KAPITEL 17

»Ich glaube, diese neuen Gäste könnten mich vor meiner eigenen Torheit bewahrt haben«, flüsterte Chaucer Alejandro zu, als er wieder auf seinem Stuhl saß.

Aber der Jude an seiner Seite beachtete ihn nicht, denn seine Aufmerksamkeit war ganz auf Guillaume Karle gerichtet, der direkt gegenüber am Tisch Platz genommen hatte und jetzt mit bleichen Wangen zu ihm herüberstarrte.

Ihre gegenseitige Musterung entging de Chauliac nicht, der von seinem hochlehnigen Stuhl am Kopf der Tafel aus mit Adleraugen die Vorgänge beobachtete. »Marcel«, schnarrte er, »Ihr müßt Euren Begleiter vorstellen.«

Marcel, der nichts von der sich entfaltenden Intrige ahnte, stand auf und legte eine Hand auf Karles Schulter. »Dies ist mein junger Neffe Jacques, der zu Besuch in Paris weilt. Zu einer höchst ungünstigen Zeit, muß ich sagen, aber er wollte auf Drängen meiner Schwester grandmère seinen Respekt erweisen. Und ich hielt es nicht für passend, ihm davon abzuraten.«

»Willkommen, Neffe meines guten Freundes le Provoste! Ich bin entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen, und geehrt, daß Ihr Euch von Eurer grandmère losgerissen habt, um an meinem Tisch zu sitzen. Doch mir scheint, Ihr kennt wohl schon einen meiner anderen Gäste.«

Karle schaute nervös in de Chauliacs Richtung und ließ dann den Blick über die Tafel schweifen. Er fühlte sich unwohl bei der neugierigen Taxierung der anderen Gäste, am meisten von Seiten des jungen Chaucer. Er rang um Fassung, während alle auf seine Antwort warteten. Schließlich stammelte er verneinend: »Nein … aber für einen Moment hat mich der Herr an jemanden erinnert.« Er wandte sich wieder an Alejandro und sagte: »Ich bitte um Verzeihung, Herr, wenn meine Aufmerksamkeit Euch aufdringlich erschien.«

Alejandro schüttelte rasch den Kopf. Er saß stumm und steif da, den Blick unverwandt auf den Rebellen mit den bernsteinfarbenen Haaren gerichtet, jenen Mann, der sich um seine geliebte Kate kümmern sollte. Was ist das für ein Wahnsinn? dachte er bei sich, als er Marcels falsche Vorstellung hörte. Er sah sich an der Tafel um und fragte sich, ob auch alle anderen so etwas wie Schwindler waren; rasch kam er zu dem Schluß, es sei durchaus möglich. Als er an der Reihe war, den Zuspätgekommenen seinen Namen zu nennen, erhob er sich ein wenig und schloß sich dem allgemeinen Täuschungsmanöver an. »Hernandez, zu Ihren Diensten, Messieurs.«

Umgehend erläuterte de Chauliac: »In diesem Raum herrscht zu große Bescheidenheit. Dies ist Doktor Hernandez, um genau zu sein. Mein früherer Schüler.«

Marcel zog interessiert die Augenbrauen hoch. »Dann müßt Ihr sehr gefragt sein, Herr; es gibt in Paris nur noch wenige Ärzte. So viele sind umgekommen. Ich habe viele Stunden mit der berechtigten Sorge zugebracht, wer sich um unsere Bürger kümmern soll.«

Dazu hatte auch der junge Chaucer etwas beizutragen; begeistert mischte er sich in das Gespräch ein. »Mein Herr Lionel erwähnt oft, wie sehr sein Vater den Mangel an Ärzten beklagt und gleichzeitig den Überfluß an Rechtsgelehrten kritisiert.«

Marcel lächelte. »Da ich selbst unter einem der zu vielen Rechtsgelehrten zu leiden hatte, kann ich verstehen, daß der König der Advokaten überdrüssig ist. Aber Ärzte sind ein wertvolles Gut.«

»Er ist nicht hergekommen, um Patienten zu behandeln, Etienne«, unterbrach ihn de Chauliac, »sondern um zu lernen. Und zwar aus einem schönen medizinischen Lehrbuch, das auch ich mir ansehen durfte.« Liebenswürdig lächelte er in Alejandros Richtung. »Ich bin sehr dankbar für die Ehre, die Doktor Hernandez mir erweist, indem er meine Meinung einholt.«

»Dann bin ich noch mehr beeindruckt!« Marcel wandte sich wieder an Alejandro. »Ist Euch klar, Herr, daß die französische Königsfamilie häufig seinen Rat sucht? Und auch die Heiligen Väter, mögen die Dahingeschiedenen in Frieden ruhen!«

Diese gutgemeinte Erinnerung an die Ironie des Schicksals rief bei de Chauliac einen etwas verbitterten Gesichtsausdruck hervor, den Marcel nicht übersehen konnte. Sofort änderte sich der Tenor seiner Rede. »Nun, laßt mich Euch nur sagen, daß Ihr Euch in guter und edler Gesellschaft befindet.«

Durch reine Willenskraft zwang Alejandro sein pochendes Herz, langsamer zu schlagen, damit er seine eigene Erwiderung hören konnte. »In weit edlerer, als meiner Herkunft zukommt, denke ich.«

Bei dieser Feststellung gewann de Chauliac seine Fassung wieder. »Ich erkläre noch einmal, Ihr leidet unter einem Übermaß an Bescheidenheit, Kollege. Meiner Meinung nach seid Ihr durchaus geeignet, einem König zu dienen.«

»Und welcher Herkunft seid Ihr, wenn ich so kühn sein darf, Euch diese Frage zu stellen?«

Nach einem kurzen Augenblick antwortete Alejandro Marcel so wahrheitsgemäß, wie es ihm möglich war. »Ich bin Spanier.«

»Das schloß ich schon aus Eurem Namen, Herr. Und welcher Familie entstammt Ihr?«

Jetzt log Alejandro. »Sie sind einfache Leute aus Aragon.«

»Doch Ihr seid ein gelehrter Mann.«

Der Moment, den er brauchte, um eine plausible Antwort zu formulieren, kam Alejandro zu lang vor. »Die Stadt benötigte einen Arzt, und ich galt als ein Knabe, der fähig war zu lernen. Als meine Ausbildung beendet war, habe ich Aragon eine Zeitlang gute Dienste geleistet.«

»Und jetzt erfreut sich Paris Eurer Anwesenheit. Wie lange seid Ihr schon in unserer schönen Stadt?«

»Ich bin soeben erst angekommen.«

»Dann müssen die Bürger Eurer Heimat Euch sehr vermissen.«

»Das wäre zu hoffen.«

»Es ist gewiß so«, bekräftigte de Chauliac mit einem Lächeln.

»Was hat Euch zu Eurer Reise veranlaßt? Ich meine, außer der Schönheit von Paris und der Weisheit Eures geschätzten Lehrers?«

Alejandro vermochte kaum mehr seine Fassung zu bewahren; er wünschte sich nichts sehnlicher, als mit Karle allein reden zu können, um von Kates Verbleib zu erfahren. Doch er zwang sich zur Ruhe. »Das sind Gründe genug«, äußerte er geduldig, »doch sollte es noch einen anderen geben, könnte man vielleicht die Wanderlust anführen.«

»Das Vorrecht der Jüngeren«, pflichtete Marcel ihm bei. Er wies auf Karle. »Wie mein Neffe hier! Die Gesetzteren unter uns, ich meine unseren Gastgeber und mich selbst, müssen sich damit zufriedengeben, zu Hause zu bleiben und ihren Pflichten nachzukommen. Obwohl ich sicher bin, daß der junge Jacques aufgrund seines hervorragenden Charakters ebenfalls seiner Verantwortung genügen wird, wenn die Zeit kommt.«

De Chauliac nahm den Scherz mit gutmütigem Schmunzeln hin, denn er und Marcel standen auf recht vertrautem Fuß. Karle lächelte matt und nickte nur. Alejandro konnte sehen, daß er absichtlich den einfältigen Provinzler spielte. Gut, dachte er. Je weniger Aufmerksamkeit er erregt, desto glücklicher kann ich mich schätzen.

Dann tanzte das Mädchen wieder, und große Platten mit üppigen Speisen wurden gereicht: duftende Rüben und sautierte Gemüse, die einen dampfenden Rinderbraten umgaben, lange Brotlaibe, dicke Stücke weißer Butter. Karaffen mit dunkelrotem Wein wurden auf den Tisch gestellt und die Gäste eingeladen, sich selbst einzuschenken, was sie ungehemmt taten. Sobald eine Karaffe leer war, wurde sie durch eine neue ersetzt, und binnen kurzem war die Stimmung noch ausgelassener als zuvor.

»Ein hübsches Festmahl, nicht wahr?« flüsterte Chaucer Alejandro zu. »Mein Herr Lionel wird bitter beklagen, daß er gezwungen war, darauf zu verzichten.«

»Euer Herr hat wahrscheinlich durch zu viele üppige Festmähler den Zustand herbeigeführt, der für seine bedauerliche Abwesenheit verantwortlich ist.«

Chaucer warf einen raschen Blick in de Chauliacs Richtung, und als er sich davon überzeugt hatte, daß ihr Gastgeber in ein anderes Gespräch vertieft war, sagte er zu Alejandro: »In der Tat. Und de Chauliac sagt, er sei viel zu jung für dieses Leiden. Mein Herr beklagt sich, Monsieur le Docteur habe kein Mitgefühl mit seinen Schmerzen. Er bittet um einen Trunk Laudanum, um sie zu lindern; aber de Chauliac will davon nichts hören.«

Was weise ist, wollte Alejandro schon sagen, denn es würde Herrn Lionels Eingeweide wie Lehm zusammenklumpen lassen und seine Gicht erheblich verschlimmern. Doch er enthielt sich dieses Kommentars, denn plötzlich war ihm etwas in den Sinn gekommen. »Vielleicht würde Euer Lord gern eine zweite Diagnose einholen«, sagte er statt dessen. »Ich würde mit Freuden eine stellen, natürlich nur mit de Chauliacs Zustimmung.«

Eifrig fing der junge Mann den Köder auf, und Alejandro bewunderte seine abenteuerlustige Natur und seinen Wissensdurst. Er ermahnte sich, die große Chance, die sich ihm bot, nicht zu vergeuden, sondern weise und zu seinem Nutzen zu gebrauchen. »Ihr wollt ein Wortschmied werden, mein Freund; findet also die notwendigen Sätze, um Eurem Herrn die Erleichterung zu verschaffen, nach der er sich sehnt.«

Chaucer nahm die Herausforderung an. »Gesagt, getan«, erwiderte er mit Elan. »Ich werde dafür sorgen.«

Alejandro straffte die Schultern und dachte, wie wundervoll es sein würde, die Eingeweide von Isabellas jüngerem Bruder zu verstopfen. Seine Bemühungen, sie bei den Plantagenets in England durchlässig zu erhalten, waren kaum geschätzt worden. Aber diesmal würden seine Dienste nicht unbemerkt bleiben.

Alejandro bekam erst Gelegenheit, mit Guillaume Karle zu sprechen, als das Diner beendet war und die ächzenden, überfütterten Gäste endlich betrunken die lange Tafel verließen. Er hatte seinen eigenen Becher kaum angerührt und mit angespannter Geduld darauf gewartet, daß de Chauliac sich in anderweitige Gespräche einließ. Und obwohl dessen Wachen ihn scharf ihm Auge behielten, würden sie sich nichts dabei denken, wenn er unter vier Augen mit einem der anderen Gäste sprach.

Interessiert beobachtete er, wie de Chauliac den Alchimisten Flamel beim Arm nahm und aus dem Raum führte. Sie gingen die Treppe hinauf zu dem Teil des Hauses, in dem seine eigene Kammer lag. Und er machte sich etwas beunruhigt den wahrscheinlichen Zweck ihres Verschwindens klar – de Chauliac würde diesem Flamel die Handschrift zeigen. Für einen kurzen Moment war er in schrecklicher Versuchung, ihnen zu folgen – zu hören, was der Alchimist zu der Schrift Abrahams sagen würde. Doch er durfte die Gelegenheit nicht verpassen, mit Karle zu sprechen, solange sein französischer Kerkermeister ihn nicht beobachtete.

Marcel war in eine etwas trunkene und sehr leidenschaftliche Diskussion mit einem der anderen Gäste vertieft und kümmerte sich nicht um seinen »Neffen«. Alejandro nahm etwas unsanft dessen Arm und steuerte ihn in die Vorhalle. Die Wachen behielten ihn im Visier, griffen aber nicht ein.

Als er annahm, daß sie außer Hörweite waren, zischte er: »Was ist mit ihr? Sprecht!«

»Beruhigt Euch, Arzt«, sagte Karle, »und lockert Euren Griff! Wenn Ihr noch fester zudrückt, werdet Ihr meinen Arm kurieren müssen.«

Alejandro ließ ihn los. »Da habt Ihr Euren Arm zurück, aber redet jetzt endlich. Und zwar zügig, denn wir haben vielleicht wenig Zeit.«

Karles Stimme klang dringlich. Während er sprach, schaute er wiederholt über Alejandros Schulter. »Sie ist ganz wohlauf, das versichere ich Euch. Wir suchen ständig nach Euch!«

»In der Rue des Rosiers? Unter dem Schild der Fromagerie?«

»Genau dort.«

»Sie hat sich also erinnert, auch nach diesen vielen Jahren.«

»In der Tat! Besser als Ihr, scheint mir – wo Ihr doch hier in so großer Nähe seid!« beschwerte Karle sich. »Warum seid Ihr nicht gekommen?«

Alejandro starrte ihn ungläubig an. Seine Miene wurde hart vor Zorn. »Seht Ihr denn nicht, daß ich ein Gefangener bin?« flüsterte er.

»Ich sehe Euch nicht in Ketten.«

Alejandro neigte den Kopf in Richtung Tür, wo die Wachen standen. »Er hat mich mit menschlichen Ketten gefesselt! Glaubt Ihr nicht, daß ich kommen würde, wenn es mir möglich wäre?«

Karle erwiderte den zornigen Blick. »Woher soll ich wissen, was Ihr tun oder nicht tun würdet?«

»Meine Tochter wüßte es! Hat sie Euch nicht erzählt, daß ich ihr vollkommen ergeben bin?«

»Viele Male. Und sie spricht auch davon, die sie Euch ergeben ist. In dieser Hinsicht braucht Ihr Euch also nicht zu sorgen.«

Alejandro trat dichter an Karle heran, und seine Miene war jetzt noch bedrohlicher. »Sollte ich mich denn in anderer Hinsicht sorgen?«

Karles kaum merkliches Zögern entging Alejandro nicht.

»Nun?« bohrte er.

»Nein. Sie ist wohlauf und glücklich.«

»Glücklich? Wie kann ein Mädchen, das so lange von seinem Vater getrennt ist, glücklich sein?«

Der Revolutionär geriet ins Stammeln. »Nun, vielleicht ist sie nicht wirklich glücklich, aber sie scheint zufrieden.« Er suchte nach einer Erklärung. »Sie hat eine Gefährtin, die ihr Gesellschaft leistet, ein Mädchen in Marcels Haus, wo …«

»Ihr habt sie in Marcels Haus gebracht?«

»Ja. Und er hat uns freundlich aufgenommen – ohne nachzuforschen, wer sie sein könnte oder warum sie bei mir ist. Ich bin dorthin gegangen, weil es für sie kein anderes sicheres Obdach in Paris gibt. Und für mich auch nicht.«

»Ein Stall wäre sicherer für sie. In Marcels Haus müssen doch alle möglichen Adeligen ein und aus gehen!«

Karles Augen verengten sich. Er kam zu dem Schluß, daß die Heimlichtuerei lange genug gedauert hatte. »Ich denke, es ist an der Zeit, mir zu sagen, warum Ihr sie dauernd versteckt.«

Alejandro wich ein wenig zurück. »Sie hat es Euch also nicht erzählt?«

»Was denn?« zischte Karle aufgebracht.

Doch Alejandro blieb stumm. Seine Miene war versteinert und undurchschaubar.

»Wenn ich zu Marcels Haus zurückkomme, werde ich sie auffordern, mir dieses Geheimnis zu enthüllen.«

»Das wird sie ablehnen.«

Jetzt faßte Karle Alejandro beim Kragen und zog sein Gesicht dicht an sich heran. »Seid da nicht so sicher, Arzt!«

Sie starrten einander an, haßten sich dafür, daß sie sich gegenseitig brauchten. In der Stille dieses Augenblicks hörte Alejandro Schritte auf steinernen Stufen und das Knirschen von Stiefeln. Er sah über seine Schulter. De Chauliac und Flamel kamen die Treppe hinunter, in eine Diskussion vertieft. Er wandte sich wieder an Karle und flüsterte: »Wir können nicht mehr reden. Es müssen Pläne geschmiedet werden, mich hier herauszuholen! Ich werde ständig bewacht; aus diesem Haus gibt es schwer ein Entrinnen.«

»Wie wollt Ihr dann …«

»Ich denke, es tut sich vielleicht ein Ausweg auf.«

De Chauliac schritt durch die Vorhalle. Sein langes, zinnoberrotes Gewand bauschte sich elegant hinter ihm. Der korpulente, rotgesichtige Alchimist watschelte neben ihm her. Der Franzose lächelte, als er näher kam, und Alejandro wußte, daß er ihm Fragen stellen würde, wenn er ihn erreicht hatte.

»Im obersten Stockwerk gibt es ein vergittertes Fenster nach Westen. Dort werde ich festgehalten. Ich werfe Euch nachher einen Brief hinunter. Kommt morgen nach Einbruch der Dunkelheit. Laßt mich nicht im Stich, Karle, oder …«

Doch er hatte keine Gelegenheit mehr, Karle irgendwelche Höllenstrafen anzudrohen, denn de Chauliac mit seinem dicklichen Begleiter hatte sie erreicht.

»Ein so trautes Zwiegespräch! Kommt schon, gebt zu, daß Ihr miteinander bekannt seid.«

Karle nickte respektvoll und sagte dann: »Nein, Herr, wir haben uns eben erst kennengelernt – aber da der Herr ein Arzt ist und mein lieber Onkel Etienne darauf hinwies, daß es davon heutzutage so wenige gibt – nun ja, da habe ich es für klug gehalten, ihn nach gewissen Beschwerden zu fragen, unter denen ich leide und die möglicherweise mit einer Frau zu tun haben.«

»Ah!« sagte de Chauliac mit einer Handbewegung. »Solche Beschwerden sind eine Plage. Sprecht nicht weiter!«

»Das brauche ich zum Glück auch nicht, denn der gute Doktor hat mir einen Rat gegeben, der mir ungemein einleuchtet.«

»Er ist ein ausgezeichneter Arzt. Ihr tut gut daran, seinem Rat zu folgen. Darf ich auch etwas Persönliches hinzufügen?«

»Oh, ich möchte bitten. Ich bin begierig, in dieser Angelegenheit jeden Spezialisten zu konsultieren.«

De Chauliac lächelte. »Dann empfehle ich Euch, junger Mann, die Frauen, mit denen Ihr Euch zusammentut, sorgfältig auszuwählen.«

Karle und Alejandro warfen einander einen kurzen Blick zu. Dann sagte Karle: »In diesem Falle, Herr, hat das Mädchen mich ausgesucht.« Und mit einer höflichen Verbeugung entfernte er sich.

Es dauerte einen langen Augenblick, bis Alejandro sich genügend gefaßt hatte, um zu merken, daß Flamel mit ihm sprach. Er erbat sich eine Wiederholung der Frage. Und dann mußte er sich rasch eine passende Antwort auf die Frage ausdenken, wie er in den Besitz des Journals gelangt war.

»Ein Apotheker hatte es erworben.«

»Wo, wenn ich fragen darf?«

»Ich erinnere mich nicht genau. Zu der Zeit war ich auf Reisen, und ich kannte die Namen der Dörfer, durch die ich streifte, nicht immer. Soweit ich weiß, war es im Norden. Nein, wartet – vielleicht war es auch im Süden.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Mein Gedächtnis für solche Details läßt leider zu wünschen übrig.«

Flamel sah de Chauliac an und dann wieder Alejandro. Sein Gesicht glühte vor unverhohlener Erregung.

»Ich habe sehr lange Zeit nach diesem Band gesucht. Unter den Mitgliedern meines Berufsstandes gab es Gerüchte von seiner Existenz, aber niemand hatte ihn je gesehen. Ihr habt der Welt einen bemerkenswerten Dienst erwiesen, indem Ihr ihn aufgespürt habt. Sagt mir, hat der Apotheker berichtet, wie er an das Manuskript gelangt ist?«

»Ich habe den Mann nicht gefragt, und er hat keine Erklärung abgegeben. Aber man kann wohl mit einiger Sicherheit annehmen, daß er es einem Juden abkaufte. Vielleicht stammt es aus den Plünderungen in Straßburg. Oder er hat es auch von einem Flüchtling erhalten.«

»Gott sei Dank sind nur wenige entkommen …«

»Einer würde schon genügen«, sagte Alejandro bitter.

Ehe das Gespräch noch unangenehmer werden konnte, griff de Chauliac ein. »Ich sehe, Eure Übersetzung schreitet gut voran.«

»In der Tat – trotzdem ist noch viel zu tun.«

Flamel sagte: »Ich sah an Eurer Schrift, daß Ihr gerade mit den Seiten begonnen habt, auf denen die Anweisungen für die Metallumwandlung stehen. Es wäre eine große Ehre, wenn Ihr mir unverzüglich von Euren Fortschritten berichten würdet. Vielleicht kann ich Euch auch eine Hilfe sein, denn ich kenne den Sinn vieler Symbole, die sich in der Handschrift befinden.«

»Nun, das scheint mir eine wundervolle Idee!« schwärmte de Chauliac.

Und Alejandro wurde klar, daß im Grunde schon alles vereinbart worden war, als sie oben in seiner Kammer waren. Er fragte sich, wie de Chauliac wohl die Gitter an seinem Fenster erklärt hatte. Oder ob sie dem Alchimisten überhaupt aufgefallen waren …

Das Fest endete, und die Gäste verabschiedeten sich nach und nach. Karle war Marcel schon aus der Tür gefolgt und hatte Alejandro mit der beklemmenden Angst zurückgelassen, er werde vielleicht nie wiederkehren. Der dicke und zwielichtige Alchimist dagegen hatte zum großen Bedauern des Juden seine Rückkehr fest und wortreich versprochen.

Jetzt brach der Page Geoffrey Chaucer auf. Alejandro nahm ihn kurz beiseite und flüsterte: »Vergeßt nicht, mit Eurem Herrn zu sprechen. Sagt ihm, daß es mich sehr danach verlangt, ihn von seinen Nöten zu befreien.«

Chaucer zwinkerte verschwörerisch sein Einverständnis und sagte: »Ihr werdet bald von mir hören. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.«

Dann ging der junge Mann zu de Chauliac und bat um einen kurzen Brief, der sein langes Ausbleiben erklärte. Er bekam ihn bald darauf und machte sich froh auf den Weg, ein junger Mensch, der alle Köstlichkeiten des Lebens noch vor sich hatte. Wehmütig sah Alejandro ihm nach, als er im Hof verschwand. Seine Abenteuerlust und sein Wissensdurst erinnerten den gefangenen Juden an seine eigene, freiere Jugend, bevor er auf seinem Weg gestrauchelt war.

Doch die Liebe des Jungen zum Englischen war etwas besorgniserregend. Allerdings konnte sich Alejandro jetzt nicht damit befassen. Und letztlich, das wußte er, würde ein so junger Mensch sich nicht aufhalten lassen, ganz gleich, was die Welt von seiner Muttersprache hielt.

Auf dem Strohlager in ihrer kleinen Dachkammer zitterte Kate in Guillaume Karles Armen, und obwohl die Nacht warm war, fröstelte sie vor Entsetzen.

»Aber warum können wir nicht jetzt gehen?«

»Er hat ausdrücklich gesagt, morgen.«

»De Chauliac!« stöhnte sie kläglich. »Wer hätte das gedacht?«

Er schnaufte vorwurfsvoll. »Wenn ich deine Geschichte kennen würde, könnte ich vielleicht die Bedeutung ihrer Begegnung begreifen; aber du hast mir die Geheimnisse deiner Vergangenheit ja nicht verraten.«

Sie schloß fest die Augen und verstummte.

»Kate, bitte, du mußt mir diese Hintergründe enthüllen. Es ist gefährlich, wenn ich nicht Bescheid weiß.«

Widerstrebend öffnete sie die Augen und suchte seinen Blick.

»Er hat dir also nichts gesagt?«

»Nein – aber er hat mich gefragt, ob du mir etwas gesagt hättest.«

Sanft nahm er ihr Gesicht in beide Hände und schaute ihr tief in die Augen. »Ich werde dich nicht verraten« gelobte er. »Mein Verlangen nach dir verbietet es; und selbst ohne das bin ich ein Mann von Ehre. Niemals dulde ich es, daß du zu Schaden kommst, ganz gleich, welcher Vorteil auch für mich dabei herausspränge.«

Sie wandte das Gesicht ab, aber er drehte es wieder zu sich her.

»Bitte«, beschwor er sie. »Siehst du denn nicht, daß ich dich liebe? Ich flehe dich an, vertraue mir! Wenn wir jemals zusammenleben wollen, muß ich wissen, wer du bist.«

Sie zog seine Hände von ihren Wangen und legte sie sanft in ihren Schoß. Dann richtete sie sich auf und sah ihm direkt in die Augen. »Du mußt mir versprechen, niemandem zu sagen, was ich dir nun mitteilen werde.«

»Aber das habe ich doch gerade versprochen. Zweifle nie an meiner Aufrichtigkeit!«

»Karle, dieses Wissen kann gefährlich werden.«

»Das Risiko nehme ich auf mich.«

Nochmals atmete sie tief durch. »Wenn es zu einer Belastung werden sollte, mußt du dich daran erinnern, daß ich dich gewarnt habe. Und daß du akzeptiert hast …«

»Jawohl! Akzeptiert! Und jetzt sprich weiter, bei der Liebe zur Heiligen Jungfrau!«

»Nun denn«, seufzte sie müde. »Was weißt du über die englische Königsfamilie?«

»Nicht mehr, als jeder einfache Mann wissen muß.«

»Ich fürchte, bald wirst du mehr wissen, als dir lieb sein wird.«

Seine Verwirrung schien echt. »Aber was hat das mit dir zu tun?«

»Alles. Weißt du, Karle, ich bin … ich …«

Sie mußte ihre Tränen unterdrücken und verstummte, unfähig, weiterzusprechen.

»Ja?« drängte er. »Sag es mir!«

Plötzlich platzte sie damit heraus, es gab keinen Aufschub mehr.

»Ich bin nicht pères Kind.«

»Heiliger Strohsack!« rief er. »Ebenso könntest du behaupten, der Himmel sei blau! Jeder Narr erkennt das doch auf den ersten Blick. Wessen Kind bist du denn?«

»Ich … ich bin … eine illegitime Tochter von König Edward.«

Unwillkürlich sog er die Luft ein. »Mon Dieu!« Er bekreuzigte sich.

»Meine Mutter war eine der Hofdamen von Königin Philippa. Père wurde während der Großen Pest als Arzt an Edwards Hof geschickt, von de Chauliac persönlich. So kreuzten sich unsere Wege das erste Mal.«

Karle riß schockiert den Mund auf. Als er sich wieder gefaßt hatte, sagte er: »Eine Prinzessin? Du bist eine Prinzessin von England?«

»Nein! Du verstehst nicht! Ich bin nichts. Nichts. Ein Bastard, verachtet von allen, die irgend etwas mit mir zu tun hatten. In sehr zartem Alter wurde ich von meiner Mutter getrennt und in den Haushalt meiner Stiefschwester Isabella geschickt, die die wahre Tochter meines Vaters und seiner Königin ist. Ich war kaum mehr als eine Sklavin für sie; einzig meine Kinderfrau ging freundlich mit mir um. Gott segne sie, und sollte sie verstorben sein, so möge der Himmel sie aufnehmen. Und eine der Hofdamen meiner Stiefschwester, Adele! Sie war mir mehr Schwester als Isabella. Die Königin, der König und all meine königlichen Brüder und Schwestern haben mich behandelt wie kalte Asche aus dem Herd!«

»Was ist mit deiner Mutter? Konnte sie nichts für dich tun?«

»Die Königin verbot es. Das war ihre Rache an meiner Mutter, weil sie dem König gestattet hat, sie in sein Bett zu nehmen – obwohl ich nicht verstehe, wie sie dem hätte entgehen können. Und dann, ich war erst sieben, wurde sie von der Pest dahingerafft.«

»Das hast du mir erzählt. Mon Dieu«, wiederholte er mit offenem Mund, »das ist wirklich eine außergewöhnliche Geschichte. Niemals hätte ich so etwas erwartet …«

»Das Erstaunlichste ist, daß ich noch am Leben bin und dir davon erzählen kann!« Sie zögerte einen Moment und insistierte:

»Jetzt muß ich dich noch einmal um das Versprechen der Verschwiegenheit bitten, sonst kann ich nicht weiter berichten.«

»Du hast es – aber kann denn noch Unerhörteres kommen?«

»Vielleicht wirst du es so sehen, oder auch nicht.« Sie atmete tief ein und sagte dann schnell: »Père ist ein Jude.«

Schockiertes Schweigen. Dann flüsterte er: »Das kann nicht stimmen. Ich würde es wissen.«

»Wieso?«

»Ich hätte es an seinem … Verhalten … erkannt. Und er weist keines der Merkmale eines Juden auf.«

»Doch – eine Narbe! Auf der Brust. Ein kreisförmiges Brandzeichen.«

Als er sich an die erste Nacht in jener Hütte erinnerte, fiel ihm ein, daß er die seltsame Narbe bei dem Mann eher für eine überwundene Krankheit gehalten hatte. Doch zu der Zeit wirbelte ihm zuviel anderes durch den Kopf, als daß er weiter darüber nachdachte; seine Männer starben, er selbst war auf der Flucht und wurde gejagt. »Das eine Mal, als ich ihn ohne Hemd sah, wandte er sich von mir ab. Jetzt verstehe ich, warum.« Nach einem verwirrten Augenblick fragte er: »Aber wie kam es dann, daß de Chauliac ihn nach England geschickt hat?«

»De Chauliac hat es nicht gewußt, weil Père seine Identität verschwieg. Er trug den Namen eines toten Gefährten, eines Soldaten, mit dem zusammen er Spanien verlassen hatte.«

»Warum?«

»Weil er dort einen Bischof getötet hatte.«

»Einen Bischoff Und trotzdem läuft er noch ungefoltert durchs Land?«

»Ich schwöre, daß es wahr ist. Und du mußt mir glauben, Karle – er hatte jedes Recht zu dieser Tat.«

»Aber ein Bischof … das ist wahrhaftig eine schwere Sünde.«

»Und die Erinnerung daran belastet ihn Tag für Tag. Der verfluchte Kirchenfürst hatte ihn und seine Familie ruiniert; nur wegen der Exhumierung eines Leichnams, eines Mannes, den Père von einem schrecklichen Leiden zu heilen versucht hatte. Er mußte unbedingt herausfinden, warum dieser Mann gestorben war. Also nahm er den Leichnam aus dem Grab …«

»Mon Dieu!« stöhnte Karle.

»Karle – du mußt versuchen zu verstehen – wenn man so leidenschaftlich nach Wissen strebt wie Père, ist man oft gezwungen, Gefahren auf sich zu nehmen. Und er hat seinen Drang nach Erkenntnis teuer bezahlt. Seine Familie wurde aus Cervere vertrieben, ihr Hab und Gut beschlagnahmt – sie mußten Spanien in der schlimmsten Pestzeit verlassen.« Sie ließ ein wenig den Kopf sinken. »Er weiß nicht, ob sein Vater oder seine Mutter die Flucht überlebt haben – sie waren damals schon alt, und es liegt bereits zehn Jahre zurück.«

»Da geschieht es ihm nur recht, wenn er dieses Verbrechen teuer bezahlt hat.«

Kates Wangen waren von brennendem Zorn gerötet, aber sie beherrschte sich mühsam. »Père weiß, daß er eines Tages für seine Taten verurteilt werden wird. In seinen heiligen Büchern heißt es ›Auge um Auge‹, und er kann zwar nicht offen fromm sein – aber er nimmt die Worte seiner Propheten sehr ernst.«

Ein Moment verging schweigend. Dann fuhr Kate fort: »In Avignon hat er versucht, sich als Arzt niederzulassen und auf die Ankunft seiner Familie zu warten. Aber er wurde mit anderen Ärzten zusammen gezwungen, sich von de Chauliac unterrichten zu lassen. Sie wurden über ganz Europa verteilt, um die Gesundheit der Königshäuser zu schützen; denn der Papst wollte mit Hilfe königlicher Heiraten seine Ränke schmieden, und das konnte er nicht, wenn alle Bräute und Bräutigame dahinsiechten, bevor er sie in die Hand bekam. So ist Père nach England gelangt – sonst wäre er noch heute in Avignon. Viele Jahre lang hat er gehofft, daß seine Familie es dorthin schaffte, aber er hat Angst vor einer Rückkehr, denn man könnte ihn erkennen und einsperren. Und trotz aller Hoffnungen für seine Angehörigen weiß er, daß sie kaum die Reise aus Spanien oder dann die Pest überlebt haben können.«

Karle seufzte in tiefem Erstaunen. »Wie grausam die Hand des Schicksals sein kann! Er hielt Paris für sicher, und dabei erwartete ihn hier die größte Gefahr.« Einen Augenblick dachte er nach und sagte dann bedrückt: »Es muß schrecklich für dich gewesen sein, all diese Jahre.«

Kate runzelte die Stirn. »Schrecklich? Wie meinst du das?«

»Du reist jetzt seit zehn Jahren umher als seine Tochter.«

»Und warum«, sagte sie empört, »sollte das schrecklich sein?«

»Schlimm genug, daß er ein Jude ist, aber obendrein ein Grabräuber, ein Mörder … du bist ihm bemerkenswert ergeben, wenn man bedenkt …«

Ohne nachzudenken, holte sie aus, um ihn zu schlagen. Er packte ihre Hand, bevor sie sein Gesicht erreichte, und hielt sie fest. Er sah den Zorn und die aufsteigenden Tränen in ihren Augen und begriff, daß seine Überlegungen sie tief verletzten. Sie liebte den Mann, wie sie einen echten Vater geliebt hätte.

Nach ein paar angespannten, reglosen Momenten flüsterte er:

»Es tut mir leid. Ich wollte nicht respektlos sein.« Er küßte ihre geballte, zitternde Faust zärtlich und bittend. »Es war voreilig und töricht, so zu sprechen.«

Kate riß ihre Hand los. Ihre Wangen waren gerötet, und als sie endlich das Wort ergriff, klang ihre Stimme düster. »Père ist der beste Mensch, den ich je gekannt habe. Er ist von weit edlerem Geist als derjenige, der mich gezeugt hat. Ich habe in seiner Obhut nie etwas entbehrt. Er hat mir die Segnungen des Wissens, der Sprache, des Schreibens und des Rechnens angedeihen lassen – ich kenne die Medizin, die Jagd, alle Fertigkeiten, die man braucht, um zu überleben! Das können wenige Männer von sich behaupten, von Frauen ganz zu schweigen. Und niemals hat er versucht, mir seine Überzeugungen aufzuzwingen. Aber ich weiß, er sehnt sich danach, daß ich sie teile – ich sehe es manchmal an seinem Ausdruck; ihn umgibt eine Einsamkeit, die kein Mensch erdulden müssen sollte.«

Sehr leise sagte Karle: »Er hat viel verloren.«

»Er hat alles verloren und zuletzt noch den Rest, woran ihm lag – um mich zu retten.«

Als sie diese Worte aussprach, begriff Karle, daß er diesen Vater tatsächlich würde akzeptieren müssen, um sich die Tochter zu erhalten. »Ich schwöre, daß ich alles Nötige veranlassen werde, damit ihr nie wieder getrennt werdet.«

»Wenn wir zusammenbleiben wollen, wirst du deinen Frieden mit ihm schließen müssen.«

»Dann wird das auch geschehen.«

Doch der Mann, dem diese Worte galten, hatte keinen Seelenfrieden, denn noch immer rumorten in ihm die Ereignisse des Abends. Der aufgeschlossene junge Chaucer, der vielleicht, ohne es zu wissen, der Schlüssel zu seiner Flucht werden könnte; das unerwartete Wiedersehen mit Karle; die wunderbare Nachricht von Kates Wohlergehen und Karles verwirrende Behauptung, Kate habe ihn irgendwie »ausgesucht«. Natürlich gab es nur eine Art, auf die ein Mädchen einen Mann wählte – der bloße Gedanke daran loderte in ihm und verzehrte seine neuerliche Zuversicht.

All das war zu verwirrend, überstieg das Verständnis des einfältigen Mannes, für den er sich mittlerweile hielt. Doch verstehen mußte er es, denn er wollte de Chauliacs Kontrolle – koste es, was es wolle – entrinnen. In dem spanischen Kloster, so erinnerte er sich aus der Ferne, war es wenigstens sicher gewesen, daß seine Häscher ihn tot sehen wollten. De Chauliac erlegte ihm die Folter schlimmster Ungewißheit auf. Er haßte es, sein unfreiwilliger intellektueller Komplize, Spielzeug seines Geistes zu sein. Verdammt sei dieser Schurke; unter besseren Umständen würde sein Intellekt ihn zu einem allgemein willkommenen Gefährten machen.

Im Licht einer einzelnen Kerze starrte er auf Abrahams Manuskript und fragte sich, ob er je wieder dasselbe dafür empfinden könnte. Dieser Flamel schien es zu begehren, wie ein Mann eine Frau begehrt – als könne sein Besitz ihn für irgendein großes, enttäuschendes Versagen entschädigen. Nachdem der schmierige Alchimist die Seiten berührt und ihre Geheimnisse gesehen hatte, gab es für Alejandro das Gefühl nicht mehr, das Buch gehöre wirklich ihm.

Narr! schalt er sich selbst. Es gehört dem Volk, zu dessen Unterweisung es geschrieben wurde. Jetzt war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß dieses Volk diese Unterweisung erhielt.

Plötzlich hörte er ein leises Klopfen. De Chauliac persönlich trat ein. Die formelle Gesellschaftskleidung war verschwunden; jetzt trug der elegante Franzose ein leichtes Gewand aus feinster indigoblauer Seide. Ihre Blicke begegneten sich, und für einen Moment spürte Alejandro de Chauliacs neugieriges Forschen; es schien, als versuche der Leibhaftige selbst, in seine Seele zu schauen. Er wandte den Blick ab, was de Chauliac zwang, etwas zu sagen.

»Es war ein schöner Abend, nicht wahr?«

»Er war interessant, das gebe ich zu. Aber warum, in Gottes Namen, habt Ihr Lord Lionel eingeladen?«

»Was haben meine Gründe mit Euch zu tun?«

»Er hätte kommen können.«

De Chauliac lächelte. »Ich nehme an, es war die potentielle Gefahr, die mich dazu veranlaßt hat – daß ich sehen wollte, wie Ihr reagieren würdet. Es machte mir Vergnügen, wie Ihr Euch aus Furcht, erkannt zu werden, gewunden habt. Aber alles ist gut ausgegangen, oder? Ihr habt die Gesellschaft dieses jungen Pagen anscheinend sehr genossen. Lionel war noch ein Kind, während Eurer Zeit bei Hofe, und hat sich nicht darum gekümmert, was die Älteren trieben.« Er grunzte zynisch. »Und ein Kind ist er geblieben! Jedenfalls läßt er sich so kindisch gehen, daß es ihm gelungen ist, sich die Gicht zuzuziehen.«

Alejandro setzte sich gerader auf. Das ist meine Chance, das nächste Samenkorn in die Erde zu senken. »Ich würde ihn gern untersuchen, wenn Ihr meint, er würde mich nicht erkennen.«

De Chauliac zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wozu in aller Welt?«

»Weil er, wie Ihr bereits sagtet, zu jung ist, um an der Gicht zu leiden. Vielleicht ist es nicht die Gicht, was ihn quält. Es könnte etwas anderes sein.«

»Ihr wollt an meiner Diagnose zweifeln?«

Sei vorsichtig, was du sagst. Erinnere dich an seinen Stolz und benutze ihn in diesem Duell. »Dieser Krieg hat viele neue Formen des Elends mit sich gebracht, Leiden, die noch nicht einzuordnen sind, und ich habe viele davon gesehen. Mitglieder des Königshauses bleiben davon nicht verschont, nur weil sie königlich sind. Einst habe ich von Euch gelernt, weil Ihr über das breitere Wissen verfügtet. Wäre es nicht möglich, daß Ihr jetzt von mir lernen könntet?«

De Chauliac wand sich unbehaglich. »Ich vermute, es wäre nicht ganz von der Hand zu weisen …«

»Dieser junge Chaucer sagt, sein Herr leide unter Schmerzen in den Extremitäten, vor allem in einem Fuß – aber Ihr wolltet ihm kein Laudanum geben. Ich denke, dies ist die richtige Behandlung, weil Laudanum ihn verstopfen könnte, und Ihr erkennt klugerweise, daß der Körper sich von allen Fäulnisstoffen und Abfällen befreien muß, um zu gesunden. Doch wenn sein Fluch nicht die Gicht ist, leidet er vielleicht unnötig unter Schmerzen, die ich heilen könnte. Er stünde für immer in Eurer Schuld.«

Der Franzose bedachte das, antwortete aber nicht.

Endlich, nach langem quälendem Schweigen, sagte er: »Ihr habt recht, Jude. Vielleicht wird unsere gemeinsame Weisheit meinem Prinzen besser dienen als meine allein.«

Alejandro ergänzte rasch: »Wir könnten uns danach in einen anderen Raum zurückziehen, um unsere Feststellungen zu erörtern. Wenn wir einen anderen Grund für seine Beschwerden finden, werden wir sagen, Ihr allein hättet ihn entdeckt.«

De Chauliac wirkte bestürzt und verletzt. »Solch falsche Lorbeeren habe ich nicht nötig.«

»Nein, natürlich nicht. Ich meinte nur, daß ich es mir nicht leisten kann, Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Ja, gewiß«, stimmte Chauliac nachdenklich zu. Dann wurde sein Blick dunkel und bedrohlich. »Wenn Ihr zu fliehen versucht, werdet Ihr es furchtbar bereuen.«

»Bei den Wachen, mit denen Ihr mich umgebt? Wie sollte ein einzelner Mann sie überwinden?«

Der Franzose starrte ihn einen Moment lang prüfend an. »Ich werde es mir überlegen«, beschloß er die Unterhaltung. Dann erhob er sich. Sein seidenes Gewand raschelte, als er sich umdrehte und zur Tür ging. Ohne zurückzublicken flüsterte er: »Schlaft wohl, mein Freund.« Dann ging er, schloß die Tür hinter sich und ließ seinen Gefangenen mit der Frage zurück, warum er überhaupt gekommen war.