, die ich gelernt habe. Oft fehlen ihr Worte, um etwas angemessen auszudrücken.«
»Das wird sich mit der Zeit bessern«, stellte Chaucer in Aussicht.
Unwillkürlich mußte Alejandro lächeln. Zu schade, daß er kein Jude ist. Hoffentlich wußten die Mitglieder der englischen Königsfamilie ihn zu schätzen. »Habt Ihr, junger Freund, denn vor, sie ganz allein zu bereichern?«
»Wenn es sein muß«, sagte der junge Chaucer zuversichtlich.
Als alle Anwesenden Platz genommen hatten, waren an dem mächtigen Eichentisch noch zwei Sitze frei; de Chauliac übersah sie geflissentlich und kümmerte sich um die Bequemlichkeit seiner zeitig eingetroffenen Gäste. Alejandro war erfreut, neben dem freundlichen jungen Pagen zu sitzen, aber etwas unglücklich, als er feststellte, daß sich der überaus wißbegierige Nicholas Flamel an seiner anderen Seite befand.
Doch bald waren alle zu abgelenkt, um ihre Tischgenossen zu bemerken; denn die dunkle junge Frau betrat den Speisesaal, dicht gefolgt von den Musikanten, die ihren sinnlichen Auftritt mit schnarrenden, orientalischen Weisen begleiteten. Die Frau wiegte sich zum dunklen Schlag der Trommeln; bei jedem Schritt nach vorn schob sie einladend eine Hüfte vor, die andere zurück, eine Pose, die de Chauliacs Gäste aufreizen sollte, was der Tänzerin mühelos gelang.
Dann stellte sie zu Alejandros Überraschung einen bloßen Fuß auf einen der leeren Holzstühle und schwang sich flink auf die Tischplatte. Ihre Zehen waren mit goldenen und silbernen Ringen geschmückt, und sie trug weite Hosen aus dem dünnsten, durchsichtigsten Stoff, den Alejandro je erblickt hatte. Wie der Schleier einer Jungfrau! Aber dieser Vergleich war sicher unpassend.
»Einmal sah ich eine Frau aus Rumänien für König Edward tanzen«, hatte Adele ihm erzählt. »Sie war über und über mit Gold- und Silberschmuck behängt, der klirrte, wenn sie sich bewegte, und ihre plumpen Brüste waren nur von goldenen Stoffkreisen verhüllt, die eine dünne Schnur im Rücken zusammenhielt.« Adele hatte in der Luft mit den Händen ihre Rundungen beschrieben, und seinerzeit schlug sein Herz schneller. »Dabei«, hatte Adele mit mädchenhaftem Kichern hinzugefügt, »bedeckte diese Tänzerin ihr Gesicht wie eine Nonne! Man konnte förmlich sehen, wie sich die Männlichkeit des Königs unter seiner Tunika aufrichtete.«
»Und wie verhielt sich die Königin?« hatte er gefragt.
»Sie hatte es arrangiert«, erwiderte seine Geliebte errötend. »Es war ein Geschenk zum Geburtstag ihres Gatten. Königliche Damen sind an so exotische Darbietungen gewöhnt. Jeder will der erste sein, der ihnen neue und aufregende Dinge zeigt, also bekommen sie dergleichen häufig zu sehen!«
Weit häufiger als die Juden von Aragon, hatte er damals gedacht.
Chaucer tippte ihm leicht auf den Arm. »Bei Hofe habe ich einmal eine Frau so tanzen sehen, aus Rumänien, glaube ich.« Alejandro fragte sich, ob der junge Mann seine Gedanken gelesen hatte.
Und wie gerufen war die Dame auf einmal vor ihnen, die Knie leicht gebeugt, ihre dünn verhüllte Weiblichkeit weniger als eine Armlänge von ihren Gesichtern entfernt. Sie hob einen Fuß, wobei sie mit dem anderen mühelos das Gleichgewicht hielt, und berührte mit einer Zehe Alejandros Nasenspitze, während ihre Hüften sich in magischem Rhythmus wiegten. Er wurde blutrot, bevor ihr Fuß die Tischplatte wieder berührte. Im Raum wurden Jubel und Applaus laut, und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie de Chauliac boshaft und befriedigt grinste. War diese sinnliche Demoiselle angewiesen, ihn besonders aufzureizen? Er hielt das für wahrscheinlich. Sie lächelte verführerisch, öffnete die Lippen und zeigte ihre rosige Zunge, sehr zum Vergnügen der versammelten Männer, die pfiffen, auf den Tisch schlugen und ihn aufforderten, ihre Herausforderung anzunehmen. Dann bückte sie sich und beugte sich nach vorn, wobei ihre Brüste ihm fast ins Gesicht sprangen.
In einem Akt der Selbstverteidigung packte er den Pagen an seiner Seite und riß ihn hoch, bis das Gesicht des Jungen zwischen dem Busen der Frau verschwand. Ermutigungen, zweideutige Vorschläge und wildes Gelächter wurden laut. Die Musik raste, die Luft wurde heißer, das Stimmengewirr rauschte, und Chaucer hatte schon ein Knie auf dem Tisch, bereit, sich der buhlerischen Aufforderung der Frau zu stellen. Doch da verstummte der Lärm plötzlich. De Chauliac hatte sich erhoben und starrte zur Tür des Speisesaals. Die Augen aller folgten seinem Blick.
Auch die letzten Gäste waren endlich eingetroffen. In der Tür, etwas atemlos von ihrem eiligen Marsch, standen Etienne Marcel und Guillaume Karle.