KAPITEL 1
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Wann hatte Alejandro Canches die Sprache auf dem Papyrus, der vor im lag, zuletzt gelesen? Er war so schläfrig, daß es ihm nicht einfiel. In Spanien, dachte er; nein, in Frankreich, als ich mich das erste Mal hier aufhielt.
Ach ja, erinnerte er sich, natürlich, in England, der Brief von meinem Vater, den ich in meinem Tagebuch zurücklassen mußte, als wir flohen.
Er war bemüht, sich dieser Zeit zu entsinnen, den Schleier der Jahre wegzuschieben; denn unter der bitteren Weisheit des reifen Mannes schlummerte der süße Eifer des einstigen Knaben, der diese Sprache bei Kerzenlicht studiert hatte, von seiner Familie aufmerksam beobachtet. Die Aufgabe machte ihm damals Freude, während andere Jungen seines Alters sich beschwerten. Was nutzt all das Studieren? wiederholten sie verdrießlich. Bald sind wir sowieso alle gezwungen, wieder eine andere Sprache zu erlernen.
Falls wir nicht vorher umgebracht werden, habe ich damals gedacht, erinnerte er sich jetzt.
Die erste Seite hatte er beendet, die Symbole entziffert, die Worte endlich offenbart. Er empfand wieder den Stolz jenes kleinen Jungen, den Hunger nach Lob, der niemals wich. In der Tiefe seiner unsterblichen Seele sehnte er sich schmerzlich danach, weiter zu übersetzen; aber sein sterblicher Körper schien entschlossen, ihm dieses Glück zu verweigern. Würde er später in einer kalten Lache seines eigenen Speichels erwachen, die Buchstaben unter seiner Wange verschmiert und ruiniert? Oder würde die Kerze herunterbrennen, während er mit dem Kinn auf der Brust vor sich hin schnarchte, und ihr Wachs auf die Blätter tropfen lassen? Beides durfte nicht geschehen.
Vorsichtig blätterte er die Papyrusseiten zurück und überflog noch einmal, was er übersetzt hatte. Die Symbole, mit unglaublicher Präzision in reinstem Gold aufgetragen, verliefen auf der Seite von rechts nach links.
ABRAHAM DER JUDE, PRINZ, PRIESTER, LEVIT, ASTROLOGE UND PHILOSOPH, WÜNSCHT DEM VOLK DER JUDEN, VOM ZORNE GOTTES IM LAND DER GALLIER ZERSTREUT, GESUNDHEIT.
Diese Seiten bargen laut dem Apotheker große Geheimnisse. Nur weil er sich in einer verzweifelten Lage befand, hatte es ferner geheißen, dachte er überhaupt daran, sich von einem solchen Schatz zu trennen. Und so hatte die junge Frau, die Alejandro Canches als ihren père, ihren Vater, bezeichnete, in der Apotheke aus der Tasche ihres Rocks die Goldmünze herausgeholt; auf Alejandros Geheiß mußte sie sie immer bei sich tragen, für den Fall, daß sie irgendwie getrennt würden, und nun tauschte sie sie kühn gegen das Buch ein. Alejandro hatte das Mädchen ausgeschickt, um Kräuter zu holen, und sie war mit Blättern anderer Art zurückgekehrt – im vollen Bewußtsein, was sie ihm bedeuten würden.
Er schaute sich in der dunklen Hütte um, die gegenwärtig ihre Wohnstatt darstellte, und lächelte, als er ihre schlafende Gestalt sah.
»Ich habe dich also gut unterrichtet«, flüsterte er.
Stroh raschelte, als die junge Frau sich bewegte. Ihre sanfte Stimme kam aus dem Finstern, liebevoll, aber auch tadelnd.
»Père? Seid Ihr noch wach?«
»Ja, mein Kind«, sagte er, »dein Buch will mich nicht loslassen.«
»Ich bin kein Kind mehr, Père. Ihr müßt mich bei meinem Namen oder ›Tochter‹ nennen, wenn es Euch gefällt. Aber nicht ›Kind‹. Und es ist Euer Buch – aber ich bedaure allmählich, daß ich es für Euch gekauft habe. Ihr müßt jetzt zu Bett gehen und Euren Augen etwas Frieden gönnen.«
»Meinen Augen mangelt es nicht an Frieden. Sie haben viel zuviel davon. Jetzt hungern sie nach den Worten auf diesen Seiten. Und du darfst diesen Kauf nie bereuen!«
Sie stützte sich auf einen Ellbogen und rieb sich energisch die Schläfen. »Das werde ich aber, wenn Ihr Eurer eigenen Warnung nicht folgt, daß Überanstrengung die Augen ruiniert.«
Er spähte durch das Halbdunkel nach der jungen Frau, die unter seiner Obhut so schön und gediegen war, so gerade und stark und hell. An Gesicht und Händen trug sie noch schwache Spuren von Kindlichkeit; aber auch die würden bald dahinschmelzen, das wußte er, zusammen mit ihrer Unschuld. Doch noch glänzte der rosige Schimmer des jungen Mädchens auf ihren Wangen, und Alejandro wünschte sich im stillen, es möge ihr ein wenig Aufschub vergönnt sein.
Sie wird bald Frau, gestand er sich ein. Dieser Gedanke war von einem vertrauten Gefühl begleitet, das er noch nicht befriedigend definieren konnte – wenn er auch oft meinte, »hilflose Freude« sei die zutreffendste Beschreibung dafür, die er je finden würde. Die hilflose Freude wohnte in seinem Herzen, seit er sich vor zehn Jahren plötzlich gezwungen sah, dieses Kind großzuziehen; inzwischen war sie gewachsen, als er feststellte, daß er trotz seiner beträchtlichen Gelehrsamkeit nicht besser auf diese Aufgabe vorbereitet war als ein ungebildeter Mensch. Obwohl manch einer einfach zu wissen schien, was und wann zu tun war, gehörte er selbst nicht zu denen, die ein Kind mit angeborenem Instinkt behandelten. Er hielt es für einen grausamen Streich Gottes, daß der schwarze Tod so viele Mütter dahinraffte – zusammen mit den Ärzten hatten sie sich abgemüht, ihren sterbenden Ehemännern und Kindern beizustehen; zuletzt waren sie dann wegen ihrer Nähe zu den Kranken in schrecklich großer Zahl selbst gestorben. Das Sterben von Müttern und Ärzten tat Alejandro in der Seele weh; doch was die Priester betraf, wünschte er sich beinahe, die Pest hätte mehr von ihnen dahingerafft. Die Überlebenden aus ihren Reihen waren diejenigen, die sich zu ihrem eigenen Schutz von der Welt abgesondert hatten, während ihre Brüder im Dienst am Nächsten umkamen. Er betrachtete diese Heuchler unter den Klerikalen als einen abgrundtief niederträchtigen Haufen.
Alejandro hatte das Mädchen nach besten Kräften allein großgezogen, ohne Ehefrau; denn er wollte die Erinnerung an die Frau, die er in England geliebt hatte, nicht durch eine reine Zweckheirat besudeln. Und Kate fiel es nicht ein, sich über die fehlende Mutter zu beklagen. Sie hatte die Schwelle der Weiblichkeit mit ungewöhnlicher Anmut erreicht und schickte sich nun an, sie zu überschreiten. Als mutterloses Mündel eines jüdischen Renegaten war sie durch irgendein unerhörtes Wunder zu einem anbetungswürdigen Geschöpf herangewachsen.
Und dieses liebliche Wesen sprach jetzt: »Père, ich bitte Euch, folgt Eurer eigenen Weisheit. Legt Euch schlafen. Sonst werde ich das Lesen für Euch übernehmen müssen, wenn Ihr ein alter Mann seid.«
Das zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. »Möge Gott in Seiner Weisheit dafür sorgen, daß ich das dann auch noch erleben darf. Und du bei mir weilst.« Sorgfältig schloß er die Handschrift. »Aber du hast recht. Ich sollte mich ausruhen. Auf einmal kommt mir das Stroh schrecklich einladend vor.«
Es klopfte an der Tür.
Beide wandten sich gleichzeitig nach dem ungewöhnlichen Geräusch um, und Kates Stimme in der Dunkelheit war ein erschrockenes Wispern: »Père? Wer …«
»Psst, Kind … sei still«, hauchte er zurück. Erstarrt saß er auf seinem Stuhl. Das Licht der Kerze flackerte jedoch weiter.
Wieder klopfte es, und dann ertönte die kräftige Stimme eines Mannes. »Ich bitte Euch, ich brauche jemand, der heilkundig ist … der Apotheker hat mich geschickt.«
Alejandro warf Kate, die zitternd auf ihrem Strohlager saß und sich die wollene Decke schützend bis zum Hals hochgezogen hatte, einen furchtsamen Blick zu. Er beugte sich in ihre Richtung: »Woher weiß er, daß ich ein Heiler bin?«
»Vielleicht denkt er, daß ich die Heilerin bin!«
»Was? Was ist denn das für ein Unsinn?«
»Irgend etwas mußte ich dem Apotheker doch sagen, Père«, flüsterte sie zurück, und ihre Stimme klang fast verzweifelt. »Der Mann war ungeheuer neugierig und wollte gar nicht aufhören mit Fragen! Übrigens ist es kein Unsinn. Ihr selbst habt mich in den Heilkünsten unterwiesen. Um ihn zufriedenzustellen, habe ich ihm gesagt, daß ich …«
»Hebamme!« kam die drängende Bitte von der anderen Seite der Tür. »Bitte, ich flehe Euch an, öffnet die Tür! Eure Hilfe wird nötig gebraucht!«
Am liebsten hätte Alejandro ihr einen väterlich konsternierten Blick zugeworfen, ihr mit dem erhobenen Finger gedroht, niemals wieder dürfe sie so viel von sich geben. Aber ein Fremder stand vor der Tür. »Warum hast du mir das nicht früher erzählt?« fragte er unterdrückt.
Sie beeilte sich, es ihm zu erklären. »Es schien nicht notwendig, Père – als der Apotheker fragte, warum ich die Kräuter haben wollte, nach denen Ihr mich geschickt hattet, stellte ich mich als Schülerin der Heilkünste vor! Das war der Grund, warum er mir das Buch zeigte. Ich schwöre, von Euch habe ich nichts gesagt.«
Er sah Angst in ihren Augen und begriff, daß sie sich vor ihm fürchtete. Das war eine beklagenswerte Erkenntnis, die ihn mit Scham erfüllte. Sie hatte versucht, ihn vor Entdeckung zu schützen und mit der Gabe des Buches zu erfreuen. Sein Zorn verrauchte.
»Nun gut. Was geschehen ist, ist geschehen«, meinte er resigniert. »Jetzt muß ich mir überlegen, wie ich antworte.«
Kate warf die Decke ab und stand von ihrem Lager auf. Sie zitterte in ihrem dünnen Hemd. Im Dunkeln fand sie ihr Umschlagtuch und legte es sich eng um die Schultern. »Warum überhaupt etwas tun?« flüsterte sie. »Warum ihn nicht einfach ignorieren – die Tür ist stark genug. Schließlich wird er aufgeben und weggehen.«
Wieder ertönte ein Klopfen, noch dringlicher. Sie lehnten sich ganz eng zusammen.
»Wo soll er denn hin, wenn er verfolgt wird?«
»Dann müssen wir ihm öffnen und ihn abweisen!« antwortete sie kaum hörbar.
»Und wenn er nicht so leicht abzuschrecken ist?«
»Ich werde ihm mitteilen, daß ich nicht helfen kann. Sicherlich wird er nicht endlos darauf beharren.«
Das Klopfen wurde noch lauter, die Stimme flehte dringend.
»Hebamme – ich bitte Euch, öffnet mir! Ich will Euch nichts antun … es geht um Euer Erbarmen!«
»Einen Moment, Herr!« rief Kate zurück. Nachdem sie sich dergestalt bemerkbar gemacht hatte, gab es keine Möglichkeit mehr für irgendwelche Täuschungen.
Sie ignorierte den erstaunten Ausdruck auf Alejandros Miene.
»Er spricht wie ein gebildeter Mann, kann also kein Rohling sein.«
»Das ist keine Garantie dafür, daß er uns keinen Schaden zufügen wird – oder uns verraten. Ein Bauer weiß wahrscheinlich nicht, daß wir gesucht werden. Aber ein gebildeter Mann könnte es wissen.«
Sie sprachen hastig und voller Panik. »Aber warum dann diese List – warum uns nicht einfach ergreifen ohne lange Umstände?«
Eine Verletzung – Arbeit für seine Hände! Gegen sein besseres Wissen stiegen alle heilenden Instinkte des Arztes in Alejandro auf.
In letzter Zeit schienen seine Hände vor Sehnsucht nach dem Werk des Heilens häufig zu zittern. Und es bestand durchaus die Möglichkeit, daß der Mann wirklich Hilfe brauchte.
Bei diesem Gedanken begann Alejandros Herz beinahe zu singen.
Er nickte in Richtung Tür und flüsterte: »Möge Gott geben, daß wir dies nicht bereuen werden.«
Weiteres Klopfen, erneut der flehende Ruf: »Hebamme!«
»Legt Euch auf Euer Lager, Père«, drängte Kate, »und zeigt Euch nicht gleich. Laßt mich der Sache nachgehen.«
»Ich kann nicht zulassen, daß du diesem Mann allein gegenübertrittst …«
»Seid ruhig, ich bitte Euch inständig! Er rechnet mit einer Hebamme, und wir werden ihm eine solche präsentieren. Tut so, als wärt Ihr krank – wenn ich Eure Hilfe oder Euren Rat brauche, werde ich sagen, daß ich nach Euch sehen muß. Dann knie ich mich neben Euch nieder, und wir können miteinander flüstern, ohne daß er uns versteht.«
»Nun gut«, antwortete er leise. »Seit wann bist du so tapfer und schlau?« Er drückte sie für ein paar Augenblicke an sich, spürte ihre kostbare Wärme und sehnte sich schmerzlich nach dem kleinen Mädchen von einst. »Möge Gott uns beschützen.« Widerstrebend ging er zu seinem Bett.
Was sie im flackernden Licht der erhobenen Kerze anstarrte, war nicht der Teufel, den sie erwartet hatte, sondern das erschöpfte Gesicht eines Mannes, den sie noch nie gesehen hatte, weder in dem nahen Dorf Meaux noch bei ihren letzten Touren nördlich von Paris. Kate war sicher, daß sie sich an so auffallende Züge erinnert hätte – aber es handelte sich um einen Unbekannten.
Die Silhouette des überraschenden Besuchers füllte den Türrahmen, und sie konnte sein Bedürfnis einzutreten spüren; aber standhaft versperrte sie ihm mit wundersamem Mut den Weg. Ein Blick im Kerzenschein sagte ihr, daß der Mann jünger war als Père, aber älter als sie selbst. Er besaß intelligente, wachsame Augen und eine hohe Stirn. Und obwohl seine Kleidung nicht ärmlich wirkte, war sie unordentlich und schmutzig, ebenso wie sein Haar. Das mußte ein Handgemenge bewirkt haben.
Sie erwiderte seinen unnachgiebigen Blick ebenso entschlossen.
»Herr, der Apotheker hat meine Fähigkeiten übertrieben, und ich kann nicht …«
Aber er ließ sich nicht abweisen und stieß sie beiseite. Auf der Trage zwischen zwei Stangen, die er über die Schwelle zerrte, lagen zwei Gestalten – eine schwere Bürde selbst für einen Herkules.
»Helft mir mit diesen Verwundeten!« befahl er.
Sie ignorierte seine Forderung und ließ ihn nicht aus den Augen, als er sich über seine Gefährten beugte, von denen einer zu stöhnen und sich zu winden begann. »Karle …«, rief der verwundete Soldat in seinem Schmerz. »Hilf mir, Karle … ich schaffe es sonst nicht!«
Der Fremde winkte gebieterisch mit der Hand. »Bringt das Licht – hier kann man ja gar nichts sehen!«
Kate hielt mit einer Hand ihre Kerze hoch, während der Fremde die Decke wegzog, die beide Männer bedeckte, und als sie das Entsetzliche darunter entdeckte, schickte sie ein verzweifeltes Stoßgebet zum Himmel. Beide Männer trugen zerrissene, schmutzige wollene Kleider, die blutgetränkt waren. Auf den ersten Blick konnte sie nicht sagen, ob beide bluteten oder nur einer, und von wem das Blut stammte.
»Lieber Gott im Himmel«, rief sie, »hat es eine Schlacht gegeben?«
Und dann, mit tieferer Angst in der Stimme, schaute sie den Mann namens Karle entsetzt an und fragte: »Sind Engländer in der Nähe?«
Der Fremde meinte mit einem argwöhnischen Blick: »Hebamme – ich schwöre, Ihr seid zu jung, um diesen Titel zu tragen –, es waren nicht die englischen Hunde, die den guten Zweien hier das angetan haben, sondern die Streitkräfte von Charles von Navarra, ebenfalls Franzosen!«
Während Erleichterung sie durchströmte, hörte Kate, wie Alejandro von seinem Strohlager leise ihren Namen rief. Der Fremde Karle drehte seinen Kopf rasch dorthin, woher der Ruf kam. Seine Hand fuhr sofort an ein Messer, das er am Gürtel trug.
»Das ist mein Vater«, erklärte sie rasch. »Er hat eine schwere Krankheit!« Und ehe Karle protestieren konnte, eilte sie an Alejandros Seite und kniete neben ihm nieder.
»Sei vorsichtig«, flüsterte Alejandro, »das ist gefährlich …«
»Was soll ich tun? Er sagt, daß keine Engländer hier sind.«
»Wir können nicht wissen, was Edwards Agenten alles treiben.«
Einer der Verletzten begann zu jammern. Kate drehte sich um, um zu ihm zurückzukehren, aber Alejandro faßte sie an ihrem Umschlagtuch und hielt sie fest. »Warte!« gab er leise Anweisung. »Tu nichts, sondern beobachte ihn vorläufig.«
»Hebamme!« rief Karle. »Was hält Euch auf? Ihr müßt sofort kommen!«
Sie wandte sich ihm zu und zeigte auf den Liegenden: »Mein Vater …«
Doch die Schreie der Verwundeten – ihre Schmerzen, das quälende Wissen, daß sie von den Schwertern ihrer eigenen Landsleute gefällt worden waren – übertönten ihre Worte. Schließlich konnte Alejandro es nicht mehr ertragen. Unter gemurmelten Flüchen warf er seine Decke ab und erhob sich von seinem Lager. Er ging direkt auf die beiden Leidenden zu und bückte sich zu ihnen nieder. »Leuchte mir!« sagte er. Kate hielt die Kerze so, daß ihr Schein dahin fiel, wo er ihn brauchte.
Karle starrte er auf den Arzt und dann auf die Tochter. »Ihr untertreibt Eure Fähigkeiten«, knurrte er. »Bei Eurem leidenden Vater habt Ihr anscheinend ein Wunder vollbracht, Hebamme!«
Den Titel sprach er mit unverhohlener Verachtung aus. »Aber vielleicht sollte ich diesen Herren so anreden und nicht Euch.«
Alejandro unterbrach die Untersuchung der stöhnenden Krieger und stand abrupt auf. Er streckte eine blutige Hand aus, und da Kate ihm jahrelang assistiert hatte, wußte sie, daß ihr père ein Tuch wollte. Sie reichte ihm eines, er wischte sich das Blut von den Händen und stellte sich dicht vor dem Jüngeren auf. »Redet mich an, wie Ihr wollt«, warnte er ihn, »aber sprecht nicht in diesem Ton mit meiner Tochter!«
Sie maßen einander mit kämpferischen Blicken. Keiner schien die Oberhand über den anderen zu gewinnen, doch schließlich lenkte der ungebetene Gast ein. »Ich wollte nicht respektlos sein«, sagte Guillaume Karle, »weder zu Euch noch zu ihr. Und ich habe auch nicht die Absicht, einem von Euch Schaden zuzufügen. Genaugenommen hatte ich nur eine Hebamme erwartet. Eure Lebensumstände interessieren mich nicht. Ich darf mich nicht sehen lassen, denn hier in der Gegend kennt mich jeder, und wie Ihr merkt, hat die Nacht – Schwierigkeiten gebracht.« Er wies auf seine verwundeten Kameraden. »Für alles werde ich dankbar sein, wenn Ihr oder Eure Tochter Euch um diese beiden kümmert.« Er schluckte schwer. »Jetzt, da Ihr sie gesehen habt«, führt er fort, »was meint Ihr?«
Alejandros abwehrende Haltung lockerte sich ein wenig. Er legte das blutige Tuch auf den Tisch, nahm Karle beim Ellbogen und führte ihn außer Hörweite der Getroffenen. »Einer wird durchkommen; ich werde ihm den Arm abnehmen müssen, aber das kann er überleben.«
»Ihr besitzt die Fähigkeit, das zu tun?«
Alejandro nickte langsam und müde. »Ich bin Arzt.«
Der Blick, den Karle ihm zuwarf, verriet echte Hochachtung.
»Dann habt Ihr Euch gut versteckt, mein Herr! Es heißt, hier in der Gegend gäbe es keine Ärzte.«
»Nicht gut genug, denke ich, da Ihr mich leider gefunden habt. Aber wenn Ihr mich nicht gefunden hättet, hättet Ihr auch die Kraft gefunden, den Arm selbst abzunehmen – in einem Notfall – glaubt mir – ist das möglich.«
Karles Miene verriet Zweifel. »Ich kann nicht sagen, ob ich die Kraft dazu in mir gefunden hätte. Was ist mit dem anderen?«
Alejandro seufzte und schüttelte langsam den Kopf. »Seid Ihr ein barmherziger Mensch?« fragte er.
Als sei er beleidigt, reckte Karle das Kinn und sagte: »Nur zu sehr.«
»Dann müßt Ihr dem anderen Eure Gunst erweisen, indem Ihr ihn schnell erlöst. Er wird nicht länger überleben als ein paar Stunden, und die werden qualvoll sein, das versichere ich Euch. Ich habe genug Laudanum, um den ruhigzustellen, dessen Arm abgenommen werden muß – aber nicht genug, um die Schmerzen des anderen zu lindern. Denen ist am besten mit einem scharfen Schwert ein Ende zu bereiten.«
Karle schaute voller Schrecken über Alejandros Schulter nach seinen beiden Kriegern; Kate tat ihr Bestes, wischte ihnen sanft den Schweiß von der Stirn und säuberte ihre Gesichter mit kühlem Wasser.
»Habt Ihr kein Gift?« erkundigte er sich flehentlich.
Alejandro sah Karle erneut in die Augen. Er erkannte darin den gleichen Ausdruck, den er oft bei seinem eigenen Spiegelbild gesehen hatte, die Furcht und Unsicherheit eines Mannes auf der Flucht. Zweifellos würde er nichts verlieren, wenn er offen sprach.
»Ich bin in den Heilkünsten bewandert und habe einen Eid geschworen, niemandem Schaden zuzufügen. Diesen Eid habe ich häufiger gebrochen, als ich mich erinnern möchte; aber ich beabsichtige nicht, das jetzt wieder zu tun. Und ich kenne mich mit Giften nicht aus. Diese Dinge sind das Geschäft des Apothekers. Oder des Alchimisten. Mein Beruf beinhaltet etwas anderes.«
»Ich wollte Euch nicht kränken …«
»Das bin ich auch nicht. Also, dieser Mann ist Euer Kamerad, nicht wahr?«
Karle senkte mitfühlend den Blick; ohne daß er es wollte, erinnerte er sich wieder an den Kampf. »Oho! Und ein wertvoller dazu.«
»Dann seid ihm ein ebenso wertvoller Freund und erlöst ihn!«
Widerstreben und Entsetzen breiteten sich auf Karles Gesicht aus. »Im Kampf habe ich viele Soldaten getötet«, erklärte er, »aber nie einen meiner eigenen. Zwar war ich bei so etwas schon Zeuge – aber ich weiß nicht, ob ich die Willenskraft besitze, es selbst zu tun.«
Alejandro legte Karle sanft eine Hand auf die Brust, direkt über dem Herzen. Karle versteifte sich, wich aber nicht zurück. »Zielt mit dem Schwert waagerecht so, daß es zwischen diese Rippen gleitet«, er zeigte mit den Fingern auf die genaue Stelle, »und dann stoßt einmal schnell zu.«
Karle zuckte zusammen, als spüre er das Schwert zwischen seinen eigenen Rippen.
»Die Methode ist nicht anders, als wenn man einen Eber oder ein anderes Tier erlegt«, erläuterte Alejandro ernst. »Obwohl sie Euch viel entsetzlicher vorkommen mag. Aber wenn der Sterbende rasch zu seinem Gott geschickt wird, können wir unsere Anstrengungen auf den konzentrieren, der vielleicht eine Chance hat.« Er starrte Karle nochmals in die Augen. »Ich denke, wir müssen uns rasch entscheiden, nicht wahr?«
Der Mann mit dem bernsteinfarbenen Haar wußte, daß Alejandro sein Vertrauen verdiente.
Sie hoben den Soldaten, der gerettet werden konnte, von der Trage und legten ihn auf den langen Tisch in der Mitte der dunklen Hütte. Alejandro gab Karle das blutige Tuch und flüsterte: »Legt dies um das Schwert, um das Blut aufzusaugen, bevor Ihr zustoßt. Es wird blutig genug zugehen, wenn wir diesem hier den Arm abnehmen. Und jetzt beeilt Euch, sonst verlieren wir alle beide.«
Der Arzt wandte sich ab. Guillaume Karle stand über seinem tödlich verwundeten Kameraden, das Tuch in der einen Hand, sein Schwert in der anderen. Tränen füllten seine Augen, als er die Spitze des Schwertes auf die Brust des Mannes setzte. Er bekreuzigte sich und tat tapfer seine Pflicht. Der Sterbende bäumte sich auf und stieß scharf die Luft aus, schrie aber nicht. Dann fiel er schlaff zurück, und Blut begann aus seinem offenen Mund zu sickern.
Alejandro nickte Karle erbarmungsvoll zu und sagte: »Ihr habt Mut gezeigt. Der Mann ist gut und ehrenhaft gestorben. Jetzt schiebt ihn zur Seite und kommt her; Eure Hilfe wird gebraucht.«
Karle war zu benommen, um an Protest auch nur zu denken, und befolgte die Anweisung. Also kam er zum Tisch, wo Kate und Alejandro geschäftig bei der Arbeit waren. Sie hatten dem Soldaten schon den Ärmel aufgeschnitten, um das verstümmelte Glied freizulegen; und die Blutung ging jetzt langsamer vonstatten, da sie ihm einen Streifen des abgeschnittenen Ärmels fest um den Oberarm gebunden hatten. Das Blut sprudelte nicht mehr, sondern sickerte nur noch; trotzdem war die Haut des Mannes geisterhaft blaß.
Wieder ließ sich der Arzt vernehmen: »Es ist wenig Zeit – ich habe ihn schon mit Laudanum betäubt, aber die Wirkung wird nicht lange anhalten. Er wird etwas von dem spüren, was wir tun – also müßt Ihr Euch mit Eurem ganzen Gewicht auf seine Brust legen und ihn festhalten.« Mit dem Stiel eines hölzernen Löffels berührte er sanft die Lippen seines Patienten; dieser nahm ihn unwillkürlich zwischen die Zähne und biß zu. »Schreit ruhig, wenn es Euch Erleichterung verschafft«, sagte er zu dem schlotternden Soldaten, »aber behaltet den Stiel im Mund, dann wird Euch außerhalb dieser Wände niemand hören. Ich mache es so rasch wie möglich.«
Kurz berührte er die verschwitzte Stirn des Mannes. »Gott sei mit Euch!«
Karle umfing den Kameraden mit eiserner Kraft; aber er wandte sich ab, denn das schiere Entsetzen auf dessen Gesicht konnte er nicht ertragen. Er ließ seine Augen schweifen. Sie kamen auf den Geräten zur Ruhe, die an der Tischkante bereitlagen, ein genauso unangenehmer Anblick. Mehr als einmal hatte er gesehen, wie ähnliche Werkzeuge benutzt wurden, um einen Menschen absichtlich langsam zu zerreißen und zu vierteilen. Doch die Bewegungen des Arztes waren von dankenswerter Geschicklichkeit und wesentlich geübter, als Karle erwartet hatte; der Verwundete rührte sich nicht. Statt dessen verlor er das Bewußtsein, und für diese Gnade flüsterte Karle ein tief empfundenes Gebet.
»Wir sind fertig«, murmelte Alejandro. Er berührte Karles Schulter. »Ihr braucht ihn nicht mehr festzuhalten.« Beim Herdfeuer zog er ein Eisen aus den Kohlen. Er drückte die glühende Spitze an den blutigen Stumpf des Oberarms. Es zischte, und dann verbreitete sich ein schrecklicher Gestank – alle drei wandten die Köpfe ab. Als die Wunde ausgebrannt war, goß Alejandro Wein über den geschwärzten Stumpf und wickelte ihn in saubere Stoffbandagen.
Nach getaner Arbeit setzte er sich auf eine Bank an der Wand und vergrub den Kopf in den Händen. Angestrengt versuchte er, durchzuatmen, und richtete das Wort an die beiden anderen. »Die Luft hier drinnen ist schlecht.«
Er ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und schaute hinaus. »In der Dunkelheit rührt sich nichts«, sagte er dann und winkte. »Kommt heraus in die Natur. Das wird Eure Sinne reinigen.«
Aber Karle wollte seinen Kameraden auf dem Tisch nicht verlassen. Alejandro beruhigte ihn. »Er kann sich nicht bewegen, denn sein Körper hat eine schwerste Verletzung erlitten.«
Die Tochter folgte dem Vater hinaus in die Dunkelheit und stellte sich neben ihn. Alejandro legte ihr fürsorglich einen Arm um die Schultern. Im Dunkeln ahnte Karle, daß die beiden sich gegenseitig Trost spendeten. Die Nacht war jetzt samtschwarz, und er konnte nur ihre Silhouetten ausmachen; es überraschte ihn, daß die junge Frau eine Spur größer war als der Mann, den sie »Père« nannte. Er beobachtete, wie der Arzt ihr väterlich über das Haar strich und sie zu beruhigen trachtete, während sie an seiner Schulter weinte.
Und obwohl die Ereignisse der Nacht ihn in einen Zustand versetzt hatten, in dem zusammenhängendes Denken eigentlich nicht vorkam, war er kurz verwirrt darüber, wie wenig die beiden einander zu ähneln schienen.
Als Tageslicht in die kleine Hütte drang, saß nun Guillaume Karle auf der Bank und beobachtete, wie die Brust seines bewußtlosen Kameraden sich langsam hob und senkte. Was vom linken Arm des Mannes übrig war, steckte in einem blutigen Verband; aber die Farbe des ausgetretenen Bluts war nicht das helle Rot, vor dem der Arzt ihn gewarnt hatte; es war die blasse, trübe Farbe, die anzeigte, daß alles einigermaßen hoffnungsvoll verlief.
Er schaute zu seinen beiden Wohltätern hinüber und gestattete sich jetzt, da keine Eile mehr vonnöten war, ein näheres Hinsehen. Der Ältere lag auf einer Pritsche aus Stroh, halb eingenickt, aber ein Auge war halb offen. Karle hatte das Gefühl, daß der Mann es kannte, keine wirkliche Ruhe zu finden. Dahinter lag das Mädchen Kate auf einem eigenen Lager. Der Arzt war ein schlanker, knochiger Mann mit dunklem, olivfarbenem Teint und weichen, kohlschwarzen Locken. Er sah merkwürdig gut aus mit seinen langen Gliedmaßen und fein geformten Händen. Kate wies ebenfalls eine gewisse Größe und schöne Gestalt auf; aber sie war hell und rosig, fast nordisch in ihren Farben, und in der letzten Nacht hatten ihre Augen im Kerzenlicht blau gefunkelt.
Als merke er, daß er beobachtet wurde, bewegte sich der Arzt und schlug die Augen ganz auf. Er stützte sich auf einen Ellbogen und begegnete Karles Blick. »Was ist mit Eurem Kameraden?« erkundigte er sich sofort.
»Er ist ruhig«, antwortete Karle, »er schläft jetzt. Ich habe ihn daran gehindert, sich zu bewegen, gemäß Eurer Empfehlung.«
»Gut gemacht«, lobte Alejandro, während er aufstand. Er warf einen raschen Blick auf den Verband um den Stumpf und meinte dann: »Keine frische Blutung! Das verheißt Gutes.«
Eine Schüssel aus dem Schrank füllte er mit Wasser aus einem großen Krug, der am Rande des Herdes stand; dann zog er sein Hemd aus und begann, sich zu waschen, zuerst das Gesicht, dann den Oberkörper, außerdem mit peinlicher Gründlichkeit seine Hände. Obwohl Alejandro den Körper so neigte, daß seine Brust nicht ganz zu sehen war, erhaschte Karle einen schnellen Blick auf etwas, das er für eine Narbe hielt. Der Franzose überlegte einen Moment, nach der Narbe zu fragen – beschloß aber, es zu lassen.
Der Arzt jedoch unternahm keinen Versuch, seine eigene Neugier zu beherrschen. Während er sich ankleidete, sagte er: »Ich habe nichts von Kämpfen in der Gegend gehört. Wie kam es, daß diese Männer verwundet wurden? Und entgegen Eurer Behauptung geht das Gerücht, daß es im nächsten Ort einen Arzt gibt. Warum habt Ihr nicht seine Dienste in Anspruch genommen, statt eine Hebamme aufzusuchen?«
»Welche Frage soll ich zuerst beantworten?« wollte Karle müde wissen.
»Welche Ihr wollt«, antwortete Alejandro mit ähnlicher Müdigkeit. »Aber ich erwarte Aufrichtigkeit.«
Karle sah ihm direkt in die Augen. »Wie Ihr wünscht«, sagte er. »Doch wenn ich mit den Antworten fertig bin, möchte ich auch von Euch einige haben.«
»Zweifellos.« Alejandro nickte. »Wir werden sehen, ob Ihr sie bekommt. Gegenwärtig steht Ihr weit mehr in meiner Schuld als ich in Eurer.« Er betrachtete den bewußtlosen Soldaten. »Ihr werdet bezahlen, indem Ihr sprecht. Fangt damit an, daß Ihr mir Euren Namen nennt.«
Der Mann mit dem bernsteinfarbenen Haar zögerte einen Moment, bevor er äußerte: »Ihr habt meinen Kameraden letzte Nacht den Namen aussprechen hören.«
»Er hat Euch Karle genannt«, erinnerte sich Alejandro.
»Guillaume Karle«, ergänzte der andere. »Es gibt viele, die ordentlich bezahlen würden, wenn sie erführen, wo ich bin.« Mit einem schiefen Lächeln fuhr er fort: »Aber ich stehe, wie Ihr sagtet, in Eurer Schuld. Und jetzt erweist mir die Ehre zu erfahren, mit wem ich spreche und warum auch Ihr Euch versteckt.«
Karles schnelle und richtige Einschätzung ihrer Situation überraschte den Arzt. Er hob eine Augenbraue: »Wenn die Zeit gekommen ist. Wie wurden diese Männer verwundet?«
Der Franzose holte tief Luft. »Sie erhoben sich mit mir gegen die Unterdrückung durch den Adel. Ihre Wunden empfingen sie in der Schlacht, mit der sie ihren rechtmäßigen Anteil am Boden Frankreichs forderten.«
Alejandro entdeckte ein besessenes Feuer in den Augen des jungen Mannes und auf der Stirn jene Erschöpfung, die der unvermeidliche Preis dieses Feuers war. »Was bleibt von Frankreich, um verteilt zu werden?« fragte er. »Alles ist an die Freien Compagnies der unabhängigen Ritter gegangen, nicht wahr?«
»Sie haben alles Gold und Silber genommen, was sich abtransportieren ließ«, fuhr Karle empört auf. »Aber Frankreich selbst, die gute Erde Frankreichs, ist noch da und wird immer dasein. Wir wollen nur den Anteil Land, der jedem Mann gestattet, anständig zu leben. Und Freiheit von den unmäßigen Steuern, die der Adel uns aufzwingt, um seine verachtungswürdigen Kriege zu finanzieren.«
»Aha.« Alejandro verstand. »Einfache Forderungen also.«
Karle warf ihm einen scharfen Blick zu. »Aber man muß schon in einem Wandschrank versteckt leben, um von diesen Dingen keine Ahnung zu haben. Wie kommt es, daß Ihr nichts darüber wißt?«
Alejandros Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Von meinen Lebensumständen werden wir sprechen, wenn Ihr Eure genauer dargelegt habt.«
Karle fuhr bereitwillig fort: »Letzte Nacht haben wir den königlichen Palast in Meaux angegriffen. Aber Charles von Navarra war weit besser gerüstet, als wir dachten; außer diesen beiden Männern wurden noch viele andere verwundet. Wer konnte, ist davongelaufen.«
Alejandro dachte an den Weg nach Meaux. Er hatte ihn viele Male zurückgelegt. Bei Tageslicht und ohne Bürde dauerte er weit über eine Stunde. Aber dieser Mann hatte von Meaux aus zwei verwundete Gefährten hinter sich hergezogen, und das alles im trüben Mondlicht. Seine Meinung von dem Eindringling besserte sich.
»Manche fliehen vielleicht nach Hause«, nahm Karle den Faden wieder auf. »Sie werden so viele Verwundete mitnehmen, wie sie können. Aber einige Verletzte sind sicher zurückgelassen worden. Und Gott allein weiß, was aus den Leichen jener wird, die in der Schlacht gefallen sind. Wir konnten nicht zurückbleiben, um sie einzusammeln.«
»Wer wird sich um diesen kümmern?« Alejandro wies auf den Toten auf der Bahre. »Binnen kurzem wird er ein unangenehmer Gesellschafter sein.«
Die schrecklichen Überreste begannen sich aufzublähen, da Fäulnis die inneren Organe befallen hatte. »Es ist wohl meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern«, sagte Karle resigniert.
»Er kann nicht in der Nähe dieser Hütte begraben werden …«
Auf der Stelle schob Alejandro einen Riegel vor.
Karle seufzte. »Dann werde ich ihn in den Wald bringen und dort begraben.« Der Einarmige schlief noch immer auf dem Tisch, und der junge Herr fügte grimmig hinzu: »Zusammen mit Jeans Arm.«
Sie hörten hinter sich etwas rascheln, als Kate sich aufsetzte. »Es gibt im Wald in nördlicher Richtung eine Lichtung«, meldete sie sich. »Dort wachsen viele Beeren, aber in letzter Zeit fanden sich keine Anzeichen dafür, daß jemand dort gewesen wäre. Es ist keine geweihte Erde, doch insgesamt scheint sie für eine Beerdigung geeignet.«
»Ich fürchte, es gibt in ganz Frankreich keinen geweihten Boden mehr«, grollte Karle. »Aber danke, daß Ihr mir diesen Ort genannt habt.«
Sie nickte in Richtung der Leiche. »Alle tapferen Männer verdienen ein würdiges Ende, nicht wahr?«
Alejandro beobachtete, wie Guillaume Karles Augen Kates Anblick in sich aufnahmen und sich dann widerstrebend von ihr lösten. Als die beiden Männern einander wieder anschauten, errötete Karle, als sei er bei einem unschicklichen Gedanken ertappt worden.
»Vielleicht – wenn Ihr damit einverstanden seid – würde Euer père Euch erlauben, mir diese Lichtung zu zeigen«, schlug er leise vor.
Für den Geschmack des Arztes antwortete sie allzu eifrig: »Das will ich gerne tun.«
»Wir werden alle zusammen gehen«, bestimmte Alejandro.
»Und was wird aus meinem Kameraden?« fragte Karle.
»Für seine Bedürfnisse sorgen wir, ehe wir gehen«, sagte der Arzt. »Ihn waschen, ihm Wasser und den Rest Laudanum geben, der mir noch geblieben ist. Und wenn man ihn auf dem Tisch festbindet, braucht man sich keine Sorgen zu machen, ihn für eine Weile allein zu lassen.«
Nicht annähernd solche Sorgen, die ich hätte, wenn Ihr mit Kate allein wärt, dachte er.