KAPITEL 9
Den ganzen Morgen lang sah Charles von Navarra von dem höchsten Turm des Château de Coucy aus zu, wie ein stetiger Strom Edelleute durch das schwere Tor in den Burghof drang. Alle beflügelte die Hoffnung, ein Bündnis mit ihm zu schließen, denn das Chaos in Frankreich hatte verheerende Ausmaße angenommen und mußte eingedämmt werden. Und obwohl die Ritter, die jetzt seine Führung suchten, es geschafft hatten, den Aufstand der Bauern niederzuschlagen, die sich in Meaux gegen sie erhoben hatten, wußte der kleine König, daß der günstige Ausgang dieses Scharmützels keineswegs von Anfang an sicher gewesen war. Wenn die Aufständischen eine größere Zahl zusammengebracht und einen ausgebildeten Anführer gehabt hätten, sähe die Lage jetzt anders aus. Die rebellische Jacquerie war dem Sieg zu nahe gekommen, als daß irgendein französischer Edelmann noch ruhig schlafen konnte, und all die, die ihre Haut gerettet hatten, waren sich jetzt darin einig, daß die endgültige Entscheidung schnell und entschlossen herbeigeführt werden mußte, wenn sie ihr Recht auf Herrschaft und Steuern behalten wollten.
Der Tag war klar und blau, und es wehte ein leichter Wind. Die Sonne schien so hell, daß Charles seine Augen beschatten mußte. Als er über den eindrucksvollen und günstig gelegenen Besitz seines Gastgebers schaute, stieg Neid in ihm empor. Denn angesichts dieser fruchtbaren Landschaft brauchte man sich nicht zu fragen, wie der mutige und außerdem noch verflixt gutaussehende Baron de Coucy zu solchem Reichtum gelangt war. Aber auf welche Weise konnten les pauvres misérables, die Coucys Ländereien bestellten, in ihrer unbeschreiblichen Not und Armut noch weiter besteuert werden? Selbst Charles der Böse, der am meisten verachtete Despot im ganzen Land, begriff, daß man einem Stein kein Blut entlocken konnte.
Und doch hatten er und seinesgleichen versucht, es aus ihnen herauszupressen. Er konnte den Unterprivilegierten eigentlich keinen Vorwurf machen, daß sie sich erhoben – auch den Bürgern nicht, die sie unterstützten; genausowenig verübelte er einigen Mitgliedern seiner eigenen Klasse ihren offensichtlichen Unwillen, sie niederzuwerfen. Rebellion war in solchen Notzeiten durchaus üblich.
Gleichwohl durfte man sie nicht dulden, jetzt nicht und niemals. Charles hielt es für seine heilige Pflicht, die Macht zu ergreifen, jeglichen Aufruhr zu unterdrücken und jene französischen Adeligen zu einen, die das Chaos unter seiner Tyrannei überlebt hatten. Es war ein Recht, vielleicht sogar eine Verpflichtung, die direkt von Gott kam und sein Großvater, jener erste Ludwig persönlich, an ihn weitergegeben hatte. Charles hieß die Herausforderung willkommen, denn das unbedeutende Königreich Navarra genügte seinem Ehrgeiz nicht; auch war seine Lage am Fuß der Pyrenäen viel zu weit von den Zentren der Macht und des Reichtums entfernt, um ihm zu gefallen.
Der Dauphin sei verdammt, dachte er, während der Aufmarsch der Adeligen weiterging, und sein jämmerlicher Vater Valois möge als Gefangener am Hofe des Idioten Edward fett und blöde werden! Möge Johann von Valois dessen feuchte, elende Insel niemals verlassen!
Guillaume Karle starrte auf das, was er vor sich sah. »Nein!« schrie er, während er aus dem Sattel sprang. »Nicht schon wieder!«
Kate blieb auf ihrem Reittier sitzen und umklammerte mit weißen Knöcheln die Zügel. Sie kniff die Augen fest zu und begann ein verzweifeltes Gebet. »Gegrüßest seist Du, Maria, voll der Gnaden, der Herr ist mit Dir …«
Karles wütende Stimme übertönte ihr leises Murmeln. »Dieser verfluchte Bastard!« schrie er. »Er will uns alle abschlachten!« Seine geballte Faust ragte in die Luft. »Selbst Satan könnte sich keine grausamere Tortur ausdenken!«
»… und mit uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes«, schloß Kate ihr Gebet. Sie bekreuzigte sich mit zitternder Hand und wischte sich eine Träne von der Wange. Dann flüsterte sie: »Amen.«
Vor ihnen hing die Leiche eines mageren Bauern, aufrecht an einen Baum gebunden, die Hände hinter dem Stamm gefesselt, die Füße unten an den Stamm gekettet. Der Kopf, wie durch ein Wunder noch auf dem Körper, hing seitlich auf der Schulter, die weit aufgerissenen Augen, die nichts mehr sahen, starrten leeren Blicks auf die eigenen Eingeweide, die man ihm aus dem Leib gerissen und mindestens drei Schritte weit verteilt hatte. Sie lagen auf der Erde ausgebreitet, und da, wo ein hungriges Tier sie angefressen hatte, war eine Blutlache übriggeblieben.
»Ein Wolf ist schon hier gewesen«, sagte Karle steif, als er sich dem grausigen Fund näherte. »Sie werden jeden Tag frecher, weil die Menschen vom Hunger geschwächt sind. Und sie sind schlau genug, das zu wittern.«
Oder war in der Nacht ein Fuchs oder ein Wiesel gekommen, um sich an dieser verlorenen Seele gütlich zu tun? Kate fragte sich unwillkürlich, wie lange dieser Mann hatte zusehen müssen, wie die Tiere des Waldes sich mit glühenden Augen um seine glänzenden Eingeweide stritten, ehe er das Bewußtsein verlor.
Endlich fand sie den Mut, vom Pferd zu steigen. Guillaume Karle hatte sich gerade von dem grauenhaften Anblick abgewandt und würgte.
»Das ist das Werk Navarras«, polterte er, während er sich den Mund abwischte. »Aber wie kann er überall zugleich sein?«
»Dies hier hat vielleicht einer seiner Anhänger auf dem Gewissen.«
»Dann gibt er seine grausamsten Einfälle an sie weiter!«
Ein weiteres unheimliches Opfer von Navarras Rachefeldzug hatten sie eine Stunde zuvor gesehen, an eine verrottende Regentonne gelehnt, den abgetrennten Kopf sauber im Schoß. Am Vortag hatten sie drei weitere Wehrlose begraben, einer gekreuzigt, einer geröstet, einer mit ausgestochenen Augen und herausgerissener Zunge. Jedes neue Grab, das sie mit ihren jämmerlichen Stöcken und Steinen aushoben, war flacher als das vom Vortag, und ihnen wurde klar, daß die Fortsetzung ihrer Reise womöglich nur aus weiteren mühsamen Begräbnissen bestehen würde. Zusammen lösten sie den Mann vom Baum und legten ihn sanft auf die Erde. Mit der Spitze seines Stiefels schob Karle die Eingeweide wieder zusammen, bis sie auf dem Bauch des Bauern lagen.
»Warum in Gottes Namen müssen sie die armen Menschen so grausam quälen?« fragte Kate sich laut. »Warum töten sie sie nicht einfach und geben sich damit zufrieden?«
»Das ist eine Frage, die vielleicht sogar der Schöpfer nicht beantworten kann«, grollte Karle. »Navarra hat aus seinen Rittern eine Horde von Schlächtern gemacht.« Erschöpft sah er Kate an.
»Sollen wir auch diesen begraben?«
»Habt Ihr noch Kraft? Ich ganz gewiß nicht mehr.«
»Aber wir können ihn nicht einfach liegen lassen!«
»Wenn wir jeden verstümmelten Leichnam begraben, dem wir begegnen, werden wir Paris nie erreichen!« Kate wankte vor Müdigkeit.
Er wußte, daß sie recht hatte. Ergeben setzte er sich auf einen abgefallenen Ast. »Wie sollen wir das überstehen? Es scheint so hoffnungslos.«
Sie schwieg einen Moment und setzte sich dann neben ihn. »Ihr müßt dieses Feuer mit Eurem eigenen Feuer bekämpfen«, entgegnete sie dann.
Karle warf ihr einen düsteren Blick zu. »Ich verstehe nicht. Wir sind kleine Kerzen – mit einem Lufthauch auszublasen. Navarra ist eine flammende Fackel und schwer zu löschen.«
Zögernd streckte sie eine Hand aus und legte sie auf seine Schulter in der Hoffnung, ihn zu trösten. »Das verstehe ich. Aber es bietet sich an, ihn mit seinen eigenen Methoden zu bekämpfen. Der beste Weg, einen Angriff zu beantworten, ist ein ebensolcher Angriff.« Sie dachte einen Augenblick nach und fügte hinzu: »Ich werde Euch etwas sagen, das ich von Père weiß.«
Karle stöhnte. »Jetzt ist kaum der richtige Zeitpunkt für eine weitere von euren ›Père-Geschichten‹!«
»Hört diese erst an, bevor Ihr sie als nutzlos abtut. Erinnert Ihr Euch, daß er mich von der Pest geheilt hat?«
»Jaja! Ich weiß noch immer nicht, ob ich das glauben soll.«
Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Ihr tätet gut daran, es nicht zu bezweifeln. Man kann eine große Lehre daraus ziehen, eine Lehre, die Euch dient, wenn Ihr klug genug seid, sie zu begreifen. Seht Ihr, er hat mir erzählt, daß er den Staub der Toten benutzt hat, um mich zu heilen – das getrocknete und pulverisierte Fleisch derer, die vor mir an derselben Krankheit gestorben waren. Deswegen habe ich die Hand dieses an der Pest eingegangenen Kindes an mich genommen, um das Fleisch zu trocknen! Es ist ein Geheimnis, das ihm eine sehr tüchtige Hebamme namens Sarah verriet, dieselbe, die meine Mutter von mir entbunden hat.«
Karle stieß einen langen, enttäuschten Seufzer aus und begrub das Gesicht in den Händen. »Natürlich meint Ihr, diese Hebammengeschichten wären für meine Lage von Bedeutung, aber ich verstehe trotzdem nicht …«
Sie unterbrach seinen Protest. »Denkt doch nach, Karle! Bedenkt die Logik darin. Was könnte klüger sein, als die Pest mit der Pest zu bekämpfen? Genauso müßt Ihr gegen diesen Navarra vorgehen.«
»Sollen wir ihn mit Krankheiten anstecken?« fragte er sarkastisch.
»Das ist keine so dumme Vorstellung, wie Ihr vielleicht annehmt. Aber das habe ich nicht gemeint.« Ihre Augen funkelten vor Erregung und Entschlossenheit. »Ihr müßt für ihn dieselbe Plage werden, wie er für Euch! Er ist geschult, hat Waffen und führt seine Streitkräfte militärisch straff. Ihr müßt das genauso machen.«
»Unmöglich können wir es ihm gleichtun!«
»Aber Ihr könnt ihm auf eine ähnliche Art begegnen, soweit das möglich ist – statt wie die Ratten vor einem Rudel Hunde davonzuspritzen.«
Lange dachte er schweigend über das nach, was sie gesagt hatte. In der Stille konnte sie das Summen der Fliegen hören, die den Leichnam des Bauern umschwirrten und auf ihm ihre Eier in die nasse Wunde legten. Eine nahe Krähe krächzte ihren entfernten Brüdern eine Einladung für das wartende Festmahl zu.
»Vereinigt Eure Anhänger«, drängte sie ihn. »Laßt sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zusammenkommen und befehlt ihnen, alles mitzubringen, das man als Waffe benutzen kann. Findet irgend etwas, das einer Fahne ähnelt, und haltet es vor ihrer Versammlung hoch! Dann werden sie sich als Soldaten fühlen – und fangen an, sich wie Soldaten zu verhalten!«
Das war etwas, woran er noch nie gedacht hatte. Sie waren Jacques, keine Soldaten, »Die Männer sind einfache Bauern und wissen nichts von solchen Dingen.«
»Dann unterrichtet sie!« fiel Kate ihm ins Wort. »Sogar Bauern können lernen, Soldaten zu sein, wenn man sie richtig unterweist.«
»Aber wer – und wie?«
»Unterschätzt Euch nicht, Karle. Oder die Männer, die Euch folgen würden. Euer Feind wird solches Handeln nicht von Euch erwarten. Das verschafft Euch einen Überraschungsvorteil.«
Selbst in Meaux waren sie, obwohl so viele an der Zahl, ihrer eigenen Unordnung erlegen. Dabei war der Sieg zum Greifen nahe! Hätten sie ihn errungen, wenn sie marschiert wären wie eine richtige Armee, in Reihen, mit Führern und einer Kriegsstrategie?
Zu seiner Verwunderung dachte Karle: Es wäre möglich gewesen. Es war in der Tat einfach und nur zu offenkundig. Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Die Zahl der Toten nach diesem Mißerfolg … und noch mehr waren bei dem grausamen Rachefeldzug umgekommen, der auf dem Fuße folgte. Könnten sie vielleicht noch leben?
»Ihr mögt recht haben«, räumte er in stiller Erregung ein. Er musterte ihr junges Gesicht, suchte nach der Quelle ihres umfassenden Wissens. »Wie kommt es, daß Ihr diese Dinge über den Krieg wißt, obwohl Ihr noch ein so junges Mädchen seid?«
Ihr Gesicht nahm den Ausdruck trauriger Ironie an. »Als ich noch ein kleines Mädchen war, sprachen die Männer, die in unserem Haus verkehrten, kaum von etwas anderem als Krieg. Meistens beachteten sie meine Fragen nicht, denn sie waren ihnen lästig, und die Dinge, die ich zu sagen hatte, interessierten sie nicht. Also hatte ich selten eine andere Wahl als zuzuhören, wenn sie redeten. Und alles drehte sich stets um Krieg, Waffen, Strategien, Soldatenhandwerk. Vielleicht ist ein bißchen von ihren Kenntnissen auf mich übergegangen.«
»Das scheint so. Und durch Euch werden sie nun auf mich übergehen …« Aufgewühlt rieb er sich die Hände. »Und jetzt werde ich meine neuerrungene Weisheit benutzen, um sogleich Kurs zu nehmen auf Paris, wie es Euer Wunsch ist«, erhob er seine Stimme.
»Dort gibt es Männer, die mir helfen werden, eine solche Strategie zu entwickeln.«
Kate unternahm keinen Versuch, ihre Freude zu verbergen.
»Endlich!« Sie klatschte in die Hände.
»Das ist das Vernünftigste, was ich tun kann. Ihr habt mich überzeugt, daß ich allein nichts mehr erreichen kann. Ich muß Etienne Marcel um Rat und Hilfe bitten.«
»Wen?«
Verblüfft starrte er sie an. »Marcel! Wie kann ein so gebildetes Mädchen wie Ihr den Namen des Bürgermeisters von Paris nicht kennen?«
Erheitert zuckte sie die Schultern. »Père verabscheut die Politik. Er sprach nicht von solchen Dingen, während ich ›im Wandschrank eingesperrt war‹.«
»Dann werde ich Euch unterwegs davon erzählen. Ihr dürft nicht unwissend bleiben.«
Er verschränkte die Hände und bot sie ihr dar; bereitwillig stellte sie ihren Fuß hinein. So half er ihr beim Aufsitzen. Dann bestieg er sein eigenes Pferd. »Und wenn wir Euren père in Paris treffen, muß ich ihm unbedingt sagen, daß er Euch gestatten soll, mehr von der Welt zu sehen.«
Sie wandte sich noch einmal nach dem Toten um. »Ich glaube, ich habe mehr davon gesehen, als mir lieb ist.«
Alejandro ging in westlicher Richtung durch die Rue des Rosiers zur Rue du Vieux Temple. Im Vorbeigehen hielt er an jeder Tür nach Spuren der willkommen heißenden Mesusahs Ausschau, die einst dort gehangen hatten. Alle waren entfernt worden. Er sah nur noch schwache Umrisse davon, denn die Ränder waren abgewaschen oder das Holz gekalkt worden – wenn sich jemand einen solchen Luxus leisten konnte. Er fragte sich, was sich die jüdischen Hausfrauen von Paris gedacht hatten, als sie sich bemühten, die Zeichen zu entfernen, die den betreffenden Hausbewohnern zum Verhängnis geworden waren. Hatten sie alle gleichzeitig auf den Straßen ihr Schicksal gemeinsam beklagt? Oder hatten sie sich einzeln und verstohlen an die Arbeit gemacht? Nun, es spielte keine Rolle mehr; die Symbole waren verschwunden. Kein Jude in Paris wollte als solcher erkannt werden, denn das brachte nur Not und Elend.
Aber vage Hinweise gab es noch, wenn man wußte, wohin man schauen mußte. Er hatte diesen Stadtteil von Paris vor vielen Jahren durch diskrete Erkundigungen gefunden, nachdem er und Kate vor den Verbrennungen in Straßburg geflohen waren; Alejandro vertraute darauf, daß er sich im Notfall unter den Menschen verbergen konnte, die dort lebten, zumindest für eine Weile. Hin und wieder roch, hörte oder spürte er etwas, das ihn an die Vergangenheit erinnerte. Sein Herz schmerzte ihn manchmal vor Einsamkeit, wenn er solchen Bildern von früher begegnete – aber er suchte trotzdem danach.
Er bog in südlicher Richtung in die Straße des alten Tempels ein und ging dann am Fluß entlang wieder nach Westen; wieder einmal staunte er über den auffallenden Unterschied zwischen der relativen Sauberkeit der Seine und dem beklagenswerten Schmutz der Themse. Sein erster Eindruck von diesem Fluß, als er nach London gekommen war, stieg vor seinem inneren Auge auf: Leichen schwammen in dem verseuchten Wasser, deren Gestank sich zu den Planken der hohen Brücke erhob. Ruderer hielten sich Tücher vor Mund und Nase. Und die Engländer gingen bei all dem ihren Geschäften nach, als lebten sie nicht an den Ufern einer Jauchegrube. In Paris konnte man die Seine auf vielen Brücken überqueren, ohne würgen zu müssen; die Bürger von Paris hätten einen solchen Mißbrauch ihres schönen Flusses nicht geduldet.
Trotzdem würde nur ein Verzweifelter sein Wasser trinken, dachte er.
Auf der Brücke verkehrten fast nur Fußgänger, denn Pferde waren maßlos kostbar geworden. Er hatte eine stattliche Summe bezahlt, um sein eigenes Pferd in einem Stall am Nordrand der Stadt unterzubringen, und dem Knecht noch mehr versprochen, wenn er zurückkam – mehr, als dieser durch den Verkauf des Pferdes herausschlüge. Der Adel hielt sich ängstlich zurück oder war ganz aus der Stadt geflohen, und man sah nur wenige Kutschen. Gelegentlich begegnete er einem von einem Maultier gezogenen Karren, aber sonst waren ausschließlich Fußgänger unterwegs.
Als er die Insel erreicht hatte, blieb er stehen und starrte zur Kathedrale Notre Dame de Paris empor. Für einen Moment ließ er sich von der geballten christlichen Macht dieses gewaltigen Bauwerks beeindrucken, denn es war von großer Schönheit; er fand sich hin und her gerissen zwischen der Bewunderung seiner Pracht und dem Wissen um das, wofür dieses Wahrzeichen stand. Sicherlich mußte es inzwischen vollendet sein; die päpstlichen Wachen, die ihn vor einem Jahrzehnt auf seinem Ritt durch Frankreich begleitet hatten, hatten davon gesprochen und die Tatsache beklagt, daß sie keine Gelegenheit haben würden, es aufzusuchen. Doch er erinnerte sich noch genau, wie sie es ihm beschrieben hatten, ein Turm fertig, der andere noch im Bau. Er schaute prüfend hinauf und verglich die beiden Türme. Sie waren weitgehend gleich. Kurz fragte er sich, wie man nach den Pestjahren, die die Bevölkerung furchtbar dezimiert hatten, noch tüchtige Bauleute fand. Höchstwahrscheinlich hat man sie zur Arbeit gezwungen, oh sie wollten oder nichts, dachte er. Christliche Priester hatten Mittel, ihre Gläubigen zum Werk Gottes zu überreden, das wußte er. Viele Mittel.
Und hier würde er mit ziemlicher Sicherheit Priester finden. Während es an anderen Kirchen keine Seelenhirten mehr gab, würde dieses Kronjuwel Frankreichs von ihnen überlaufen sein. Er beneidete die Pfarrkinder nicht.
Er überquerte den weiten, offenen Platz, umging die allgegenwärtigen Tauben und fragte sich kurz, wieso man sie noch nicht gefangen und gegessen hatte. Durch die weichen Sohlen seiner Lederstiefel spürte er jeden Kopfstein, und aus der Nähe ragte die Kathedrale immer höher auf. Ihn fröstelte, als er in ihren Schatten trat, und er fühlte sich bedrückt, als streckte der christliche Gott seine Hände vom Himmel herab und lasse sie auf seine Schultern fallen. Auf einmal waren die Steine unter seinen Füßen kalt, und er blieb stehen.
Der erhabene Gleichklang singender Stimmen drang aus der offenen Tür der Kathedrale. Alejandro stand still und lauschte. Trotz seines Mißtrauens gegen das Christentum ließ er die fesselnden, harmonischen Töne in seine Seele dringen. Warum war ihre Musik so verdammenswert schön, während alles andere nur verdammenswert war? Seine geliebte Adele hatte oft unter ihrem Bann ihre Sünden gebeichtet, und einmal, als er auf sie gewartet hatte, hatte selbst er die hypnotisierende Wirkung der sehnsüchtigen Klänge verspürt.
Aber jetzt wartete er nicht auf ein reuiges Beichtkind, und er würde es nicht zulassen, daß die Musik ihn gefangennahm; denn sein Geist konnte sich diesen sinnlichen Luxus im Moment nicht erlauben. Es galt, die Bedeutung eines Wortes aufzuklären.
»Maranatha«, sagte er vorsichtig zu dem ersten Priester, der ihm begegnete. »Was bedeutet das?«
Doch der Priester, eine abgerissenere Erscheinung, als er in dieser Kathedrale erwartet hätte, starrte Alejandro nur an und ging weiter. Der nächste lächelte wenigstens. »Gott wird es wissen, mein Sohn, aber ich ganz sicher nicht.« Alejandro war dankbar für die Freundlichkeit des Mannes, aber enttäuscht über seinen Mangel an Wissen. Der dritte schüttelte einfach den Kopf und zuckte mit den Schultern. Der Arzt war um nichts klüger als vor den kurzen Begegnungen.
Also muß ich mich doch zur Universität begeben, dachte er mit leiser Enttäuschung; obwohl ihn die Vorstellung erregte, hatte er gehofft, es würde sich erübrigen – denn nun bliebe er der Rue des Rosiers länger fern, als ihm lieb war. Er schaute zur Sonne empor; sie stand noch hoch genug, um einen kurzen Gang über die Seine zu gestatten. Daher trat er aus den Schatten von Notre Dame und überquerte die Brücke zur rive gauche.
Es erstaunte ihn, daß in solchen Zeiten noch studiert wurde, aber ringsumher gab es unverkennbare Anzeichen dafür. Gewiß waren es weniger als in Friedenszeiten, doch er sah viele junge Männer in den schlichten Gewändern frischgebackener Studenten. Und einige trugen sogar Bücher bei sich! Er hatte von Büchern namens incunabula flüstern hören, mit Seiten, die aus zerkleinertem Holz hergestellt waren, beschrieben mit Fett und Ruß und dann gebunden – doch solche Wunder, hatte er gedacht, existierten nur im Orient. Konnte es das sein, was diese jungen Männer trugen? Wie wundervoll, wenn es wahr wäre! Sie saßen an kleinen Tischen und lehnten an Mauern, tranken den billigsten Wein, den die Schenken austeilten, und tauschten mit der eifrigen Gewißheit der Jugend Meinungen aus, obwohl ihm rätselhaft war, wie die Jugend sogar von Pestilenz, Krieg und Hungersnot unberührt bleiben konnte. Dann erinnerte er sich an die rauschhafte Zeit seiner eigenen Studententage, und alles wurde ihm klar. Damals hatte er sich unsterblich gefühlt, unerschütterlich. Er hatte keinen Deut davon gespürt, was vor ihm lag.
Jetzt kam er an einer schönen Villa vorbei, so auffallend inmitten all der kleinen, alten Häuser ringsum, daß er einen Moment stehenblieb, um sie zu bewundern. Die soliden Steinmauern zogen ihn an, und fasziniert musterte er die Details der Ausstattung des eleganten Gebäudes. In allen Fenstern befand sich Glas. Auf diese Weise konnten die Bewohner die Segnungen des Lichts ohne die Plage des Windes genießen.
Nachdem er das neue Gebäude eingehend betrachtet hatte, ging er in Richtung Place de la Sorbonne. Bald war er vom süßen Klang von Latein umgeben; denn in dieser alten und ewigen Sprache verständigten sich die Gelehrten Europas, die sich in Paris versammelten, miteinander. Von allen Idiomen, die er beherrschte, war ihm Latein bei weitem das liebste – denn es floß ihm weich wie ein Kuß von der Zunge und war den Ohren des Zuhörers angenehm. Nur wegen seines flüssigen Lateins war es ihm gelungen, die schwierige und mühselige Sprache des englischen Volkes zu erlernen, die sich so freimütig Worte ausborgte. Wieso dieses Englisch stets beliebter wurde, begriff er nicht; alle waren sich darin einig, daß es sich zu höfischem Gebrauch schlecht eignete. Es war einfach zu häßlich. Kate sprach es recht gut, aber Reste davon färbten ihr Französisch, und er hatte sie oft ermahnt, ihre Ohren besser zu spitzen.
Ob die englische Sprache wohl ein Wort oder einen Ausdruck besaß, der dasselbe bedeutete wie das geheimnisvolle Maranatha? Vermutlich nicht. Der Mangel an Tiefe wird schließlich ihr Untergang sein, dachte er. Aber im Lateinischen wird es sicherlich eine Entsprechung geben.
Er kam an einer Gruppe Gelehrter in Talaren vorbei, verlangsamte seine Schritte und wandte sich nach ihnen um. Einige drehten ihm den Rücken zu. Nicht weit entfernt standen zwei Soldaten, die beide gelangweilt und fehl am Platze wirkten. Alejandro hielt es für wahrscheinlich, daß keiner von ihnen verstand, was die nahen Gelehrten sprachen. Und es würde sie auch nicht interessieren.
Warum also nicht einfach fragen? Es bestünde keine Gefahr, wenn er sie auf lateinisch ansprach. Sie dächten bestimmt, er sei einer von ihnen, wenn auch ärmlich gekleidet, vielleicht ein reisender Magister. Dann könnte er in die Rue des Rosiers zurückkehren, das Geheimnis wäre aufgeklärt, und in der vertrauten Sicherheit würde er weiter auf Kate warten.
Also näherte er sich der Gruppe. Er entschuldigte sich für die Störung, falls diese unwillkommen sei, und wünschte ihnen allen gute Gesundheit. Und obwohl er höflich aufgenommen wurde, spürte er die bohrenden Blicke dieser Männer. Ihre Neugier fühlte sich an wie die Spitze eines scharfen Messers, die an seinen intimsten Stellen stocherte. Aber nun bin ich einmal hier, nahm er allen Mut zusammen, und werde auch fragen.
»Maranatha«, sagte er. Er artikulierte jede der fremden Silben sorgfältig. Und dann fügte er auf lateinisch hinzu: »Ich habe dieses Wort in einer Handschrift gefunden und weiß nicht, was es bedeutet. Es war meine Hoffnung, daß vielleicht einer von Euch mich darüber aufklären könnte.«
Zu seiner Überraschung erfolgte die Antwort auf französisch, und noch ehe er das Gesicht des Sprechers sah, erkannte er die Stimme.
»Il veut dire ›Venez, mon Dieú‹«, sagte Guy de Chauliac. »Also etwa: ›Komm, o Gott.‹ Es ist Aramäisch. Ich mußte mir während meiner Studien einiges davon aneignen. Und ich darf sagen, bienvenue à Paris, Kollege. Unsere letzte Begegnung liegt viel zu lange zurück!«
Guy de Chauliac brauchte nur mit den Fingern zu schnippen und in Alejandros Richtung zu nicken, da waren die beiden gelangweilten Soldaten, offenbar die persönlichen Wachen des französischen Adeligen, schon über ihm. Sie packten ihn von hinten, und obwohl er sich kräftig wehrte, war er den zwei starken Männern nicht gewachsen und schnell überwältigt. Dennoch kämpfte er wie ein Tier, worauf der elegante de Chauliac mit einem angewiderten Blick und einer abfälligen Handbewegung reagierte. Das führte dazu, daß der Jude einen mächtigen Schlag auf den Hinterkopf erhielt, auf Hände und Knie niederfiel und die kostbare Tasche mit seinen Besitztümern ihm entglitt. Rasch griff er danach und versuchte, zwischen den Beinen seiner Häscher hindurchzukriechen, aber er wurde am Rücken seines Hemdes gepackt und erneut niedergeschlagen.
Dann schleiften ihn die beiden rohen Gallier durch die Straßen, während der fürstliche de Chauliac voranging und in seinen kräftigen Armen alles trug, was Alejandro auf der Welt besaß. Als man ihn wie einen gewöhnlichen Verbrecher durch Pferdemist und über das grobe Kopfsteinpflaster zerrte, teilte sich die Menge, um ihnen Platz zu machen – die Leute von Paris starrten auf ihn herab. Kein Wunder: Er schrie gellend wie ein Verrückter, war blutig von den Schlägen und mit dem verhaßten Kot beschmiert, also kein angenehmer Anblick. Doch seine Wut überstieg noch seine Scham.
De Chauliac sah vom oberen Ende einer Treppe aus hochnäsig zu, wie Alejandro von seiner rüpelhaften Eskorte deren ganze Länge hinunter in einen feuchten Keller geworfen wurde, wo er auf dem eisigen Boden liegenblieb. Er rang nach Luft und lag da, benommen von dem Sturz und seinem plötzlichen Unglück.
Nach und nach kam er wieder zu Atem und stützte sich auf die Ellbogen, um sich umzuschauen. Er konnte nur verschwommen sehen, und sein Kopf schmerzte von dem Schlag, aber nach und nach klärte sich sein Blick. Er war dankbar für die Lichtstrahlen, die durch eine schmale Öffnung in der Decke fielen: Die Gefangenschaft, nach der seine Abreise aus Spanien vor zehn Jahren begonnen hatte, war entsetzlich dunkel gewesen. Sein Blick fiel auf ein langes steinernes Rechteck, das mit einem einfachen Kreuz auf dem Deckel bestückt war. Ein Grabgewölbe. Ich bin also in einer Krypta. Nachdem er sich still bei demjenigen entschuldigt hatte, der darin ruhen mochte, packte er eine Kante des Sargs und versuchte aufzustehen; aber zu seiner großen Bestürzung stellte er fest, daß ihm der linke Fuß wegknickte. Vor Schmerz zuckte er zusammen und taumelte. Dann untersuchte er das protestierende Gelenk mit den Händen. Er drückte mit den Fingern daran herum und kam mit großer Erleichterung zu dem Schluß, daß es nicht gebrochen war. Aber es begann anzuschwellen, und Alejandro wußte, daß es gewickelt werden mußte.
Daher zog er sein Hemd aus und wollte gerade einen Ärmel abreißen, um ihn als Bandage zu verwenden, als sich eine Tür am oberen Ende der Treppe öffnete. Er blickte auf und sah die Umrisse seiner Häscher auf die Treppe herunter und auf ihn zukommen. Hastig zog er sein Hemd wieder an, und gleich darauf wurde er an beiden Ellbogen gepackt und auf die Füße gerissen.
Er hinkte jämmerlich, als er durch das Grabgewölbe und eine andere Stiege hinauf geführt wurde. Als er wieder ans Tageslicht kam, fand er sich im Hof des Gebäudes wieder, das er noch vor so kurzer Zeit bewundert hatte. Während er über die Steine geschleift wurde, fragte er sich, warum er kein Prickeln im Rücken verspürt hatte, als er vorhin an diesem Haus vorbeigekommen war – nachdem er nun wußte, wem es gehörte.
Der adelige Hausherr erwartete ihn in einem großen, holzgetäfelten Raum, der schön möbliert und mit reichverzierten Wandbehängen geschmückt war. Alejandro wurde unsanft auf einen feingewebten Teppich vor den aristokratischen Arzt gestoßen. Dieser saß in einem Sessel mit hoher Rückenlehne und starrte ihn mit unverhüllter Bosheit an; sein Blick verlangte wortlos Erklärungen für die letzten zehn Jahre.
Er wird nicht glauben, was ich durchgemacht habe, sondern mich für wahnsinnig halten.
Also schwieg Alejandro; doch er schaute sich um und sah zu seinem Erstaunen ringsherum an den Wänden Bücher. Während er so dastand und an Würde sammelte, was ihm geblieben war, blickte er über die Regale hinweg und versuchte, die Anzahl zu schätzen. Es mußten Hunderte von Folianten sein; und obwohl er wilde Gerüchte über eine Bibliothek in Córdoba mit mehr Büchern gehört hatte, als ein Mann in einer Woche zählen konnte, hatte er seit seiner Zeit als Student an der Universität von Montpellier nicht mehr so viele Bände versammelt gesehen wie hier. König Edwards Bibliothek in Windsor Castle war nicht halb so groß.
»Offenbar fesselt Euch der Inhalt meiner Bücherschränke, Meister«, bemerkte de Chauliac. »Das überrascht mich nicht. Es gibt hier viele schöne Bände. Ich habe sie mit großer Sorgfalt gesammelt.«
Alejandro starrte ihn bloß an. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er sagen sollte. Daher verzog er die Mundwinkel und erwiderte: »Seid gegrüßt, Monsieur de – ah, Pardon! Ich meine, Doktor de Chauliac … es ist in der Tat sehr lange her. Wir sind beide älter geworden – aber ich muß zugeben, daß Ihr anmutig gealtert seid, und Ihr scheint Euch bester Gesundheit zu erfreuen!«
»Merci, Doktor Canches! Ich erinnere mich von Euren kurzen Besuchen bei mir, daß Ihr über eine gute Beobachtungsgabe verfügt.« Natürlich hatte de Chauliac seinen wahren Namen herausgefunden. Spanische Soldaten dürften ihn ihm genannt haben, als sie ihn in Avignon ergreifen wollten, er aber schon fort war.
»Und was ist mit Eurem Herrn, Seiner Heiligkeit Papst Clemens? Wie befindet er sich?«
Sehr freundlich, daß Ihr fragt, aber Ihr müßt in einer Höhle gelebt haben, erwartete er als Antwort von de Chauliac. Statt dessen teilte der Franzose ihm mit: »Ich bedaure, Euch sagen zu müssen, daß Seine Heiligkeit vom Blitz getroffen wurde, nachdem er Euch nach England geschickt hatte. Ich habe alles versucht, konnte ihn aber nicht retten. Sein Blut hat von der Gewalt dieses Blitzes gekocht. Es war, sagen wir, ein unglückseliges und ziemlich unappetitliches – Ereignis.«
Was für eine unglaubliche Ironie, dachte Alejandro. »So eine Tragödie – vor allem, nachdem Ihr seine Gesundheit immer so aufopfernd geschützt hattet!«
Doch während er in der Bibliothek dieses Mannes stand, umgeben von dessen eindrucksvoller Weisheitssammlung, empfand Alejandro unwillkürlich eine gewisse Bewunderung für den ehemaligen Arzt des Papstes. Obwohl ihm de Chauliac und der jetzt verstorbene Clemens übel mitgespielt hatten, indem sie ihn diktatorisch nach England schickten, hatte er in der kurzen Zeit seines Studiums bei diesem Lehrer viel gelernt.
Ihr müßt all Eure Kunstfertigkeit aufwenden, um die Ansteckung zu meiden, hatte de Chauliac ihn beschworen, als er ihn auf die Reise vorbereitete; denn ich glaube, daß sie durch die Luft von einem Opfer auf das andere überspringt, ohne daß wir jemals sehen, auf welche Weise! Gott hat gewollt, daß dieser Vorgang einstweilen nur Ihm selbst sichtbar ist. Wir können es nicht durchschauen. Aber es ist da, so sicher, wie die Schöpfung sieben Tage gedauert hat. Es ist da, und eines Tages, so Gott will, werden wir in der Lage sein, dieses Phänomen zu erkennen.
Alejandro wußte, daß sich im Wasser winzige Tiere befanden, und de Chauliac hatte angedeutet, daß es auch in der Luft welche gab.
»Es waren die Ratten«, platzte der Jude laut heraus.
De Chauliac zog eine Augenbraue hoch und beugte sich auf seinem Sessel vor. »Pardon?«
»Ratten«, wiederholte Alejandro.
De Chauliacs harte blaue Augen eilten rasch in die Ecken des Raumes. »Ich versichere Euch, hier gibt es keine Ratten. In der Küche vielleicht, aber die ist weit entfernt, im Keller.« Seine Stimme nahm einen leicht gekränkten Ton an, die seinen Zuhörer überraschte. »Ich hatte gedacht, Ihr würdet von meiner Sammlung stärker beeindruckt sein.«
»Nein!« sagte Alejandro. »Ich meine – ja! Eure Bibliothek ist …«, zögernd suchte er nach dem richtigen Wort.
»Prachtvoll! Ich habe dergleichen seit ewiger Zeit nicht mehr gesehen.«
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich langsam auf de Chauliacs Zügen aus; doch dann, scheinbar, ohne daß er es merkte, wurde seine Miene unsicher. »Wieso sprecht Ihr dann von Ratten?«
»Die Ansteckung!« antwortete Alejandro erregt. »Mit der Pest. Sie wird von Ratten übertragen, da bin ich ganz sicher!«
De Chauliac starrte ihn einen Augenblick lang an. Dann kicherte er, kicherte immer weiter, bis aus dem Kichern reiner Hohn wurde. Bald hielt er sich die Seiten; selbst die Wachen an der Tür verloren ihre steife Haltung.
»Ich bin dessen sicher!« wiederholte Alejandro fast schreiend, und das Gelächter verstummte.
De Chauliac erhob sich, stemmte seine edlen Knochen langsam aus dem Sessel hoch, bis er in voller Größe dastand. Er setzte sich in Bewegung und machte erst dicht vor Alejandro halt. Kalt sagte der große Franzose: »Solange Ihr Gast in meinem Haus seid, Monsieur, werdet Ihr nicht die Stimme erheben. Das ist kein angemessenes Betragen.«
Alejandro verstummte. Als er das Wort Gast hörte, erinnerte er sich, daß er in dieser Bibliothek ein Gefangener war, bis es de Chauliac einfiel, ihn wieder in das Grabgewölbe bringen zu lassen; also beschloß er, nicht noch einmal laut zu werden.
»Ich bitte um Vergebung, Monsieur«, sagte er entsprechend zerknirscht. »Eure Gastfreundschaft möchte ich nicht mißbrauchen. Es war nur mein großer Eifer, dieses Wissen mit Euch zu teilen, der mich veranlaßte zu schreien.«
De Chauliacs Augen durchbohrten ihn weiterhin. Alejandro sah darin etwas, was er nicht ganz definieren konnte. War es – aber nein … Das konnte nicht sein. Einen ganz kurzen Moment lang hatte er geglaubt, in diesen blauen Augen so etwas wie Traurigkeit zu entdecken. Als fühle de Chauliac sich irgendwie – verraten.
Der Franzose wandte sich plötzlich ab und nahm einen Stapel sauber gefalteter Kleider von einem nahen Tisch. »Hier«, sagte er und warf ihn Alejandro zu, »wir werden Eure verrückte Theorie beim Diner diskutieren.« Tadelnd erhob er einen Finger. »Aber zuerst werdet Ihr Euch säubern. Ihr stinkt!«
Majestätisch schritt er aus dem Raum und ließ Alejandro allein mit den Wachen und einem Schatz an Büchern zurück. Doch Alejandro hatte keine Gelegenheit, sich an der Bibliothek zu erfreuen. Umgehend führten ihn die Wachen durch eine Reihe langer Flure und gewundener Gänge in eine kleine Kammer im obersten Geschoß des Hauses, das unendlich viele Räume zu haben schien. Alejandro versuchte, sich den Weg zu merken; doch als sie die solide Holztür hinter ihm schlossen, wurde ihm klar, daß ein Fluchtversuch an verschiedenen Punkten dieses Weges scheitern würde. Es gab ein Fenster mit klarem Glas, das groß genug für seinen Körper war, doch als er die von Holz eingerahmten Scheiben öffnete und nach unten schaute, schien er sich in schwindelnder Höhe zu befinden, viel zu hoch, um einen ungeschützten Sprung zu überleben. Auf der Straße unten herrschte geschäftiges Treiben – wenn er sich nicht beide Beine brach, so würde man ihn mit Sicherheit fassen, und was dann?
Nein. Er würde warten und versuchen, Informationen zu sammeln, eher er sich zum Handeln entschloß.
Wenn er das verglaste Fenster öffnete und den Kopf hinausstreckte, konnte er gerade noch den Fluß erkennen. Jenseits davon lag die relative Sicherheit der Rue des Rosiers im Marais. War Kate jetzt dort und wartete vergeblich auf sein Erscheinen? Falls ja, war das nur seine eigene Schuld. Er war neugierig auf ein seltsames Wort gewesen, dessen Bedeutung, als er sie schließlich entdeckte, unwichtig schien im Vergleich mit dem Mißgeschick, zu dem es geführt hatte. Weh dem … hatte die Handschrift verkündet, und ihn schauderte. Anscheinend war dieser Abraham so etwas wie ein Prophet.
Gott verdamme meine Neugier, dachte er bedrückt, denn sie bringt mir immer Schaden. Wäre er nicht wißbegierig gewesen, warum Carlos Alderón gestorben war, hätte er seinen Leichnam nicht seziert – eine Handlung, die letztlich zu seiner erzwungenen Flucht aus Spanien führte. Hätte er sich nicht neugierig nach einer medizinischen Praxis in Avignon erkundigt, hätte de Chauliac, damals Agent des schlauen und listenreichen Papstes Clemens IV., ihn nicht zwingen können, zum Schutz der Gesundheit der Königsfamilie nach England zu gehen. Und nachdem er einmal dort war, hätte er nicht nach Frankreich fliehen müssen, wenn er die Behauptung einer englischen Hebamme, sie besitze ein Heilmittel gegen die Pest, nicht so gründlich unter die Lupe genommen hätte.
Aber dann hätte Kate die Seuche nicht überlebt. Und ich auch nicht.
Und angesichts dieses Ausgangs schienen seine Plagen gerechtfertigt. Er setzte sich auf einen kleinen Schemel und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Während er so dasaß, kamen ihm die Gerüche der Substanzen zu Bewußtsein, durch die man ihn geschleift hatte. Auf einem Tischchen stand ein Krug, daneben lag ein Tuch. Er folgte de Chauliacs Aufforderung und säuberte sich. Dann zog er die frische Kleidung an, die man ihm gegeben hatte, wobei er über alle Ereignisse des Tages nachdachte, vor allem über ihr letztes Gespräch. Und trotz seines Unglücks machte er sich mit einer gewissen Genugtuung klar, daß seine Rede zum erstenmal seit vielen Tagen an jemand anderen als ihn selbst gerichtet gewesen war; zuerst die Priester, dann die Studenten, schließlich sein einstiger Lehrer. Jetzt stellte er fest, daß etwas, was de Chauliac gesagt hatte, ihm im Sinn geblieben war wie eine Rindersehne zwischen zwei Zähnen. Sosehr er auch stocherte und bohrte, es wollte nicht weichen. Etwas über kleine Tiere in der Luft? Das nagte an ihm, und er wußte, er würde es sich zu näherer Untersuchung vorknöpfen müssen.
Denn trotz seiner fatalen Situation war er wieder einmal neugierig.