Der starrköpfige Idiot Caepio war seltsamerweise besserer Laune, als er sich am nächsten Tag über die Rhône rudern ließ. Bereitwillig hörte er Cotta an.
»Woher die plötzliche Heiterkeit, Quintus Servilius?« fragte Cotta verwirrt.
»Ich erhielt gerade einen Brief aus Smyrna, auf den ich Monate gewartet habe.« Doch anstatt zu erklären, wie dieser Brief zu seiner Aufheiterung beigetragen hatte, wurde Caepio sachlich. »Einverstanden«, sagte er und wies mit einem Stab aus Elfenbein, der mit einem goldenen Adler verziert war, auf die Karte. Den Stab trug er, um den hohen Rang seiner Befehlsgewalt zu unterstreichen. Er hatte immer noch nicht zugestimmt, mit Mallius Maximus selbst zu reden. »Hier werde ich übersetzen.«
»Wäre es nicht klüger, die Rhône im Süden von Arausio zu überqueren?« fragte Cotta zweifelnd.
»Bestimmt nicht! Wenn ich im Norden übersetze, bin ich näher bei den Germanen.«
Und dabei blieb Caepio. Am nächsten Morgen räumte er sein Lager und marschierte zu einer Furt, die sich zwanzig Meilen nördlich von Mallius Maximus’ Lager befand, zehn Meilen südlich vom Lager der Kavallerie.
Cotta und die fünf anderen Senatoren befanden sich auf dem Weg zu Aurelius Lager, denn sie wollten dort sein, wenn die germanischen Häuptlinge zu Verhandlungen erschienen. Unterwegs stießen sie auf Caepios Armee, und bei dem Anblick stockte ihnen das Blut in den Adern. Der größte Teil der Armee war bereits am Ostufer und arbeitete daran, ein stark befestigtes Lager zu errichten.
»Oh, Quintus Servilius, hier kannst du doch nicht bleiben!« rief Cotta, als sie ihn endlich auf einer Hügelkuppe oberhalb des neuen Lagers gefunden hatten. Unten eilten kleine Figuren hin und her, hoben Gräben aus und errichteten Wälle.
»Warum nicht?« fragte Caepio und zog die Augenbrauen hoch.
»Weil zwanzig Meilen südlich von hier bereits ein Lager errichtet ist - groß genug, um deine Legionen nebst den zehn, die schon dort sind, aufzunehmen! Dort mußt du hin, Quintus Servilius! Hier bist du zu weit von Aurelius und Gnaeus Mallius entfernt, als daß du ihnen helfen könntest - oder sie dir! Bitte, Quintus Servilius! Errichte hier ein normales Lager für die Nacht und marschiere morgen zu Gnaeus Mallius!« sagte Cotta und legte seine ganze Überzeugungskraft in seine Worte.
»Ich habe gesagt, daß ich den Fluß überqueren werde, aber ich habe nicht gesagt, was ich danach tun werde! Ich habe sieben Legionen, hervorragend ausgebildete, erfahrene Soldaten. Und nicht nur das, sie sind keine Besitzlosen, sondern echte römische Soldaten! Glaubst du wirklich, ich würde das Lager mit diesem römischen und italischen Pöbel teilen? Mit kleinen Pächtern und Tagelöhnern, Männern, die weder lesen noch schreiben können? Eher würde ich sterben, Marcus Cotta!«
»Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen«, meinte Cotta trocken.
»Weder meine Armee noch ich werden sterben«, erwiderte Caepio verbissen. »Ich bin hier zwanzig Meilen nördlich von Gnaeus Mallius und seinem ekligen Pöbel. Das bedeutet, daß die Germanen zuerst auf mich treffen. Und ich werde sie schlagen, Marcus Cotta! Selbst eine ganze Million Barbaren kann sieben echte römische Legionen nicht besiegen! Und dieser - dieser billige Händler Mallius soll den Ruhm einheimsen? Nie! Quintus Servilius Caepio wird seinen zweiten Triumphzug durch die Straßen Roms erleben! Mallius wird sich mit dem Zuschauen begnügen müssen.«
Cotta beugte sich in seinem Sattel vor und umklammerte Caepios Arm. »Quintus Servilius«, sagte er beschwörend, »ich flehe dich an, vereinige deine Kräfte mit Gnaeus Mallius! Kommt es darauf an, wer gewinnt, solange Rom gewinnt? Das ist kein kleiner Grenzkrieg gegen ein paar Skordisker, keine unbedeutende Auseinandersetzung mit den Lusitanern! Wir werden die größte und beste Armee brauchen, die Rom je aufgestellt hat. Gnaeus Mallius’ Armee hatte nicht so viel Zeit, an den Waffen zu üben, wie deine Männer. Deine Männer werden ihnen im Kampf zeigen, was zu tun ist. Und ich sage dir mit allem Nachdruck, es wird eine Schlacht geben! Egal, wie sich die Germanen in der Vergangenheit verhalten haben, diesmal wird es zur Schlacht kommen. Sie haben unser Blut gerochen und wollen mehr, sie haben unsere Stärke erprobt und uns schwach gefunden. Rom ist in Gefahr, Quintus Servilius! Bitte, ändere deine Meinung! Marschiere morgen zu Gnaeus Mallius’ Lager und vereinige deine Armee mit seiner.«
Caepio trieb sein Pferd an und ließ Cotta stehen. »Nein«, rief er. »Ich bleibe hier.«
So ritten Cotta und die anderen Senatoren weiter nach Norden zum Lager der Kavallerie, während Caepio sein Lager am Flußufer errichtete, kleiner als das Lager von Mallius Maximus, ansonsten jedoch ein genaues Abbild.
Die Senatoren trafen gerade zur rechten Zeit bei Aurelius ein, denn kurz nach Sonnenaufgang am nächsten Tag kamen die germanischen Unterhändler. Ungefähr fünfzig Männer sind es, alle im Alter zwischen vierzig und sechzig, dachte Cotta, der noch nie so große Männer gesehen hatte. Keiner war weniger als sechs Fuß groß, die meisten sogar größer. Auch ihre Pferde waren ungewöhnlich groß und für römische Vorstellungen ziemlich zottig und verfilzt. Die riesigen Hufe waren mit Fell bedeckt, über die sanften Augen fielen lange Mähnen, keines trug einen Sattel, doch alle waren aufgezäumt
»Ihre Pferde sehen aus wie Kriegselefanten«, bemerkte Cotta.
»Nur ein paar von ihnen«, erwiderte Aurelius ungerührt. »Die meisten reiten normale gallische Pferde. Diese Männer hier können sich ihre Tiere aussuchen, vermute ich.«
»Schau dir den an, den jüngeren dort!« rief Cotta aus und wies mit dem Kopf auf einen Mann, nicht älter als dreißig, der gerade vom Rücken seines Pferdes glitt. Seine Haltung war ausgesprochen selbstbewußt, während er seine Umgebung mit überlegener Gelassenheit musterte.
»Achilles«, meinte Aurelius.
»Ich dachte, die Germanen würden nackt gehen bis auf einen Umhang«, sagte Cotta und betrachtete die ledernen Beinkleider.
»In Germanien gehen sie wohl tatsächlich nackt, aber die Germanen, die ich bisher gesehen habe, haben Hosen getragen wie die Gallier.«
Hosen trugen sie alle, doch in der Sommerhitze keine Hemden. Viele waren mit breiten goldenen Ketten geschmückt, die die halbe Brust bedeckten. An Schwertgurten hingen die leeren Scheiden für ihre Langschwerter, ebenfalls reich mit Gold verziert. Überall trugen die Germanen Gold - Halsketten aus Gold, Armbänder aus Gold, goldbesetzte Helme, Gold an Schwertscheiden und Gürteln. Cotta konnte den Blick nicht von ihren Helmen wenden: Randlos, in der Form Schüsseln ähnlich, waren sie über den Ohren mit großartigen Hörnern geschmückt oder mit Flügeln oder kleinen Röhren, aus denen Federn ragten. Andere sahen aus wie Schlangen- oder Drachenköpfe oder schreckliche. Vögel, ja sogar Wildkatzen mit aufgerissenem Rachen waren vertreten.
Keiner der Männer hatte einen Bart, und die langen, blonden Haupthaare hingen geflochten oder lose über die Schultern. Die Brust war bei den meisten nur spärlich behaart. Ihre Haut war nicht so rosa wie die Haut der Kelten, dachte Cotta, eher blaßgolden.
Auch konnte er weder rotes Haar noch Sommersprossen entdecken. Die Augen waren hellblau, keine Spur von Grau oder Grün. Selbst die Älteren wirkten kräftig und durchtrainiert, sie hatten kein Ansatz von Fettleibigkeit und keine schlaffe Haut. Die Römer wußten allerdings nicht, daß die Germanen erbarmungslos alle Männer töteten, die sich gehenließen.
Die Verhandlungen wurden mit Hilfe von Aurelius’ Dolmetschern geführt, die meisten waren Häduer oder Ambarrer, zwei oder drei auch Germanen, die Carbo gefangengenommen hatte, bevor er bei Noricum besiegt wurde. Die germanischen Häuptlinge erklärten, daß sie auf ihrem Weg nach Spanien freien Durchzug durch Gallia Transalpina wünschten. Aurelius führte selbst die einleitenden Verhandlungen, dazu hatte er eigens die volle Paraderüstung angelegt - den silbernen Brustpanzer, der dem Körper genau angepaßt war, den attischen Helm aus Silber mit einem scharlachroten Federbusch und den pteryges, einen kurzen Lendenschutz aus steifem Leder, der über der dunkelroten Toga getragen wurde. Als Konsular trug er zudem einen violetten Umhang, der an den Schulterteilen des Brustpanzers befestigt war, und als Zeichen seines militärischen Rangs war über der Brust ein purpurfarbenes Band mit den traditionell geknoteten Schlaufen angebracht.
Cotta beobachtete die Gespräche wie unter einem Bann und mit einer Angst, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Er war sich sicher, Roms Verhängnis vor sich zu sehen. Noch Monate danach verfolgten ihn diese germanischen Häuptlinge bis in den Schlaf, so unermüdlich, daß er seine Tage wie betäubt verbrachte, und selbst als sie ihren größten Schrecken verloren hatten, erwachte er manchmal aufrecht sitzend und mit aufgerissenem Mund in seinem Bett, wenn sie wieder einmal mit ihren riesigen Pferden durch seine schrecklichen Alpträume geritten waren. Die Kundschafter hatten von mehr als siebenhundertfünfzigtausend berichtet, und das bedeutete mindestens dreihunderttausend riesenhafte Krieger. Wie jeder Mann seiner Stellung hatte Cotta oft genug mit barbarischen Kriegern zu tun gehabt, mit Skordiskern und Japuden, mit Salassern und Carpetanern, aber solche Männer wie die Germanen hatte er noch nie gesehen. Die Römer hatten die Gallier immer für Riesen gehalten - verglichen mit den Germanen waren die Gallier jedoch nur durchschnittlich groß.
Aber das Schlimmste war, daß Rom selbst an seinem Verhängnis tatkräftig mitwirkte, weil es die germanische Bedrohung einfach nicht ernst genug nahm und den Machtkampf zwischen Gnaeus Mallius und Quintus Servilius nicht energisch unterband. Wie wollte Rom die Germanen besiegen, solange die beiden römischen Befehlshaber nicht einmal ein gemeinsames Lager aufschlugen? Solange sie sich gegenseitig beschimpften und auf den Soldaten des jeweils anderen herumhackten? Würden die beiden Feldherren zusammenarbeiten, hätte Rom eine Armee von knapp hunderttausend Mann, und bei guter Moral im Heer, bei umfassender Ausbildung der Soldaten und fähiger Führung könnte das für den Kampf gegen die Germanen gerade ausreichen.
Ja, dachte Cotta, und dabei krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen, heute habe ich die Verkörperung von Roms Schicksal vor mir gesehen! Wir werden mit dem Ansturm dieser blonden Horde nicht fertig werden. Jedenfalls nicht, solange wir nicht einmal mit uns selbst fertig werden.
Aurelius brach die einleitenden Gespräche ab, um beiden Seiten Gelegenheit zu Beratungen mit ihren eigenen Leuten zu geben.
»Nun«, sagte Aurelius zu Cotta und den anderen fünf Senatoren, »wir haben einiges in Erfahrung bringen können. Sie selbst nennen sich nicht Germanen, sondern betrachten sich als Bund dreier verschiedener Stämme - hauptsächlich Kimbern und Teutonen und eine dritte Gruppe kleinerer Stämme. Diese dritte Gruppe besteht aus Markomannen, Cheruskern und Tigurinern, die sich den Kimbern und Teutonen auf ihren Wanderungen angeschlossen haben. Nach Auskunft meiner Dolmetscher sind sie eher keltischen als germanischen Ursprungs.«
»Wanderungen?« fragte Cotta. »Wie lange sind sie denn schon unterwegs?«
»Das scheinen sie selbst nicht zu wissen, aber auf jeden Fall viele Jahre. Vielleicht seit einer Generation. Der junge Mann, der aussieht wie ein germanischer Achilles, war noch ein Kind, als sein Stamm, die Kimbern, seine Heimat verließ.«
»Haben sie einen König?«
»Nein. Sie werden von einem Rat der Stammeshäuptlinge geführt, den größten Teil davon siehst du vor dir. Dieser barbarische Achilles scheint jedoch sehr schnell aufzusteigen in diesem Rat, und immer mehr bezeichnen ihn als König. Er heißt Boiorix und ist entschieden der Selbstbewußteste von ihnen. Er will nicht mit uns verhandeln, denn seiner Meinung nach ist Macht auch Recht, und er will uns nicht um freien Durchgang nach Spanien bitten. Er will einfach weiterziehen, egal, was wir davon halten.«
»Gefährlich jung, um sich selbst König zu nennen. Ich stimme dir zu, er wird uns Ärger machen«, sagte Cotta.
»Und wer ist der Mann dort drüben?« Er deutete unauffällig auf einen Mann um die Vierzig, der einen goldenen Brustschmuck und andere goldene Verzierungen trug.
»Das ist Teutobod, der oberste Häuptling der Teutonen. Er läßt sich ebenfalls gern König nennen. Wie Boiorix denkt er, daß Macht Recht ist und daß sie einfach nach Süden ziehen sollten, ohne sich um Rom zu kümmern. Das alles gefällt mir überhaupt nicht, Vetter. Meine beiden germanischen Dolmetscher sind der Meinung, die Stimmung sei ganz anders als zu Carbos Zeiten. Die Germanen sind selbstbewußter geworden, und sie haben keinen Respekt mehr vor uns. Sie fangen an, uns zu verachten.« Aurelius biß sich auf die Lippen. »In der Zeit, die sie bei den Häduern und den Ambarrern verbrachten, haben sie einiges über Rom gelernt. Jetzt haben sie keine Angst mehr vor Rom, und nicht nur das - bisher haben sie jede Auseinandersetzung mit uns gewonnen, ausgenommen vielleicht diesen ersten Kampf mit Lucius Cassius, aber nur, wenn man nicht an die tragischen Folgen denkt. Jetzt reden Boiorix und Teutobod ihnen ein, daß sie keinen Grund hätten, uns zu fürchten. Auch wenn wir besser ausgerüstet seien und besser trainiert. Wir seien nichts als Schreckgespenster für kleine Kinder, alles nur Einbildung, Popanz. Boiorix und Teutobod wollen den Kampf. Wenn Rom erst einmal geschlagen ist, können sie herumziehen - und sich niederlassen -, wo sie wollen.«
Die Verhandlungen wurden weitergeführt, und diesmal bezog Aurelius seine sechs Gäste mit ein. Sie alle trugen ihre Togen und wurden von zwölf Liktoren in purpurroten Tuniken und mit breiten, goldbeschlagenen Gürteln eskortiert. Die Liktoren trugen Rutenbündel und Äxte. Natürlich hatten die Germanen die Senatoren bereits bemerkt, doch nach der gegenseitigen Vorstellung starrten sie mit offener Verwunderung auf die bauschigen, weißen, so ganz und gar nicht kriegerisch aussehenden Gewänder der Römer. So sahen die Römer aus? Nur Cotta trug die purpurgeränderte toga praetexta als Zeichen, daß er ein kurulisches Amt innehatte, und deshalb sprachen die Germanen zu ihm in ihren fremdartig klingenden, unverständlichen Reden.
Cotta bewährte sich auch in dieser schwierigen Situation, er blieb stolz, unnahbar, bedächtig und sprach mit ruhiger Stimme. Allerdings verwunderte ihn das Auftreten seiner Gegner: Die Germanen schienen es als ganz natürlich und keineswegs als würdelos zu empfinden, daß sie vor Wut rot anliefen, ihre Worte mit Spucken bekräftigten und mit der Faust auf die flache Hand schlugen. Doch es war deutlich, daß die unerschütterliche Ruhe der Römer sie verwirrte und aus dem Konzept brachte.
Vom Anfang der Verhandlungen bis zu ihrem Ende blieb Cottas Antwort gleich: nein. Nein, die Wanderung nach Süden könne nicht fortgesetzt werden, nein, das germanische Volk werde kein Wegerecht durch römisches Gebiet oder römische Provinzen erhalten, nein, sie könnten sich nicht in Spanien niederlassen, es sei denn auf Land der Lusitaner oder der Cantabrer, alles übrige Land in Spanien sei römische Provinz. Geht wieder nach Norden, sagte Cotta immer wieder. Geht nach Hause, wo immer das sein mag. Oder geht über den Rhein nach Germanien und siedelt bei euren eigenen Leuten.
Erst als die Dämmerung völliger Dunkelheit gewichen war, schwangen sich die fünfzig germanischen Häuptlinge wieder auf ihre Pferde und ritten davon. Boiorix und Teutobod ritten als letzte weg, und Boiorix drehte den Kopf, damit er die Römer so lange wie möglich ansehen konnte. Sein Blick zeigte weder Sympathie noch Bewunderung. Aurelius hat recht, dachte Cotta, Boiorix ist ein Achilles, obwohl er diesen Vergleich zunächst seltsam gefunden hatte. Erst im Laufe der Verhandlungen hatte er bemerkt, daß in dem hübschen Gesicht des jungen Mannes die ganze sture, unbarmherzige, rachsüchtige Kraft des Achilles zu finden war. Auch er schien ihm ein Mann, der wegen einer kleinen Kränkung seiner Ehre tatenlos auf seinem Schiff bleiben würde, während seine Landsleute reihenweise abgeschlachtet wurden. Cottas Herz pochte dumpf und verzweifelt - mußte man nicht das gleiche von Quintus Servilius Caepio sagen?
Zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit ging der Vollmond auf. Nachdem die sechs Senatoren die unbequemen Togen abgelegt hatten, nahmen sie ernüchtert und schweigend ihr Abendessen an Aurelius’ Tafel ein, bevor sie wieder nach Süden reiten wollten.
»Wartet bis morgen«, bat Aurelius. »Wir sind hier nicht in Italien, es gibt keine sicheren römischen Straßen, und ihr kennt die Gegend nicht. Auf ein paar Stunden wird es nicht ankommen.«
»Nein, ich möchte bei Sonnenaufgang in Quintus Servilius’ Lager sein«, erwiderte Cotta. »Ich muß noch einmal versuchen, ihn dazu zu bringen, daß er sich Gnaeus Mallius anschließt. Ich werde ihm erzählen, was sich heute hier abgespielt hat. Doch wie Quintus Servilius auch entscheidet, ich werde auf jeden Fall morgen noch zu Gnaeus Mallius zurückreiten. Bevor ich nicht auch mit ihm gesprochen habe, kann ich kein Auge zutun.«
Cotta und Aurelius gaben sich die Hände. Als Cotta und die Senatoren dann mit ihrer Eskorte von Liktoren und Sklaven in die Dunkelheit hinausritten, winkte Aurelius ihnen mit erhobenem Arm lange nach. Im Licht des Mondes und des Lagerfeuers war seine Gestalt deutlich zu erkennen.
Ich werde ihn nicht wiedersehen, dachte Cotta. Ein tapferer Mann, einer der besten Männer Roms.
Caepio hörte Cotta nicht einmal bis zu Ende an, und auf die Stimme der Vernunft hörte er erst recht nicht.
»Ich werde hierbleiben.« Das war seine ganze Antwort.
So machte sich Cotta wieder auf den Weg, ohne auch nur seinen Durst in Caepios halbfertigem Lager gelöscht zu haben. Er wollte spätestens am Mittag bei Gnaeus Mallius Maximus sein.
Noch bevor die Sonne ganz aufgegangen war, während der ergebnislosen Unterredung von Cotta und Caepio, begannen die Germanen vorzurücken. Es war der zweite Tag des Oktobers, das Wetter war immer noch schön, in der Luft lag keine Spur von Kälte. Als die ersten Reihen der germanischen Menschenmassen die Wälle von Aurelius’ Lager erreichten, überrollten sie sie einfach, Welle um Welle, bevor Aurelius begriff, was geschah. Er hatte angenommen, daß er genügend Zeit haben würde, seine Kavallerie zu alarmieren - die höchst sorgfältig befestigten Lagerwälle hätten die Germanen so lange aufhalten müssen, bis er seine Truppen aus dem Hintereingang des Lagers geführt und einen Flankenangriff begonnen hätte. Doch es kam ganz anders. Die Germanen rückten so schnell vor, daß das Lager innerhalb kürzester Zeit vollständig umzingelt war, und sie quollen zu Tausenden über die Wälle. Aurelius’ Kavallerie gab ihr Bestes, doch sie war nicht an Kämpfe zu Fuß gewöhnt. Es war mehr ein Gemetzel als ein Kampf, und nach einer halben Stunden waren fast alle Römer und Angehörigen der Hilfstruppe ausgelöscht. Marcus Aurelius Scaurus wurde gefangengenommen, bevor er sich in sein Schwert stürzen konnte.
Die Germanen schleppten Aurelius vor Boiorix, Teutobod und die anderen Häuptlinge, die an den Verhandlungen teilgenommen hatten. Seine Haltung war großartig, er blieb stolz und unbeugsam.
Keine Entwürdigung, kein körperlicher Schmerz konnte ihn dazu bringen, den Kopf zu beugen oder nur mit einer Wimper zu zucken. Schließlich steckten ihn die Germanen in einen Käfig aus Weidengeflecht, errichteten vor seinen Augen einen Scheiterhaufen und zündeten ihn an. Aurelius schaute in aufrechter Haltung zu, seine Beine knickten nicht ein, seine Hände zitterten nicht, auf seinem Gesicht lag keine Spur von Furcht. Er klammerte sich nicht einmal an die Gitter seines Käfigs. Da die Germanen nicht beabsichtigten, ihn im Rauch ersticken oder in den hochschlagenden Flammen schnell sterben zu lassen, warteten sie, bis der Scheiterhaufen beinahe heruntergebrannt war. Dann hängten sie seinen Käfig über die Mitte des Feuers, wo es am heißesten war, und rösteten ihn bei lebendigem Leibe. Doch Aurelius siegte, auch wenn es ein einsamer Sieg war. Er gestattete sich nicht, im Todeskampf zu schreien, die Füße unter sich nachgeben zu lassen oder sich in furchtbaren Schmerzen zu winden. Er starb als echter, edler Römer, entschlossen, den Germanen durch seine unbeugsame Haltung zu zeigen, aus welchem Holz die Römer geschnitzt waren. Sie sollten begreifen, daß sie Rom, das solche Männer hervorbrachte, ernst nehmen mußten.
Die Germanen blieben zwei Tagen bei den Überresten des zerstörten Lagers der römischen Kavallerie, dann zogen sie weiter in Richtung Süden. Sie kamen zu Caepios Lager, marschierten jedoch daran vorbei, Tausende und Abertausende von Kriegern, so viele, daß Caepios vor Schreck erstarrte Soldaten sie nicht mehr zählen konnten. Als sie sich von ihrem Schreck halbwegs erholt hatten, warfen viele römische Soldaten ihre Rüstungen weg und versuchten, über den Fluß zu schwimmen, um an das sichere Westufer der Rhône zu gelangen. Doch Caepio wollte sich diesen Fluchtweg für sich allein vorbehalten, er ließ alle Boote seiner kleinen Flotte bis auf eines verbrennen, stellte starke Wachen am Flußufer auf und befahl, jeden Mann, der fliehen wollte, zu töten. Durch die ungeheuren Massen der germanischen Krieger von der Außenwelt abgeschnitten, konnten die fünfundfünfzigtausend römischen Soldaten und die Männer vom Troß nur darauf hoffen, daß die Flutwelle vorüberfließen und sich nicht über ihr Lager ergießen würde.
Am sechsten Tag des Oktober erreichte die Spitze der germanischen Horde das letzte Lager der Römer. Mallius Maximus wollte verhindern, daß seine Armee hinter den Befestigungen eingepfercht gegen die Germanen kämpfen mußte, deshalb ließ er die zehn Legionen geordnet antreten und marschierte mit ihnen auf eine Ebene nördlich des Lagers, bevor sie eingekreist werden konnten. Auf der Ebene zwischen dem Flußufer und einer kleinen Bodenerhebung stellte er seine Truppen auf. Die Legionen standen, nach Norden gewandt, über eine Strecke von vier Meilen hinweg, eine neben der anderen. Das war Mallius Maximus’ vierter Fehler - seine Flanken waren offen, da er keine Kavallerie hatte, die sie hätte decken können, und die Legionen standen viel zu weit verteilt.
Mallius Maximus hatte keine Nachrichten über die Vorgänge im Norden erhalten und wußte nichts von Aurelius’ oder von Caepios Schicksal. Er konnte auch keine verkleideten Späher unter die germanischen Horden schicken, da alle verfügbaren Dolmetscher und Kundschafter Aurelius nach Norden begleitet hatten. Er konnte nichts tun, nur warten, bis die Germanen kommen würden.
Als Kommandant des Heeres bezog er Stellung auf dem höchsten Turm der befestigten Lagerwälle. Sein persönlicher Stab, zu dem auch seine eigenen beiden Söhne und der Sohn von Metellus Numidicus gehörten, war beritten und wartete darauf, seine Befehle im Galopp zu den verschiedenen Legionen zu bringen. Die Marser von Quintus Poppaedius Silo standen am äußersten rechten Ende der Legionen, ohne jeden Schutz durch Kavallerie. Vielleicht hatte Mallius Maximus sie dort aufgestellt, weil sie die disziplinierteste und am besten ausgebildete Legion war, vielleicht aber auch, weil ihm die fremden Soldaten weniger nahestanden als die römischen, selbst wenn sie aus den niedersten Schichten kamen. Neben den Marsern stand eine Legion, die erst zu Beginn des Jahres rekrutiert worden war. Sie wurde von Marcus Livius Drusus befehligt, der Quintus Sertorius als seinen Stellvertreter benannt hatte. Dann kamen die samnitischen Hilfstruppen und daneben eine weitere Legion römischer Soldaten, die erst kürzlich rekrutiert worden waren. Je näher die Linie der Legionen an den Fluß heranreichte, desto unerfahrener und ungeübter waren die Soldaten und desto mehr Militärtribunen, die ihnen Rückhalt geben sollten, hatten sie zur Seite. Die Legion des jungen Caepio bestand gar ausschließlich aus völlig unerfahrenen Soldaten und war direkt am Flußufer aufgestellt, daneben die ebenso unerfahrenen Soldaten unter dem Kommando von Sextus Caesar.
Die Germanen griffen am sechsten Tag des Oktobers zwei Stunden nach Sonnenaufgang an. Der Angriff begann fast gleichzeitig auf der Höhe von Caepios Lager und auf Mallius Maximus’ Kampflinie und schien deutlich besser geplant als alle bisherigen Schlachten.
Keiner von Caepios fünfundfünfzigtausend Männern kam mit dein Leben davon, als die Germanen von allen drei Landseiten her in das Lager eindrangen. Sie ergossen sich förmlich über das Lager, und das Gedränge der Kämpfenden war so dicht, daß sie auf den Verwundeten und Toten herumtrampelten. Caepio wartete das Ende nicht ab. Sobald er erkannte, daß seine Soldaten keine Aussichten hatten, die Germanen zurückzudrängen, hastete er zum Fluß, bestieg sein Boot und befahl den Ruderern, so schnell wie möglich ans Westufer der Rhône zu setzen. Eine Handvoll der Männer, die er im Stich gelassen hatte, versuchte, sich schwimmend in Sicherheit zu bringen, doch die Überzahl der schlagenden und schwertschwingenden Germanen war so groß, daß keinem Römer Gelegenheit blieb, sein zwanzig Pfund schweres Panzerhemd abzuwerfen oder auch nur den Helm abzuziehen. Sie stürzten sich in voller Rüstung in den Fluß und ertranken, ausnahmslos. Caepio und seine Ruderer waren die einzigen Überlebenden.
Mallius Maximus erging es ein wenig besser. Die Marser hielten sich tapfer gegen die riesige Übermacht, wurden aber bis zum letzten Mann aufgerieben, ebenso die neben ihnen kämpfende Legion von Drusus. Silo fiel mit einer Wunde in der Seite, und Drusus wurde nach Beginn des Kampfes von einem Germanen mit dem Knauf des Schwertes bewußtlos geschlagen. Quintus Sertorius ritt hin und her und versuchte verzweifelt, seine Männer zu sammeln, aber auch sie konnten den Angriff der Germanen nicht aufhalten. Für jeden germanischen Krieger, der niedergemacht wurde, stand sofort ein anderer da - sie schienen förmlich aus dem Boden zu wachsen. Sertorius stürzte mit einer Speerwunde am Unterschenkel, gerade an der Stelle, wo die wichtigen Nerven besonders dicht unter der Hautoberfläche liegen. Der Speer durchtrennte die Nerven und blieb unmittelbar vor der Hauptschlagader stecken - sein persönliches Kriegsglück.
Die Legionen, die direkt am Fluß standen, wandten sich um und suchten ihr Heil in der Flucht. Den meisten gelang es, die schwere Rüstung abzulegen, bevor sie ins Wasser wateten, und so erreichten viele von ihnen lebend das weit entfernte Westufer der Rhône. Der junge Caepio war einer der ersten, die sich ins Wasser stürzten, und Sextus Caesar wurde von einem seiner eigenen Männer niedergeschlagen, als er verzweifelt versuchte, die Soldaten aufzuhalten. Er sank mit einer übel zugerichteten Hüfte im Gedränge zu Boden.
Trotz Cottas Widerspruch waren die sechs Senatoren vor Beginn der Schlacht an das Westufer gebracht worden, denn Mallius Maximus hatte darauf bestanden, daß sie als zivile Beobachter das Schlachtfeld verlassen und den Kampf von einem sicheren Platz aus verfolgen sollten.
»Falls wir aufgerieben werden, müßt ihr als Überlebende dem Senat und dem Volk von Rom Bericht erstatten«, sagte er.
Es war in Rom üblich, das Leben der Gefangenen zu schonen, denn gesunde Krieger, die noch alle ihre Gliedmaßen besaßen, brachten auf dem Sklavenmarkt die höchsten Preise. Sie konnten in Minen hart arbeiten, auf Werften, auf dem Bau oder in Steinbrüchen. Doch weder die Kelten noch die Germanen ließen ihre Gefangenen am Leben, ausgenommen diejenigen, die ihre Sprache sprachen, und immer nur so viele, wie sie gerade brauchten.
Die Krieger der Germanen, die nach einem kurzen, wenig ruhmreichen Kampf als Sieger auf dem Schlachtfeld standen, zogen durch die endlosen Reihen Tausender am Boden liegender Römer und töteten jeden, der noch ein Lebenszeichen von sich gab. Glücklicherweise gingen sie dabei achtlos und alles andere als planmäßig vor, sonst hätte keiner der vierundzwanzig Militärtribunen die Schlacht von Arausio überlebt. Drusus lag so tief bewußtlos da, daß ihn jeder Germane, der ihn ansah, für tot hielt, und Quintus Poppaedius Silo war unter einem bluttriefenden Haufen gefallener Marser begraben, wodurch er unentdeckt blieb. Quintus Sertorius konnte sich nicht bewegen, da sein Bein gelähmt war, und stellte sich tot. Und Sextus Caesar, der offen dalag, rang so schwer um Atem und war so blau im Gesicht, daß die Germanen sich nicht einmal die Mühe machten, ihn zu töten, denn sie waren sicher, daß er ohnehin bald sterben würde.
Die beiden Söhne von Mallius Maximus waren getötet worden, als sie mit den Befehlen ihres völlig aufgelösten Vaters auf dem Schlachtfeld hin und her geritten waren. Der Sohn von Metellus Schweinebacke, Metellus das Ferkel, war aus anderem Stoff gemacht. Als er erkannt hatte, daß eine Niederlage unausweichlich war, trieb er den aufgelösten Mallius Maximus und noch einige Soldaten, die sich mit ihm auf dem Wall des Lagers befanden, vor sich her, führte die kleine Gruppe ans Flußufer hinunter und setzte sie in ein Boot. Metellus das Ferkel handelte keineswegs in erster Linie aus einem übermächtigen Selbsterhaltungstrieb heraus, er war vielmehr mutig und kämpfte mit diesem Mut um das Leben seines Befehlshabers.
Fünf Stunden nach Tagesanbruch war alles vorüber. Die Germanen wandten sich wieder nach Norden und zogen die dreißig Meilen zum Lager des toten Aurelius zurück, wo ihre vielen tausend Wagen standen. In den Lagern von Mallius Maximus und Caepio hatten sie wahre Schätze entdeckt - riesige Vorräte an Weizen und anderen Lebensmitteln und genügend Wagen, Maultiere und Ochsen, um sie zu transportieren. Geld, Gold, Kleidung, selbst Waffen und Rüstungen interessierten die Germanen nicht im geringsten, doch die Vorräte von Mallius Maximus und Caepio waren unwiderstehlich, und so plünderten sie die Lager bis auf den letzten Schinken und den letzten Topf Honig. Auch einige hundert amphorae Wein nahmen sie mit.
In Aurelius’ Lager hatten die Germanen einen der Dolmetscher entdeckt. Sie nahmen ihn gefangen und brachten ihn zurück zu seinen Leuten, den Kimbern. Schon nach wenigen Stunden stellte er fest, daß er zu lange bei den Römern gelebt hatte, um noch Gefallen an der barbarischen Lebensweise zu finden, und so stahl er in einem unbeobachteten Moment ein Pferd und ritt südwärts nach Arausio. Er wählte einen Weg, der ihn weit im Osten den Fluß entlang führte - er verspürte kein Bedürfnis, die Spuren der schrecklichen Niederlage der Römer zu sehen, und wollte auch nicht den Geruch der zahllosen Leichen ertragen müssen, die unbeerdigt auf dem Schlachtfeld lagen.
Am neunten Tag im Oktober, drei Tage nach der Schlacht, führte er sein erschöpftes Pferd die gepflasterte Hauptstraße der wohlhabenden Stadt Arausio hinunter. Er blickte sich nach Leuten um, denen er berichten könnte, was geschehen war, doch es war niemand zu sehen. Anscheinend hatten sämtliche Einwohner die Stadt vor den herandrängenden Germanen Hals über Kopf verlassen. Schließlich bemerkte er am Ende der Hauptstraße das Haus des bedeutendsten Einwohners von Arausio - natürlich ein römischer Bürger -, und dort schien sich etwas zu regen.
Arausios wichtigster Bürger war Marcus Antonius Meminius, ein Gallier aus dieser Gegend. Er hatte das begehrte römische Bürgerrecht - und damit seinen römischen Namen - vor siebzehn Jahren von Marcus Antonius erhalten, als Lohn für seine Dienste in der Armee von Gnaeus Domitius Ahenobarbus. Dank seines neuen Bürgerrechts und dank der Unterstützung der Familie Antonius war er bald eine wichtige Persönlichkeit. Er bekam Konzessionen für den Handel zwischen Gallia Transalpina und der italischen Provinz und wurde in kurzer Zeit unermeßlich reich. Inzwischen hatte er das höchste Amt im Magistrat der Stadt inne. Er hatte erfolglos versucht, die Einwohner von Arausio zum Bleiben zu bewegen, zumindest so lange, bis klar war, wie die Schlacht zwischen Römern und Germanen ausgehen würde. Die Leute hatte er nicht zum Bleiben bewegen können, aber er selbst hatte beschlossen, die Stadt nicht zu verlassen. Seine Kinder wurden unter Aufsicht ihres Erziehers an einen sicheren Ort gebracht, sein Gold hatte er vergraben, und die Falltüre in seinem Weinkeller war unter einer großen Steinplatte verborgen. Seine Frau hatte darauf bestanden, bei ihm zu bleiben, anstatt mit den Kinder zu gehen, und so hatten sie beide zusammen mit einer Handvoll treuer Sklaven dem Schlachtenlärm gelauscht, den der Wind von Mallius Maximus’ Lager bis zur Stadt getragen hatte.
Marcus Antonius Meminius wartete, aber weder Römer noch Germanen kamen nach Arausio. Schließlich schickte er einen Sklaven los, der herausfinden sollte, was geschehen war. Als die ersten römischen Offiziere auftauchten - Gnaeus Mallius Maximus und einige Angehörige seines Stabes -, war der Sklave gerade zurückgekommen, und Memmius konnte immer noch nicht glauben, was er gehört hatte. Die Römer benahmen sich wie betäubte Tiere, die zur Schlachtbank geführt wurden, und nicht wie hochrangige römische Soldaten. Das war Meminius’ erster Eindruck, und er wurde durch das Verhalten von Metellus Numidicus’ Sohn verstärkt, der die Offiziere mit der gleichen Schärfe und Bissigkeit zusammenhielt wie ein Hütehund seine Herde. Meminius und seine Frau kamen selbst heraus und führten die Römer in ihr Haus. Dort gaben sie ihnen zu essen und zu trinken und versuchten, einen zusammenhängenden Bericht von der Schlacht zu erhalten. Aber sie konnten fragen, was sie wollten, die Antwort blieb stets zusammenhangloses Gestammel. Der einzige, der seinen Verstand nicht verloren zu haben schien, war der junge Metellus das Ferkel, doch er hatte eine so schwere Sprachstörung erlitten, daß er keine zwei Worte zusammen herausbrachte.
In den nächsten beiden Tagen schleppten sich noch weitere Soldaten in die Stadt, doch insgesamt waren es beklagenswert wenige, und es befanden sich keine ranghohen Offiziere mehr unter ihnen. Ein Zenturio wußte zu berichten, daß einige tausend Überlebende am Westufer der Rhône ziel- und führerlos umherirrten. Als letzter kam Caepio nach Arausio, begleitet von seinem Sohn Caepio dem Jüngeren, den er auf dem Weg in die Stadt am Westufer aufgelesen hatte. Als Caepio hörte, daß sich Mallius Maximus in Meminius’ Haus befand, weigerte er sich zu bleiben. Er war nicht davon abzubringen, mit seinem Sohn so schnell wie möglich nach Rom zurückzukehren, also gab Meminius ihm zwei vierspännige Wagen, die von Maultieren gezogen wurden, reichlich Proviant und mehrere Wagenlenker und ließ ihn ziehen.
Mallius Maximus war vom Schmerz über den Tod seiner Söhne völlig gebrochen und zwei Tage nicht ansprechbar. Erst am dritten Tag konnte er wieder an andere Dinge denken und fragte nach dem Verbleib der sechs Senatoren. Bis dahin hatte Meminius nichts von ihnen gewußt, und als Mallius Maximus immer mehr drängte, man müsse sie suchen lassen, erhob Meminius Einwände, denn er befürchtete, daß die Germanen das Schlachtfeld immer noch besetzt hielten und wollte sich selbst, seine Frau und seine verstörten Gäste so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.
Dies war die Lage, als der germanische Dolmetscher durch Arausio ritt und Meminius fand. Meminius war sofort klar, daß dieser Mann viel zu berichten hatte, doch unglücklicherweise konnten sie sich nicht verständigen, weil keiner das Latein des anderen verstand und Meminius nicht auf den Gedanken kam, den Mann zu Mallius Maximus zu führen. Statt dessen brachte er ihn in seinem Haus unter und bedeutete ihm, daß er warten müsse, bis jemand käme, der sowohl die Sprachkenntnisse als auch die geistige Verfassung besäße, um mit ihm zu sprechen.
Die vermißte Gesandtschaft der Senatoren war unter Cottas Führung sofort nach dem Abzug der Germanen an das Ostufer des Flusses zurückgekehrt. Auf dem leichenübersäten Schlachtfeld begannen sie, nach Überlebenden zu suchen. Mit ihren Liktoren und Sklaven zählten sie insgesamt neunundzwanzig Mann, und alle gingen ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit zu Werke, denn man konnte nicht ausschließen, daß die Germanen noch einmal zurückkehren würden. Die Zeit verging, und niemand erschien, um ihnen zu helfen.
Drusus war während der Nacht wieder zu Bewußtsein gekommen. Halb betäubt hatte er in der Dunkelheit gelegen, und erst bei Sonnenaufgang hatte er sich so weit erholt, daß er sich kriechend fortbewegen konnte. Ihn beherrschte ein einziger Gedanke - Wasser. Der Fluß war drei Meilen entfernt und das Lager kaum näher, so kroch er nach Osten, in der Hoffnung, an der Stelle auf einen Bach zu stoßen, wo die Bodenerhebung begann. Nachdem er einige Fuß weit gekommen war, stieß er auf Quintus Sertorius, der bei seinem Anblick schwach die Hand hob.
»Kann mich nicht bewegen«, stöhnte Sertorius und versuchte, mit seiner Zunge die geplatzten Lippen zu befeuchten.
»Bein taub. Warte auf jemand. Dachte, ein Germane.«
»Durstig«, krächzte Drusus »Wasser suchen, dann zurück.« Drusus hatte entsetzliche Schmerzen, die Kopfwunde pochte, und jede Bewegung wurde ihm zur Qual. Ihm wurde schwindlig, und er sackte zusammen.
Doch der Überlebenswille war stärker. Schluchzend richtete sich Drusus wieder ein Stück auf und schleppte sich weiter nach Osten. Ihm fiel ein, daß er kein Gefäß hatte, in dem er das Wasser tragen konnte, und bestimmt gab es noch mehr Verwundete als Sertorius, die dringend Wasser brauchten. Er beugte sich vor und zog zwei toten marsischen Soldaten die Helme ab, während er unter den unerträglichen Schmerzen, die ihn dies kostete, laut aufstöhnte. Er nahm die Helme an den Kinnriemen und wankte halb aufgerichtet weiter.
Da, mitten auf dem Schlachtfeld, zwischen den Leichen der marsischen Krieger, stand ein kleiner Esel mit Wasserbehältern. Das Tier blinzelte mit langen Wimpern über den sanften Augen auf all die Verwüstung ringsumher, aber es konnte nicht davonlaufen, da sein Halfter um den Arm eines toten Soldaten gewunden war, der tief unter anderen Leichen begraben lag. Es hatte versucht, sich loszureißen, doch dabei hatte sich das Seil nur noch fester um den Arm des Toten gewickelt. Drusus trug immer noch seinen Dolch bei sich. Er durchschnitt das Seil da, wo es um den leblosen Arm gewickelt war, und band das Ende an seinen Schwertgürtel. So konnte das Tier nicht davonlaufen, falls er erneut das Bewußtsein verlieren sollte. Im Moment jedoch schien der Esel ganz froh zu sein, ein anderes lebendes Wesen zu sehen, und hielt geduldig still, während Drusus seinen Durst löschte.
Am Rande des Gewirrs von Toten, in dem Drusus den Esel gefunden hatte, entdeckte er zwei Beine, die sich leicht bewegten. Unter erneutem schmerzvollen Stöhnen, das der Esel traurig mit seinem Geschrei begleitete, gelang es Drusus, so viele Leichen beiseite zu schieben, daß ein marsischer Offizier zum Vorschein kam. Sein bronzener Brustharnisch war an der Seite, unter dem rechten Arm, eingedrückt, und aus einem Loch in der Mitte der großen Einbeulung quoll rötliche Flüssigkeit, heller als Blut.
So vorsichtig er konnte, zog Drusus den Offizier unter den Leichen hervor und legte ihn auf einen freien Fleck zertrampelten Grases. Dort begann er, den Brustharnisch an der linken Seite zu lösen, wo der vordere Teil mit dem hinteren verbunden war. Die Augen des Offiziers waren geschlossen, doch seine Halsschlagader pulsierte heftig, und als Drusus die obere Hälfte des Harnischs von Brust und Bauch abnahm, schrie der Marser laut auf
Dann sagte eine gereizte Stimme in reinstem Latein: »Vorsichtig!«. Drusus hielt für einen Moment inne, dann fuhr er fort, die Schnüre der ledernen Unterbekleidung zu lösen. »Lieg still, du Narr!« schimpfte er. »Ich versuche nur, dir zu helfen. Willst du ein bißchen Wasser?«
»Wasser«, wiederholte der marsische Offizier.
Drusus ließ ihn aus einem Helm trinken und wurde mit einem Blick aus zwei gelbgrünen Augen belohnt, die ihn an Schlangenaugen erinnerten. Die Marser waren Schlangenanbeter, sie vollführten Schlangenbeschwörungen, tanzten mit den Schlangen und küßten die Zungen der Schlangen mit ihren eigenen. Kein Wunder, wenn man diese Augen sah.
»Quintus Poppaedius Silo«, sagte der marsische Offizier. »Ein irrumator, ungefähr acht Fuß groß, hat mich zu Boden geworfen.« Er schloß die Augen, über seine blutigen Wangen rannen zwei Tränen. »Meine Männer - alle tot, oder?«
»Ich fürchte ja«, antwortete Drusus sanft, »genauso wie meine Männer, Wie fast alle, scheint es. Mein Name ist Marcus Livius Drusus. Paß auf, ich werde dir jetzt dein Lederzeug abziehen.«
Die Wunde blutete nicht mehr, dank der wollenen Tunika, die das germanische Langschwert in die schmale Öffnung der Wunde gedrückt hatte. Drusus konnte die gebrochenen Rippen unter seinen Händen fühlen, doch der Harnisch, das Lederzeug und die Rippen hatten die Klinge aufgehalten.
»Du wirst am Leben bleiben«, sagte Drusus. »Kannst du aufstehen, wenn ich dir helfe? Hinten bei meiner Legion liegt ein Kamerad, der mich braucht. Entweder du bleibst hier und kommst nach, sobald du kannst, oder du kommst jetzt mit, auf deinen eigenen Beinen.« In diesem Augenblick wehte der Wind eine Haarsträhne auf seine breiige Stirnwunde, und er schrie auf vor Schmerz.
Quintus Poppaedius Silo wog die Möglichkeiten ab. »In deinem Zustand wirst du es mit mir kaum schaffen«, entschied er. »Wenn du mir meinen Dolch geben kannst, werde ich ein Stück von meiner Tunika abschneiden und die Wunde verbinden. Kann’s mir nicht leisten, hier in diesem Tartarus noch weiter zu bluten.«
Drusus reichte ihm den Dolch und wollte sich mit seinem Esel auf den Weg machen.
»Wo kann ich dich finden?« fragte Silo.
»Dort drüben, eine Legion weiter unten«, antwortete Drusus.
Sertorius war immer noch bei Bewußtsein. Dankbar stillte er seinen Durst, dann setzte er sich mühsam auf. Er hatte von allen dreien die schlimmsten Wunden davongetragen, und es war klar, daß Drusus allein ihn nicht fortschaffen konnte. Sie mußten auf die Hilfe von Silo warten. Drusus sank neben Sertorius zu Boden und ruhte sich aus. Erst eine Stunde später, als Silo auftauchte, bewegte er sich wieder. Die Sonne stieg, und es wurde heiß.
»Wir beide werden Quintus Sertorius ein Stück von den Leichen wegbringen. Wenn er hier bleibt, entzündet sich sein Bein sofort«, sagte Silo. »Und dann sollten wir einen Schutz gegen die Sonne für ihn aufbauen, schlage ich vor. Und nach weiteren Überlebenden suchen.«
All dies geschah sehr langsam und unter starken Schmerzen, doch schließlich war Sertorius so bequem wie möglich untergebracht. Silo und Drusus machten sich auf die Suche nach anderen Verwundeten. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Drusus von Übelkeit überwältigt wurde. Er sank würgend auf den zerstampften, staubigen Boden, bei jedem Krampf, der ihn schüttelte, schrie er vor Schmerz wild auf. Silo, dem es nicht viel besser ging, lag neben ihm, und der Esel, immer noch an Drusus’ Gürtel festgebunden, wartete geduldig.
Nachdem die Krämpfe abgeklungen waren, rollte sich Silo ächzend herum und untersuchte Drusus’ Kopfwunde. »Wenn du meinst, daß du es aushalten kannst, Marcus Livius, könnte ich die Schwellung mit meinem Messer öffnen. Wenn ein Teil der Flüssigkeit herauskommt, wird es nicht mehr so weh tun, glaube ich. Einverstanden?«
»Ich würde mit einem vielköpfigen Monster kämpfen, wenn es helfen würde!« keuchte Drusus.
Bevor er die Spitze seines Dolches auf die Schwellung setzte, murmelte Silo einen Zauber oder eine Beschwörung in einer alten Sprache, die Drusus nicht verstand. Es war nicht Oskisch, das beherrschte er gut. Ein Schlangenzauber, das ist es, dachte Drusus und fühlte sich seltsam beruhigt. Der Schmerz war unerträglich, Drusus verlor das Bewußtsein. Während er ohnmächtig dalag, drückte Silo so viel von dem geronnenen Blut und der Flüssigkeit aus der Wunde, wie er konnte. Dann riß er ein Stück von Drusus’ Tunika ab und wischte ihm die Stirn damit. Als Drusus sich wieder regte, schnitt er ein weiteres Stück Stoff ab.
»Fühlst du dich besser?« fragte Silo.
»Viel besser«, antwortete Drusus.
»Wenn ich die Wunde verbinden würde, hättest du noch mehr Schmerzen. Nimm diesen Stoffetzen und wisch dir das Zeug ab, wenn es dir in die Augen läuft. Früher oder später wird es aufhören.« Silo schaute hoch zur Sonne, die unbarmherzig vom Himmel brannte. »Wir müssen in den Schatten, sonst halten wir nicht mehr lange durch. Und das wäre auch das Ende des jungen Sertorius.« Mühsam erhob er sich.
Je näher sie dem Fluß kamen, desto häufiger bemerkten sie Lebenszeichen unter den Leichenbergen - schwache Schreie, Bewegungen, Stöhnen.
»Das Ganze ist eine Beleidigung der Götter«, sagte Silo grimmig. »Keine Schlacht wurde je so schlecht vorbereitet. Man hat uns dem Feind regelrecht zum Fraß vorgeworfen! Ich verfluche Gnaeus Mallius Maximus! Möge sich die Große Schlange, die das Licht gebiert, selbst um Gnaeus Mallius’ Träume winden!«
»Du hast recht, es war ein Gemetzel, und wir wurden nicht besser befehligt als Cassius’ Männer in der Schlacht von Burdigala. Aber du solltest die Schuld gerecht zuweisen, Quintus Poppaedius. Wenn Gnaeus Mallius schuldig ist, um wieviel mehr dann Quintus Servilius Caepio?« Oh, es schmerzte, das aussprechen zu müssen! Der Vater seiner Frau.
»Caepio? Was hatte der denn damit zu tun?« fragte Silo.
Die Kopfwunde schmerzte nicht mehr ganz so stark, Drusus konnte sich ohne Schwierigkeiten umdrehen und Silo ansehen. »Weißt du das denn nicht?« fragte er.
»Was weiß denn ein Italiker schon über militärische Entscheidungen der Römer?« Silo spuckte verächtlich aus. »Wir Italiker sind nur hier, um zu kämpfen. Wir haben nichts zu sagen, wenn es darum geht, wie wir kämpfen sollen, Marcus Livius.«
»Nun, von dem Tag an, an dem Quintus Servilius aus Narbo kam, hat er sich geweigert, mit Gnaeus Mallius zusammenzuarbeiten.« Drusus zitterte. »Er wollte keine Befehle von einem Emporkömmling annehmen.«
Silo starrte Drusus an, gelbgrüne Augen bohrten sich in schwarze. »Du meinst, Gnaeus Mallius wollte, daß Quintus Servilius in sein Lager zieht?«
»Natürlich! Genauso wie die sechs Senatoren, die aus Rom gekommen waren. Aber Quintus Servilius wollte sich nicht dem Befehl von Gnaeus Mallius unterstellen.«
»Willst du damit sagen, es war Quintus Servilius’ Schuld, daß die beiden Armeen so weit auseinander gestanden haben?« Es schien, als könnte Silo nicht glauben, was er da hörte.
»Ja, es war Quintus Servilius’ Schuld.« Es mußte ausgesprochen werden. »Er ist mein Schwiegervater, ich bin mit seiner einzigen Tochter verheiratet. Wie soll ich das ertragen? Sein Sohn ist mein bester Freund und mit meiner Schwester verheiratet. Er hat auch hier gekämpft. Jetzt ist er tot, vermute ich.« Was Drusus von seinem Gesicht wischte, waren mehr Tränen als Wundflüssigkeit. »Stolz, Quintus Poppaedius! Dummer, nutzloser Stolz!«
Silo blieb stehen. »Sechstausend marsische Soldaten und zweitausend marsische Sklaven starben gestern hier. Und jetzt sagst du mir, daß das alles nur wegen eines hochstehenden römischen Idioten passiert ist, der irgendeinen weniger hochstehenden römischen Idioten nicht leiden konnte?« Zischend sog Silo den Atem zwischen den Zähnen ein, er zitterte vor Wut. »Möge die Große Schlange sie beide holen!«
»Vielleicht sind ja noch ein paar von deinen Männern am Leben«, meinte Drusus, nicht um seine Vorgesetzten zu entschuldigen, vielmehr um diesen Mann, den er außerordentlich gern mochte, ein wenig zu trösten. Ein Schmerz überflutete ihn, der nichts mit seiner Wunde zu tun hatte, sondern mit einer überwältigenden Trauer. Marcus Livius Drusus, der das wirkliche Leben bislang kaum kennengelernt hatte, weinte vor Scham bei dem Gedanken, daß Rom von Männern geführt wurde, die so viel Leid verursachten, nur weil der eine sich höher dünkte als der andere.
»Nein, sie sind tot«, erwiderte Silo. »Warum, denkst du, habe ich so lange gebraucht, um zu dir und Quintus Sertorius zu kommen? Ich habe mir meine Männer angeschaut. Sie sind tot. Alle tot!«
»Und meine auch«, sagte Drusus und weinte immer noch. »Wir an der rechten Seite haben die volle Wucht des Angriffs abbekommen, und wir haben nicht einmal von Ferne einen unserer Reiter gesehen.«
Kurz danach erblickten sie die Gruppe der Senatoren und riefen laut um Hilfe.
Marcus Aurelius Cotta brachte die verwundeten Militärtribunen selbst nach Arausio. Er stapfte die fünf Meilen hinter dem Ochsenkarren her, der durch seine Beschaffenheit und den gemächlichen Schritt der Tiere am besten für den Transport der Verwundeten geeignet war. Die anderen Senatoren waren zurückgeblieben und versuchten, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen. Marcus Antonius Merrunius hatte einige Gallier, die auf den Bauernhöfen um Arausio lebten, überredet, zum Schlachtfeld zu gehen und zu helfen.
»Das ist jetzt schon der dritte Abend nach der Schlacht, wir können die Toten nicht länger so liegen lassen«, sagte Cotta zu Meminius, als er dessen Haus erreicht hatte.
»Die Leute aus der Stadt sind geflohen, und die Bauern sind überzeugt, daß die Germanen zurückkommen werden. Du weißt nicht, wieviel Überredungskunst es mich gekostet hat, bis sie bereit waren, euch da draußen zu helfen«, meinte Meminius.
»Ich weiß nicht, wo die Germanen sind«, erwiderte Cotta. »Ich habe keine Ahnung, warum sie sich nach Norden zurückgezogen haben. Bis jetzt konnte ich noch keine Spur von ihnen entdecken. Unglücklicherweise habe ich niemanden, den ich als Kundschafter aussenden könnte. Ich brauche jeden Mann auf dem Schlachtfeld.«
»Oh!« Meminius schlug sich an die Stirn. »Vor vier Stunden kam ein Mann in den Ort geritten. Ich habe nicht viel von dem verstanden, was er sagte, nur daß er einer der germanischen Dolmetscher ist, die im Lager der Kavallerie waren. Er spricht zwar Latein, aber mit einem Akzent, den ich nicht verstehe. Möchtest du mit ihm reden? Vielleicht kannst du ihn als Kundschafter ausschicken.«
Cotta ließ den Germanen rufen, und was er von ihm erfuhr, änderte alles.
»Es gab einen fürchterlichen Streit, der Rat der Häuptlinge hat sich aufgelöst, die drei Stämme ziehen getrennt weiter«, berichtete der Mann.
»Du meinst, die Häuptlinge haben sich gestritten?« vergewisserte sich Cotta.
»Ja, Teutobod von den Teutonen und Boiorix von den Kimbern, zumindest am Anfang«, sagte der Dolmetscher. »Die Krieger zogen zurück, um die Wagen zu holen, und die Häuptlinge wollten die Beute verteilen. Es war viel Wein da, aus den drei Lagern der Römer, und die Häuptlinge tranken ihn. Dann sagte Teutobod, er habe einen Traum gehabt, der große Gott Ziu habe ihn im Traum besucht und ihm gesagt, wenn sein Stamm weiter nach Süden in römisches Gebiet ziehen sollte, würden ihm die Römer eine große Niederlage beibringen. Alle Krieger, alle Frauen und Kinder würden getötet oder in die Sklaverei geschickt. Also, sagte Teutobod, werde er die Teutonen durch das Gebiet der Gallier nach Spanien führen und nicht durch römisches Land. Boiorix war dagegen und warf Teutobod vor, er sei ein Feigling. Boiorix verkündete, daß die Kimbern nach Süden in römisches Gebiet ziehen würden, egal, was die Teutonen tun wollten.«
»Bist du ganz sicher?« fragte Cotta, der es kaum glauben konnte. »Woher weißt du das alles? Vom Hörensagen? Oder warst du dort?«
»Ich war dort, Dominus.«
»Warum warst du dort? Wie bist du hingekommen?«
»Sie haben mich mitgenommen und wollten mich zu den Kimbern bringen, denn zu ihnen gehöre ich. Aber sie waren alle sehr betrunken und achteten nicht auf mich. Ich wollte nicht mehr zu meinem Stamm zurück. Also versuchte ich so viel in Erfahrung zu bringen, wie ich konnte, und dann zu fliehen.«
»Na, erzähl schon weiter, Mann!« sagte Cotta ungeduldig.
»Nun, die anderen Häuptlinge mischten sich in den Streit zwischen Teutobod und Boiorix ein. Getorix, der Häuptling der Markomannen, der Cherusker und der Tiguriner, schlug vor, bei den Häduern und Ambarrern zu bleiben, dann hätte man mit den Römern gar nichts zu tun. Aber außer seinen eigenen Leuten war niemand dafür. Die teutonischen Häuptlinge schlugen sich auf die Seite von Teutobod, die kimbrischen auf die Seite von Boiorix. So endete die Versammlung gestern damit, daß jeder Stamm etwas anderes beschloß. Teutobod zieht mit den Teutonen nach Spanien. Getorix und seine Leute bleiben bei den Häduern und Ambarrern. Boiorix führt die Kimbern über die Rhône und will am Rande der römischen Gebiete entlangziehen anstatt mitten hindurch.«
»Darum also ist keine Spur von ihnen zu sehen!« sagte Cotta.
»Genau, Dominus. Sie werden nicht nach Süden in römisches Gebiet vordringen.«
Cotta suchte Marcus Antonius Meminius wieder auf und erzählte mit breitem Lächeln, was er erfahren hatte.
»Du mußt diese Neuigkeiten so schnell wie möglich verbreiten, Marcus Meminius! Wenn wir die Leichen auf dem Schlachtfeld nicht bald verbrennen, werden der Boden und das Wasser verseucht, und Krankheiten werden den Menschen von Arausio mehr antun als die Germanen.« Cotta starrte vor sich hin und biß sich auf die Lippen. »Wo ist Quintus Servilius Caepio?«
»Schon auf dem Weg nach Rom, Marcus Aurelius.«
»Was?«
»Er verließ Arausio mit seinem Sohn, weil er in Rom so schnell wie möglich Bericht erstatten wollte«, sagte Meminius verwirrt.
»Oh, ich wette, daß er das vorhat!« entgegnete Cotta grimmig. »Nimmt er den Landweg?«
»Natürlich, Marcus Aurelius. Ich habe ihm vier Maultiergespanne aus meinem Stall gegeben.«
Cotta erhob sich. Er war todmüde, doch bei dieser Nachricht strömte neue Kraft durch seine Glieder. »Den Bericht über die Geschehnisse bei Arausio werde ich überbringen! Und wenn ich mir Flügel wachsen lassen müßte, ich werde vor Quintus Servilius in Rom sein, das schwöre ich! Marcus Meminius, ich will das beste Pferd, das du auftreiben kannst. Bei Anbruch der Dämmerung werde ich nach Massilia aufbrechen.«
Ohne Eskorte und im Galopp machte sich Cotta auf den Weg. In Glanum wechselte er das Pferd und dann noch einmal in Aquae Sextiae. Sieben Stunden, nachdem er in Arausio aufgebrochen war, erreichte er Massilia. In der großen Hafenstadt, die vor Jahrhunderten von den Griechen gegründet worden war, hatte man noch nichts von der großen Schlacht gehört, die vier Tage zuvor stattgefunden hatte. Cotta fand die Stadt - so hell, so gepflegt, so griechisch - in fieberhafter Aufregung über den Vormarsch der Germanen.
Cotta begab sich in höchster Eile und mit der Arroganz eines höheren Magistrats, der in dringenden Geschäften unterwegs ist, zum Haus des ethnarch, nachdem er sich den Weg hatte zeigen lassen. Massilia erfreute sich guter Beziehungen zu Rom, ohne jedoch den römischen Gesetzen unterworfen zu sein. Man hätte Cotta höflich die Tür weisen können, doch dies geschah natürlich nicht. Vor allem nicht, nachdem der ethnarch und einige Räte, die in der Nähe wohnten, hörten, was Cotta zu berichten hatte.
»Ich möchte das schnellste Schiff, das ihr habt, und die besten Seemänner und Ruderer von Massilia«, sagte Cotta. »Das Schiff darf keine Fracht an Bord haben, sonst ist es zu langsam. Statt dessen brauche ich zwei zusätzliche Rudermannschaften für den Fall, daß wir gegen den Wind oder gegen schwere See zu rudern haben. Ich schwöre dir, ethnarch Aristides, daß ich in drei Tagen in Rom sein werde, und wenn das bedeutet, daß die ganze Strecke gerudert werden muß! Wir werden nicht an der Küste entlangfahren, sondern auf dem direktesten Kurs nach Ostia, den der beste Navigator von Massilia steuern kann. Wann erreicht die Flut ihren höchsten Stand?«
»Das Schiff und die Rudermannschaften werden bei Sonnenaufgang zur Verfügung stehen, Marcus Aurelius. Dann hat auch die Flut den höchsten Punkt erreicht«, sagte der ethnarch freundlich. Er räusperte sich zurückhaltend. »Wer wird denn bezahlen?«
Typisch massilischer Grieche, dachte Cotta, doch er sprach es nicht aus. »Stelle mir eine Rechnung aus«, erwiderte er. »Der Senat und das Volk von Rom werden bezahlen.« Die Rechnung wurde sofort geschrieben. Cotta sah den völlig überhöhten Preis und knurrte. »Es ist tragisch, wenn schlechte Neuigkeiten so viel kosten, daß davon schon wieder ein neuer Krieg gegen die Germanen bezahlt werden könnte. Ich nehme an, du wirst um keine Drachme heruntergehen?«
»Ich stimme dir zu, es ist tragisch«, meinte der ethnarch höflich. »Aber trotz allem - Geschäft ist Geschäft. Der Preis ist gemacht, Marcus Aurelius. Entweder du bist einverstanden, oder du läßt es bleiben.«
»Ich bin einverstanden«, sagte Cotta.
Caepio und sein Sohn hatten sich nicht die Mühe gemacht, auf ihrem Weg nach Rom über Massilia zu reisen, auf dem Landweg hätte das ohnehin nur einen Umweg bedeutet. Niemand wußte besser als Caepio, daß die Winde über dem sinus gallicus immer in die falsche Richtung bliesen - er hatte immerhin ein Jahr in Narbo verbracht und davor schon eines als Prätor in Spanien. Statt dessen würde er die Via Domitia bis zum Tal der Durance nehmen, über den Mons-Genava-Paß nach Gallia Cisalpina gelangen und dann so schnell wie möglich auf der Via Aemilia und der Via Flavia nach Rom eilen. Er hoffte, pro Tag durchschnittlich siebzig Meilen zurückzulegen, vorausgesetzt, er konnte unterwegs überall gute Tiere beschlagnahmen, und mit seinem prokonsularischen imperium sollte das eigentlich kein Problem sein. Es war in der Tat kein Problem.
Mit jeder Meile, die er zurücklegte, wuchs seine Zuversicht, daß er den Kurier der Senatoren schlagen würde. Die Alpen überquerte er so rasch, daß nicht einmal die Vokonter - immer auf der Ausschau nach römischen Reisenden, die sie überfallen konnten - in der Lage waren, einen Angriff auf die beiden galoppierenden Maultiergespanne zu führen.
Als Caepio Ariminum und damit das Ende der Via Aemilia erreicht hatte, wußte er, daß er von Arausio bis Rom dank der guten Straßen und der frischen Tiere nicht länger als sieben Tage brauchen würde. Langsam wurde er ruhiger. Er würde erschöpft in Rom ankommen, er würde schreckliche Kopfschmerzen haben, aber all das spielte keine Rolle. Nur eines zählte: Seine Version der Geschehnisse bei Arausio würde die erste sein, und damit hatte er die Schlacht so gut wie gewonnen. Als Fanum Fortunae vor ihnen auftauchte, schwenkte die Reisegruppe auf die Via Flaminia ein und fuhr dem Tal des Tibers entgegen. Caepio wußte, daß er gewonnen hatte. Seiner Version würde man in Rom Glauben schenken.
Doch Fortuna bevorzugte einen anderen. Marcus Aurelius Cotta durchsegelte den sinus gallicus von Massilia nach Ostia bei Winden, die entweder aus der richtigen Richtung oder überhaupt nicht bliesen, und die Überfahrt verlief sehr viel besser als erwartet. Wenn kein Wind blies, nahmen die Ruderer ihre Plätze ein, der hortator schlug den Rhythmus auf seiner Trommel, und dreißig muskulöse Rücken beugten sich über die Ruder. Das Schiff war klein und eher für Geschwindigkeit als für Fracht ausgelegt. Nach Cottas Ansicht sah es verdächtig nach einem Kampfschiff aus, obwohl die Einwohner von Massilia eigentlich keine Kampfschiffe besitzen durften. Auf jeder Seite saßen fünfzehn Ruderer hintereinander. Ihre Reihen wurden von Decks geschützt, die sich durch das Anbringen starker Schilde im Handumdrehen in Plattformen verwandeln ließen, auf denen man kämpfen konnte. Der Kran auf dem Hinterdeck war eine seltsame Konstruktion. Vielleicht, dachte Cotta, stand hier normalerweise ein starkes Katapult? Piraterie war ein einträgliches Geschäft und wurde im ganzen Mittelmeer betrieben.
Aber Cotta war kein Mann, der an einem Geschenk Fortunas herummäkelte. So nickte er nur höflich, als der Kapitän ihm erklärte, daß er auf die Beförderung von Passagieren spezialisiert sei. Auf den Decks über den Ruderreihen könnten sich die Passagiere etwas die Beine vertreten, die Kabinen seien ja leider ein wenig primitiv.
Bevor sie abgelegt hatten, hatte der Kapitän Cotta überzeugt, daß sie keine zwei zusätzlichen Rudermannschaften brauchten. Seine Männer seien die besten weit und breit, bessere könne er gar nicht finden. Sie könnten mit nur einer zusätzlichen Mannschaft die höchste Geschwindigkeit halten, und inzwischen war Cotta froh, daß er zugestimmt hat - das Schiff mußte kein zusätzliches Gewicht tragen, und gerade als die Ruderer erste Zeichen von Erschöpfung zeigten, setzte ein leichter Wind ein, stark genug, um beiden Rudermannschaften eine Pause zu verschaffen.
Das Schiff hatte den großen Hafen von Massilia in der Morgendämmerung des elften Tages im Oktober verlassen, drei Tage später warf es Anker in dem armseligen Hafen von Ostia - einen Tag vor den Iden des Oktobers. Und drei Stunden später betrat Cotta das Haus des Konsuls Publius Rutilius Rufus. Die wartenden Klienten scheuchte er vor sich her wie ein Fuchs die aufgeschreckten Hühner.
»Hinaus!« sagte er zu dem Klienten, der auf dem Besucherstuhl an Rutilius Rufus’ Schreibtisch saß. Müde ließ sich Cotta auf den Stuhl fallen, während sich der Klient erschreckt davonmachte.
Um die Mittagszeit kam der Senat zu einer außerordentlichen Sitzung in der curia hostilia zusammen. Ungefähr zur gleichen Zeit brachten Caepio und sein Sohn in schnellem Trott das letzte Stück der Via Aemilia hinter sich.
»Laßt die Türen offen«, befahl Publius Rutilius Rufus dem obersten Senatsdiener. »Das Volk soll hören, was in dieser Sitzung gesprochen wird. Und ich möchte, daß jedes Wort niedergeschrieben und im Senatsprotokoll festgehalten wird.«
In Anbetracht des Umstandes, daß man die Sitzung so kurzfristig anberaumt hatte, waren erstaunlich viele Senatoren anwesend. Auf unergründliche Weise war das Gerücht von einer schrecklichen Niederlage Roms gegen die Germanen bereits vor der offiziellen Verkündung in die Stadt gelangt. Der Versammlungsplatz der Komitien füllte sich ebenso schnell mit Menschen wie die Stufen zur curia hostilia.
Die ehrwürdigen Senatoren hatten Caepios Briefe, in denen er Einwände gegen Mallius Maximus erhob und den Oberbefehl für sich beanspruchte, noch gut in Erinnerung. Sie befürchteten neue Auseinandersetzungen und waren nervös. Der kühne Marcus Aemilius Scaurus hatte seit Wochen nichts von Caepio gehört und wußte, daß er im Nachteil war. Als nun Konsul Rutilius Rufus befahl, die Türen offenstehen zu lassen, machte Scaurus keine Anstalten, Einwände zu erheben, ebensowenig Metellus Numidicus. Alle Augen waren auf Cotta gerichtet, der in der ersten Reihe saß, neben dem Podium, auf dem der Elfenbeinstuhl seines Schwagers Rutilius Rufus stand.
»Marcus Aurelius Cotta ist heute morgen in Ostia angekommen«, eröffnete Rutilius Rufus die Sitzung. »Vor drei Tagen war er noch in Massilia und einen Tag davor in Arausio, ganz in der Nähe unserer Armeen. Ich erteile Marcus Aurelius Cotta das Wort und setze den Senat in Kenntnis, daß diese Sitzung protokolliert wird.«
Natürlich hatte Cotta ein Bad genommen und sich umgezogen, doch sein Gesicht, das sonst eine lebhafte Farbe zeigte, war grau vor Erschöpfung. Jeder Faser seines Körpers sah man an, wie müde er war, als er nun aufstand und das Wort ergriff.
»Am Tag vor den Nonen des Oktober, patres conscripti, fand bei Arausio eine Schlacht statt«, sagte Cotta. Er mußte seine Stimme nicht erheben, denn im Senat war kein Laut zu vernehmen. »Die Germanen haben uns vernichtet. Achtzigtausend römische Soldaten sind tot.« Keine Ausrufe, kein Gemurmel, niemand regte sich. Die Stille im Senat war so tief wie in der Höhle der Sibylla von Cumae. »Wenn ich sage, achtzigtausend Soldaten, dann meine ich genau das. Daneben fielen vierundzwanzigtausend Sklaven und Männer vom Troß. Die Toten der Kavallerie sind ebenfalls nicht mitgerechnet.«
Mit ausdrucksloser Stimme fuhr Cotta fort und berichtete den eingeschriebenen Vätern in allen Einzelheiten, was sich nach Ankunft der sechs Senatoren bei Arausio ereignet hatte. Er schilderte die fruchtlosen Auseinandersetzungen mit Caepio, die Unruhe und Verwirrung, die Caepio mit seiner Flut von Befehlen unter den oberen Rängen der Armee von Mallius Maximus ausgelöst hatte, er erzählte, wie manche Offiziere von Mallius Maximus sich auf die Seite von Caepio gestellt hatten, unter anderem Caepios Sohn. Er beschrieb, wie Aurelius und die Kavallerie so weit von der Armee entfernt aufgestellt worden waren, daß sich die Fußsoldaten und die Kavallerie nicht mehr gegenseitig zu Hilfe kommen konnten, »Fünftausend Soldaten, alle Männer vom Troß, der Kavallerie und alle Tiere in Aurelius’ Lager wurden getötet. Der Legat Marcus Aurelius Scaurus wurde von den Germanen gefangengenommen. Sie haben ihn bei lebendigem Leib verbrannt, eingeschriebene Väter, um ein Exempel zu statuieren. Wie mir ein Augenzeuge berichtete, starb er mannhaft und mit vorbildlicher Tapferkeit.«
Viele Senatoren waren aschgrau geworden, denn die meisten hatten Söhne oder Brüder, Neffen oder Vettern in einer der Armeen. Einige Senatoren weinten leise, die Köpfe in ihre Togen gehüllt, andere hatten sich nach vorne gebeugt und verbargen ihre Gesichter in den Händen. Der Senatsvorsitzende Scaurus saß als einziger aufrecht, doch auf seinen Wangen brannten zwei rote Flecken, und der Mund war nur eine schmale, blasse Linie.
»Jeden, der hier sitzt, trifft eine Mitschuld an dem, was geschehen ist«, fuhr Cotta fort. »Unter den Abgesandten des Senates befand sich kein Konsular, ich, ein einfacher ehemaliger Prätor, hatte als einziger von den sechs Senatoren ein kurulisches Amt inne. Wir waren Quintus Sertorius weder an Geburt noch an Rang ebenbürtig, und natürlich weigerte er sich, uns als gleichgestellt anzuerkennen. Statt dessen nahm er unsere Unterlegenheit, unseren Mangel an Einfluß, als Zeichen, daß der Senat hinter ihm stand. Und er hatte recht damit, patres conscripti! Es war euch nicht ernstlich daran gelegen, Quintus Servilius dem Gesetz und dem Befehl des Konsuls Mallius Maximus zu unterstellen, sonst wäre die Abordnung mit Konsularen vollgestopft gewesen! Ihr habt absichtlich fünf zweitrangige Senatoren und einen ehemaligen Prätor geschickt, und das zu Verhandlungen mit einem Befehlshaber, der dafür bekannt ist, daß er die Vorrechte von Geburt und Rang besonders hartnäckig verteidigt!«
Kein Senator hob den Kopf, immer mehr verhüllten sich in ihre Togen. Doch Scaurus blieb aufrecht sitzen, die blitzenden Augen auf Cotta geheftet.
»Die Kluft zwischen Quintus Servilius Caepio und Gnaeus Mallius Maximus verhinderte die Vereinigung ihrer beiden Armeen. Anstatt einer einzigen, großen Armee mit siebzehn Legionen und mehr als fünftausend Kavalleristen standen den Germanen zwei Armeen gegenüber, zwanzig Meilen auseinander, die kleinere näher am germanischen Heer, ohne Schutz durch die Kavallerie. Quintus Servilius Caepio hat mir selbst gesagt, daß er seinen Triumph nicht mit Gnaeus Mallius Maximus teilen wollte. Also stellte er seine Armee absichtlich so weit nördlich von Gnaeus Mallius auf, daß der Konsul an der Schlacht nicht teilnehmen konnte - denn es war ja seine, Quintus Caepios Schlacht.«
Cotta holte rasselnd Atem, in der Totenstille des Senats klang es so laut, daß Rutilius Rufus auffuhr. Scaurus regte sich nicht. Metellus Numidicus, der neben Scaurus saß, hob langsam den Kopf aus der Toga und richtete sich auf. Sein Gesicht war wie versteinert.
»Auch wenn man diese verhängnisvolle Kluft zwischen Quintus Servilius und Gnaeus Mallius außer acht läßt, eingeschriebene Väter, muß man ehrlicherweise sagen, daß die Schlacht gegen die Germanen gar nicht gewonnen werden konnte, weil weder Quintus Servilius noch Gnaeus Mallius die militärischen Fähigkeiten dazu hatten! Aber eines ist unstreitig: Die Hauptschuld ist bei Quintus Servilius zu suchen. Denn er war nicht nur ein ebenso schlechter Befehlshaber wie Gnaeus Mallius, sondern er setzte sich auch über das Gesetz hinweg. Er stellte sich selbst über das Gesetz! Er glaubte, das Gesetz sei für weniger erlauchte Persönlichkeiten bestimmt als ihn. Ein wahrer Römer, Senatsvorsitzender Marcus Aemilius Scaurus«, und hier wandte sich Cotta direkt an den Vorsitzenden des Senats, der sich nach wie vor nicht rührte, »stellt das Gesetz über alles andere. Denn ein wahrer Römer weiß, daß es unter dem Gesetz keine Rangunterschiede gibt, weil das Gesetz Kontrolle und Ausgleich gerade in der Weise bereithält, daß ein Gleichgewicht geschaffen wird. Wir haben Roms Gesetz wohlüberlegt so gestaltet, daß sich kein Mann - keiner! - über die anderen erheben kann. Quintus Servilius Caepio benahm sich, als wäre er der Erste Mann Roms. Doch nach dem Gesetz kann es keinen Ersten Mann geben! Ich sage euch, Gnaeus Mallius war nur ein schlechter Befehlshaber, doch Quintus Servilius hat das Gesetz gebrochen.«
Immer noch lag Stille über dem Senat. Cotta seufzte. »Arausio ist eine schlimmere Niederlage als Cannae. Unsere besten Männer sind tot. Ich weiß es, denn ich war dort. Vielleicht dreizehntausend Mann haben überlebt, die Unerfahrensten aus allen Legionen, und ihr Rückzug war nicht geordnet, sondern eine regellose Flucht. Sie warfen ihre Waffen und Rüstungen weg und schwammen über die Rhône in Sicherheit. Dort wandern sie jetzt ziellos am Westufer herum, und einigen Berichten zufolge haben sie solche Angst vor den Germanen, daß sie eher desertieren würde, als sich noch einmal geordnet in einer römischen Armee aufstellen zu lassen. Sextus Julius Caesar wurde von einem seiner eigenen Männer niedergeschlagen, als er versuchte, die Fliehenden aufzuhalten. Es freut mich, euch sagen zu können, daß er noch am Leben ist, ich selbst habe ihn auf dem Schlachtfeld gefunden, wo die Germanen ihn liegen ließen, weil sie ihn für tot hielten. Meine Begleiter und ich - neunundzwanzig Männer insgesamt - waren die einzigen, die sich um die Verwundeten gekümmert haben, fast drei Tage lang kam uns niemand zu Hilfe. Der allergrößte Teil der Männer, die auf dem Schlachtfeld lagen, war tot, doch zweifellos mußten einige nur deshalb sterben, weil nach der Schlacht niemand da war, der ihnen hätte helfen können.«
Trotz seiner eisernen Selbstbeherrschung machte Metellus Numidicus eine Handbewegung, in der eine angstvolle Frage lag. Cotta sah die Geste und schaute Metellus Numidicus an, den Feind von Gaius Marius. Cotta hatte keine Sympathien für Gaius Marius.
»Dein Sohn, Quintus Caecilius Metellus Numidicus, hat die Schlacht ohne Verletzungen überlebt, und er war beileibe kein Feigling. Er hat den Konsul Gnaeus Mallius Maximus und einige Angehörige seines Stabes gerettet. Gnaeus Mallius jedoch hat beide Söhne verloren. Von den vierundzwanzig Militärtribunen haben nur drei überlebt - Marcus Livius Drusus, Sextus Julius Caesar und der junge Quintus Servilius Caepio. Marcus Livius Drusus und Sextus Julius Caesar wurden schwer verwundet, der junge Quintus Servilius, der die unerfahrenste Legion kommandierte und dem Fluß am nächsten stand, überlebte, weil er an das andere Ufer schwamm. Unter welchen Umständen das geschah und ob er damit seine Ehre verloren hat, weiß ich nicht.«
Cotta machte eine Pause und räusperte sich. Er fragte sich, ob Metellus Numidicus deshalb so erleichtert aussah, weil sein Sohn überlebt hatte oder weil er kein Feigling gewesen war. »Aber all diese glücklichen Einzelschicksale verblassen, wenn man sich vor Augen hält, daß kein einziger Zenturio mit etwas Kampferfahrung überlebt hat, und zwar in keiner der beiden Armeen. Rom hat keine ausgebildeten Offiziere mehr, patres conscripti! Und die große römische Armee in Gallia Transalpina ist ausgelöscht.« Cotta schwieg einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »Sie hat niemals existiert, dank Quintus Servilius Caepio.«
Vor den großen Bronzetoren der curia hostilia gaben die vordersten, die alles verstehen konnten, Cottas Bericht an die hinteren Reihen weiter. Immer mehr Menschen strömten zusammen, die riesige Menge bedeckte inzwischen das ganze Argiletum - die Straße, die vom Forum Romanum in die Subura führte - und den Clivus Argentarius und den gesamten unteren Teil des Forums hinter dem Versammlungsort der Komitien. Obwohl die versammelte Menge ungeheuer groß war, herrschte vollkommene Stille. Nur ein vielstimmiges, leises Schluchzen war zu hören. Rom hatte die entscheidende Schlacht verloren. Und Italien war den Germanen ungeschützt ausgeliefert.
Bevor Cotta sich setzen konnte, fragte Scaurus: »Und wo sind die Germanen jetzt, Marcus Aurelius? Wie weit südlich von Arausio standen sie, als du abgereist bist? Und wie weit südlich können sie mittlerweile sein, jetzt, in diesem Augenblick?«
»Ich kann es beim besten Willen nicht sagen, princeps senatus. Als die Schlacht vorüber war - sie dauerte nur eine Stunde - wandten sich die Germanen wieder nach Norden, anscheinend wollten sie die Wagen und ihre Frauen und Kinder holen, die nördlich des Lagers der Kavallerie geblieben waren. Als ich mich auf den Weg nach Rom machte, waren sie noch nicht zurückgekehrt. Ich sprach mit einem Germanen, der als Dolmetscher bei den Verhandlungen zwischen Marcus Aurelius Scaurus und den germanischen Häuptlingen dabeigewesen war. Die Germanen hatten ihn mitgenommen, aber weil er einer der Ihren war, geschah ihm nichts.
Seinem Bericht zufolge brach unter den Germanen ein Streit aus, und sie haben sich - für den Moment jedenfalls - in drei Gruppen gespalten. Es scheint, als ob keine der Gruppen es wagen will, allein in römisches Gebiet einzudringen. Sie ziehen auf unterschiedlichen Wegen durch Gallia Narbonensis nach Spanien. Der Streit entstand allerdings vor allem durch den Wein, den sie aus den römischen Lagern mitgenommen hatten. Wie lange die Spaltung anhält, kann niemand voraussehen. Ich kann auch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der Dolmetscher die Wahrheit gesprochen hat. Oder auch nur einen Teil der Wahrheit. Er sagt, er sei geflohen und zu uns zurückgekommen, weil er nicht mehr unter den Germanen leben wollte. Aber es kann natürlich auch sein, daß die Germanen ihn zurückgeschickt haben, damit er unsere Ängste einschläfert und wir eine desto leichtere Beute für sie werden. Ich kann mit Sicherheit nur sagen, daß von den Germanen keine Spur zu sehen war, als ich aufbrach«, sagte Cotta und setzte sich.
Rutilius Rufus erhob sich. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Debatte, eingeschriebene Väter. Und auch nicht für gegenseitige Beschuldigungen oder weitere Streitereien. Wir müssen handeln.«
»Hört, hört!« war eine Stimme aus dem Hintergrund zu vernehmen.
»Morgen haben wir die Iden des Oktobers«, fuhr Rutilius Rufus fort. »Das bedeutet, daß die Jahreszeit, in der Feldzüge unternommen werden können, so gut wie vorüber ist. Wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn wir etwas dagegen tun wollen, daß die Germanen in unser Land eindringen können, wann es ihnen gerade paßt. Ich habe einen Plan entworfen, den ich euch nun vorlegen will, doch zunächst möchte ich euch eindringlich warnen. Bei dem leisesten Anzeichen einer Meinungsverschiedenheit, eines Streites oder einer Spaltung des Senats werde ich meinen Plan dem Volk vorlegen und mir die Zustimmung der Versammlung der Plebs holen. Damit nehme ich euch, patres conscripti, das Vorrecht, über die Verteidigungsmaßnahmen von Rom zu entscheiden. Das Verhalten von Quintus Servilius Caepio zeigt ganz genau, wo die größte Schwäche unserer senatorischen Ordnung liegt - nämlich darin, daß der Senat nicht zugeben will, daß durch Glück, Geschick und Schicksal gelegentlich auch Männer aus niedrigen Rängen aufsteigen können, Männer, die größere Begabungen haben als wir, die wir uns durch Geburt und Tradition berufen fühlen, das Volk von Rom zu regieren - und seine Armeen zu kommandieren.«
Er hatte sich umgewandt und sprach nun in Richtung der offenen Türen. Seine hohe, kräftige Stimme schallte über den Versammlungplatz.
»Wir werden jeden kriegstauglichen Mann Italiens brauchen, soviel steht fest. Von den capite censi durch alle Klassen und Stände hindurch bis hin zum Senat, jeden tauglichen Mann! Deshalb fordere ich euch auf, von der Versammlung der Plebs ein Gesetz verabschieden zu lassen, das ab sofort jedem Mann zwischen siebzehn und fünfunddreißig verbietet, Italien zu verlassen - gleichgültig, ob der Mann Römer oder Latiner oder Italiker ist, gleichgültig, ob er Italien auf dem Seeweg verlassen oder über den Arno oder den Rubikon nach Gallien gelangen will. Morgen sollen Kuriere im Galopp folgende Order an jeden Hafen unserer Halbinsel überbringen: Kein Schiff und kein Boot darf einen tauglichen Mann an Bord nehmen. Ein Verstoß wird mit der Todesstrafe geahndet, sowohl für den Passagier als auch für die Mannschaft.«
Keiner der anwesenden Senatoren sagte etwas, weder der Senatsvorsitzende Scaurus noch Metellus Numidicus, weder der Pontifex maximus Metellus Delmaticus noch Ahenobarbus der Ältere, weder Catulus Caesar noch Scipio Nasica. Gut, dachte Rutilius Rufus. Sie werden sich zumindest nicht gegen dieses Gesetz stellen.
»Jeder verfügbare Beamte wird mit der Rekrutierung von Soldaten, von einfachsten Fußsoldaten bis zu den höchsten Rängen, beauftragt. Das bedeutet auch, eingeschriebene Väter, daß jeder von euch, der unter fünfunddreißig ist, in die Legionen eingezogen wird, unabhängig davon, an wie vielen Kriegszügen er schon teilgenommen hat. Wenn wir dieses Gesetz mit aller Strenge durchführen, können wir wenigstens ein paar Soldaten zusammenbekommen. Aber bei weitem nicht genug, so fürchte ich. Quintus Servilius hatte beinahe jeden landbesitzenden Italiker in seiner Armee und Gnaeus Mallius fast siebzigtausend Besitzlose, entweder als Soldaten oder als nichtkämpfende Männer.
Wir müssen also sehen, welche Armeen wir noch zur Verfügung haben: zwei Legionen in Makedonien, beide von Verbündeten gestellt und beide in Makedonien unabkömmlich, drei Legionen in Spanien, zwei in Hispania Ulterior und eine in Hispania Citerior, zwei davon sind römische Legionen, eine besteht aus Soldaten von Verbündeten. Sie müssen nicht nur in Spanien bleiben, sondern unbedingt verstärkt werden. Die Germanen beabsichtigen ja schließlich, nach Spanien zu ziehen.« Er machte eine Pause.
Der Senatsvorsitzende Scaurus wurde wieder lebendig. »Nun mach schon, Publius Rutilius!« Er klang gereizt. »Komm endlich zur Sache - zu Africa und zu Gaius Marius!«
Rutilius Rufus blinzelte und heuchelte Überraschung. »Oh, ich danke dir, princeps senatus, ich danke dir sehr! Wenn du das nicht erwähnt hättest, hätte ich womöglich nicht daran gedacht! Du wirst ganz zu Recht der Wachhund des Senats genannt! Was würden wir nur ohne dich tun?«
»Verschone mich mit deinem Sarkasmus, Publius Rutilius!« knurrte Scaurus. »Mach endlich weiter.«
»Natürlich! Meines Erachtens gibt es zu Africa drei Dinge zu sagen: Erstens wurde der Krieg dort erfolgreich beendet, der Feind ist vernichtend geschlagen, der feindliche König und seine Familie warten in diesem Moment hier in Rom auf ihre gerechte Bestrafung. Sie befinden sich als Gäste im Haus unseres edlen Quintus Caecilius Metellus Schweine... hoppla! Ich bitte dich vielmals um Verzeihung, Quintus Caecilius, ich meine selbstverständlich Numidicus! Nun, sie befinden sich hier in Rom.
Zweitens besteht die africanische Armee aus sechs Legionen - alle Plebejer, zugegeben, doch sie sind tapfer, ausgezeichnet trainiert und werden von hervorragenden Offizieren befehligt - vom jüngsten Zenturio bis hin zu den Legaten. Zu der Armee gehören außerdem zweitausend Reiter, ebenfalls sehr erfahren und tapfer.«
Rutilius Rufus machte eine Pause, wippte von den Fersen auf die Fußspitzen und zurück und bedachte seine Zuhörer dann mit einem wölfischen Grinsen. »Der dritte Punkt schließlich, patres conscripti, ist ein Mann. Ein einziger Mann. Ich meine natürlich Gaius Marius, den Oberbefehlshaber der africanischen Armee. Er ist der einzige, der einen so uneingeschränkten Sieg erringen konnte, daß er mit den Siegen von Scipio Aemilianus gleichzusetzen ist. Numidien wird sich nie mehr gegen uns erheben. Die Bedrohung für die römische Provinz Africa, die römischen Bürger und den römischen Besitz gibt es nicht mehr, die Weizenlieferungen aus Africa sind gesichert. Gaius Marius hinterläßt ein Land, das so vollständig unterworfen und befriedet ist, daß wir nicht einmal eine Legion dort lassen müssen.«
Er trat vom Podium herab, auf dem die Elfenbeinstühle der Inhaber von kurulischen Ämtern standen, und ging über die schwarzweißen Fliesen der Halle zu den Bronzetüren. Dort stellte er sich so, daß die Menschen auf dem Forum ihn besser verstehen konnten.
»Rom braucht einen fähigen Feldherren, und zwar noch dringender als Soldaten und Zenturionen. Gaius Marius selbst sagte einmal hier vor diesem Senat, daß in den paar Jahren seit Gaius Gracchus’ Tod Tausende und Abertausende römischer Soldaten sterben mußten, nur weil sie von unfähigen Feldherren geführt wurden! Als Gaius Marius diese Worte sprach, war Rom noch um hunderttausend Mann reicher als jetzt, nach Arausio. Und wie viele Soldaten, Zenturionen und nichtkämpfende Männer hat Gaius Marius verloren? Nun, patres conscripti, so gut wie keinen! Vor drei Jahren führte er sechs Legionen nach Africa, und er hat immer noch sechs Legionen. Sechs erfahrene Legionen mit Zenturionen!«
Er machte eine Pause und brüllte dann, so laut er konnte: »Gaius Marius ist die Lösung für das, was Rom jetzt am dringendsten braucht - eine Armee und einen fähigen Feldherrn!«
Die Zuhörer vor der curia hostilia konnten seine schmale Figur einen Moment lang erkennen, als er sich umwandte, um durch die Halle hindurch auf sein Podium zurückzukehren. Vor dem Podium blieb er stehen.
»Ihr habt gehört, was Marcus Aurelius Cotta berichtet hat. Die Germanen scheinen uneinig zu sein, im Augenblick sieht es sogar so aus, als hätten sie ihre Absicht aufgegeben, durch die Provinz Gallia Transalpina zu ziehen. Aber darauf können wir uns nicht verlassen, wir dürfen uns nicht zu weiteren Dummheiten hinreißen lassen. Von einer Tatsache jedoch können wir mit Sicherheit ausgehen: daß wir uns im kommenden Winter vorbereiten müssen. Als erstes müssen wir Gaius Marius als Prokonsul von Gallien verpflichten, und sein imperium darf bis zur vollständigen Niederwerfung der Germanen nicht aufgehoben werden.«
Es gab ein allgemeines Gemurmel, die Vorboten des Protestes. Dann war die Stimme von Metellus Numidicus zu hören.
»Gaius Marius soll den Befehl über Gallia Transalpina mit dem imperium proconsulare erhalten, und das unbeschränkt, auf Jahre hinaus?« fragte er ungläubig. »Nur über meine Leiche!«
Rutilius Rufus stampfte mit dem Fuß auf und schüttelte die Faust. »Oh, ihr Götter, da haben wir es wieder!« schrie er. »Quintus Caecilius, verstehst du denn immer noch nicht das Ausmaß unserer Misere? Wir brauchen einen Feldherrn wie Gaius Marius!«
»Wir brauchen seine Truppen«, widersprach der Senatsvorsitzende Scaurus laut, »aber wir brauchen nicht Gaius Marius selbst. Es gibt andere hier, die ebenso gut sind!«
»Du meinst natürlich deinen Freund Quintus Caecilius Schweinebacke, nicht wahr, Marcus Aemilius?« Rutilius Rufus schnaufte verächtlich. »Was für ein Unsinn! Zwei Jahre lang hat Quintus Caecilius in Africa herumgestümpert. Ich weiß es, denn ich war dort! Ich habe unter Quintus Caecilius gedient, und Schweinebacke ist ein passender Name für diesen Herrn, denn er versteht vom Kriegführen gerade so viel wie ein dickes Flußschwein! Ich habe auch unter Gaius Marius gedient, und vielleicht erinnern sich manche von euch noch daran, daß ich kein einfacher Soldat war! Ich hätte das Kommando in Gallia Transalpina haben sollen, nicht Gnaeus Maximus! Doch das ist inzwischen Vergangenheit, und ich will mich nicht in Beschuldigungen ergehen.
Ich sage euch, patres conscripti, Roms Notlage ist zu wichtig und zu dringend, als daß wir es uns leisten könnten, Rücksichten auf die Eitelkeiten einiger unserer hochrangigsten Mitglieder zu nehmen! Und ich sage euch, patres conscripti - euch allen, die ihr auf den vorderen Rängen des Hauses sitzt, und euch auf den hinteren Rängen -, es gibt nur einen Mann, der die Fähigkeiten besitzt, uns aus dieser Notlage herauszuführen, und das ist Gaius Marius! Kommt es denn darauf an, ob sein Name im Zuchtbuch verzeichnet ist? kommt es darauf an, ob er ein römischer Römer ist? Quintus Servilius Caepio ist ein echter römischer Römer, und seht euch an, wohin er uns gebracht hat! Wißt ihr, wohin er uns gebracht hat? Genau in die Mitte dieser Scheiße!«
Rutilius Rufus brüllte voller Wut und Angst, denn er war jetzt sicher, daß die Senatoren die Notwendigkeit seines Vorschlages nicht verstehen würden. »Ehrwürdige Mitglieder dieses Hauses, verehrte Kollegen! Ich bitte euch, laßt dieses eine Mal eure Vorurteile beiseite! Wir müssen Gaius Marius prokonsularische Befugnisse in Gallia Transalpina geben! Und wir müssen sie ihm so lange geben, bis die Germanen wieder nach Germanien zurückgedrängt sind!«
Und dieser letzte, leidenschaftliche Aufruf tat endlich die gewünschte Wirkung. Er hatte die Senatoren auf seiner Seite. Scaurus wußte es, und Metellus Numidicus wußte es auch.
Der Prätor Manius Aquillius erhob sich. Sein Rang war zwar hoch genug, doch die Geschichte seiner Familie war weniger von Heldentaten geprägt als von Taten, die aus Gier begangen worden waren. Sein Vater hatte ganz Phrygien für eine riesige Summe Goldes an König Mithridates von Pontos verkauft und damit dem unergründlichen Orientalen den Weg in die römische Provinz Asia geöffnet, die Rom von König Attalos von Pergamon geerbt hatte.
»Publius Rutilius, ich möchte sprechen«, bat er.
»Dann sprich«, sagte Rutilius Rufus und ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl sinken.
»Ich wünsche zu sprechen!« sagte der Senatsvorsitzende Scaurus ärgerlich.
»Nach Manius Aquillius«, erwiderte Rutilius Rufus liebenswürdig.
»Publius Rutilius, Marcus Aemilius, eingeschriebene Väter«, begann Aquillius mit der korrekten Anrede, »ich stimme dem Konsul zu, daß es nur einen Mann gibt, der uns aus dieser gefährlichen Lage führen kann, und ich stimme ihm zu, daß dieser Mann Gaius Marius ist. Doch der Vorschlag unseres verehrten Konsuls geht nicht weit genug. Mit einem imperium proconsulare, das auf Gallia Transalpina beschränkt ist, engen wir Gaius Marius zu sehr ein. Was passiert denn, wenn der Krieg gegen die Germanen aus Gallia Transalpina hinausgetragen wird? Wenn sich der Kriegsschauplatz nach Gallia Cisalpina oder nach Spanien oder gar nach Italien verlagert? Nun, der Oberbefehl würde automatisch an den jeweiligen Statthalter oder den amtierenden Konsul übergehen. Gaius Marius hat viele Feinde im Senat, und ich bin mir nicht sicher, ob seine Feinde das Wohlergehen Roms wichtiger nehmen als ihren persönlichen Groll. Die Weigerung von Quintus Servilius Caepio, mit Gnaeus Mallius Maximus zusammenzuarbeiten, ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, was passiert, wenn ein Angehöriger des alten Adels seine eigene dignitas wichtiger nimmt als die Roms.«
»Du hast unrecht, Manius Aquillius«, unterbrach Scaurus ihn. »Quintus Servilius hielt die dignitas Roms ebenso hoch wie seine eigene!«
»Ich danke dir für diese Berichtigung, Senatsvorsitzender«, erwiderte Manius Aquillius freundlich und machte eine kleine Verbeugung, die niemand als wirklich ironisch bezeichnen konnte. »Du hast recht, mich zu verbessern. Die dignitas von Rom und die von Quintus Servilius Caepio sind natürlich identisch! Aber warum schätzt du die dignitas eines Gaius Marius so viel geringer als die eines Quintus Servilius Caepio? Gaius Marius’ Verdienste sind genauso groß, wenn nicht noch größer, obwohl seine Vorfahren keinen Besitz hatten! Die Karriere von Gaius Marius ist makellos! Und nimmt irgendein Mitglied dieses Hauses ernstlich an, Gaius Marius würde zuerst an seinen Heimatort Arpinum denken und dann erst an Rom? Nimmt jemand ernstlich an, Gaius Marius sähe in Arpinum etwas anderes als einen Teil von Rom? Jeder von uns hat Vorfahren, die einmal homines novi waren! Sogar Aeneas - der immerhin von Troja nach Latium kam! - war ein homo novus! Gaius Marius war Prätor und Konsul. Er hat sich damit selbst geadelt, und seine Nachkommen werden bis ans Ende aller Zeiten adlig sein.«
Aquillius’ Augen schweiften über die Ränge der weißgekleideten Senatoren. »Ich sehe einige Senatoren hier, die den Namen von Porcius Cato tragen. Nun - ihr Großvater war ein homo novus. Heute sehen wir in den Catos Säulen des Senats, edle Nachkommen eines großen Mannes, doch seinerzeit hatte der Name Cato die gleiche Wirkung auf die Nachfahren von Cornelius Scipio wie der Name Gaius Marius heute auf Caecilius Metellus.«
Er stieg vom Podium hinab, durchquerte die Halle und setzte wie Rutilius Rufus seine Rede in der Nähe der offenen Türen fort, damit alle Zuhörer vor der curia hostilia ihn verstehen konnten.
»Gaius Marius und kein anderer muß das Oberkommando gegen die Germanen erhalten, gleichgültig, wo sich der Kriegsschauplatz befindet! Und darum reicht es nicht aus, ihn mit einem prokonsularischen imperium auszustatten, das auf Gallia Transalpina beschränkt ist.«
Er wandte sich wieder den Senatoren zu und sprach mit erhobener Stimme. »Es ist klar, daß Gaius Marius hierzu nicht persönlich Stellung nehmen kann, denn er befindet sich immer noch in der africanischen Provinz, und die Zeit läuft uns davon, schneller als ein Pferd im Galopp. Gaius Marius muß Konsul werden! Das ist die einzige Möglichkeit, ihm die Macht zu geben, die er brauchen wird. Er muß als Kandidat für die nächsten Konsulwahlen aufgestellt werden, als Kandidat in absentia!«
Aus den Reihen der Senatoren war ungehaltenes Murmeln und Brummen zu vernehmen, doch Manius Aquillius fuhr ungerührt fort und fesselte bald wieder die Aufmerksamkeit aller. »Kann irgend jemand verneinen, daß die Männer in den Zenturien zur Blüte unseres Volkes zählen? Also schlage ich vor, daß die Männer der Zenturien entscheiden sollen! Entweder wählen sie Gaius Marius in absentia, oder sie wählen ihn nicht. Auf jeden Fall ist die Entscheidung über den Oberbefehl zu wichtig, als daß der Senat sie treffen könnte. Und sie ist auch zu bedeutend für die Versammlung der Plebs oder die Versammlung des ganzen Volkes. Ich sage euch, eingeschriebene Väter, die Entscheidung über den Oberbefehl im Krieg gegen die Germanen muß von den wichtigsten Männern Roms gefällt werden, von den Männern der Ersten und Zweiten Klasse, die in ihrer eigenen Versammlung entscheiden, in den comitia centuriata!«
Oh, hier haben wir also unseren Odysseus, dachte Rutilius Rufus. Das hätte ich nie erwartet! Und es gefällt mir auch nicht. Nun, auf jeden Fall hat er die Leute um Scaurus jetzt in der Hand. Und es hätte niemals geklappt, wenn ich mit der kniffligen Frage über Gaius Marius’ Befehlsgewalt vor die Volksversammlung gegangen wäre. Die ganze Sache wäre von den Volkstribunen geleitet worden, es hätte viel Geschrei und Gebrüll gegeben, möglicherweise sogar Handgreiflichkeiten. Für Männer wie Scaurus ist so ein lärmender Haufen eine gute Rechtfertigung, die Geschicke Roms selbst in die Hand zu nehmen. Und die Männer der Ersten und Zweiten Klasse? Nun, das ist ein ganz anderer Schlag. Schlau, sehr schlau, Manius Aquillius!
Erst etwas vorschlagen, was noch nie dagewesen ist - nämlich einen Mann zum Konsul wählen zu lassen, der sich nicht einmal in Rom befindet. Und dann auch Scaurus und seine Leute wissen lassen, daß die Frage nicht von ihnen entschieden werden soll, sondern von den besten Männern Roms! Und wenn die Erste und die Zweite Klasse Gaius Marius nicht wollen, müssen sie nur zwei andere Männer aussuchen, wenn sie ihn wollen, müssen sie nur für ihn und einen zweiten Kandidaten stimmen. Und ich könnte wetten, daß die Dritte Klasse nicht einmal Gelegenheit bekommt zu wählen! Damit wäre auch dem Anspruch auf Wahrung der Standesunterschiede Genüge getan.
Das wirkliche Problem ist diese Sache in absentia. Damit muß Manius Aquillius zur Versammlung der Plebs gehen, hier im Senat wird er dafür keine Zustimmung erhalten. Man braucht sich ja nur anzusehen, wie die Volkstribunen vor Schadenfreude auf ihren Bänken herumzappeln! Sie werden bestimmt kein Veto einlegen. Sie werden den Vorschlag mit der Wahl in absentia vor die Versammlung der Plebs bringen, und die Plebejer werden so verblüfft darüber sein, daß ihre zehn Tribunen einmal einig vor ihnen stehen, daß sie ein Gesetz verabschieden. Ein Gesetz, das es Gaius Marius ermöglicht, in Abwesenheit zum Konsul gewählt zu werden. Natürlich werden Scaurus und Metellus Numidicus sich auf die lex Villia annalis berufen, nach der kein Mann innerhalb von zehn Jahren zweimal zum Konsul gewählt werden darf. Aber sie werden auch damit nicht durchkommen. Scaurus und Metellus Numidicus und all die anderen werden den kürzeren ziehen.
Auf diesen Manius Aquillius sollte man aufpassen, überlegte Rutilius Rufus. Er wandte sich auf seinem Stuhl um und betrachtete ihn genau. Erstaunlich! Da sitzen sie seit Jahren fügsam und still wie kleine vestalische Jungfrauen auf ihren Bänken, und sobald sich die Gelegenheit bietet, werfen sie den Schafspelz ab und zeigen ihr wahres Gesicht. Du bist ein Wolf unter deinem Schafspelz, Manius Aquillius.
In der africanischen Provinz aufzuräumen, war ein Vergnügen, nicht nur für Gaius Marius, sondern auch für Lucius Cornelius Sulla. Zugegeben, die militärischen Pflichten standen jetzt hinter den Verwaltungsaufgaben zurück, doch beiden gefiel die Herausforderung, die damit verbunden war. Sie konnten die Provinz Africa völlig neu gestalten und die beiden angrenzenden Königreiche ebenfalls.
Gauda war der neue König von Numidien, ein Schwächling nach wie vor, doch sein Sohn, Prinz Hiempsal, zeigte außergewöhnliche Fähigkeiten. Marius vermutete, daß Hiempsal wohl bald die Regentschaft übernehmen würde. Bocchus von Mauretanien, der inzwischen wieder als offizieller Freund und Verbündeter in die Arme Roms zurückgekehrt war, hatte sein Königreich um große Gebiete, die vorher Teil des westlichen Numidiens waren, erweitert. Während früher der Mulucha die Ostgrenze seines Reiches gebildet hatte, verlief die Grenze jetzt nur fünfzig Meilen westlich von Rusicade und Cirta. Der größte Teil von Ostnumidien gehörte nun zur römischen Provinz Africa, und Marius konnte den Rittern und Landbesitzern unter seinen Klienten viel Land im reichen Küstengebiet der Kleinen Syrte verschaffen. Die großen, fruchtbaren Inseln in der Kleinen Syrte behielt sich Marius für sich selbst vor. Er hatte bestimmte Pläne, vor allem für Meninx und Kerkena.
»Wenn es einmal soweit ist, daß die Armee entlassen wird«, sagte Marius zu Sulla, »kommt ein Problem auf uns zu - was soll mit den Soldaten geschehen? Sie sind alle capite censi das bedeutet, sie besitzen keine Geschäfte und keine Bauernhöfe, zu denen sie zurückkehren könnten. Sie können sich in andere Armeen eintragen lassen, und ich vermute, daß viele das tun werden. Da ihre Ausrüstung dem Staat gehört, können sie sich wiederum nur einer Armee anschließen, die Besitzlose aufnimmt, und da Scaurus und Schweinebacke sich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, Plebejer als römische Soldaten zu rekrutieren, dürften solche Armeen in Zukunft Seltenheitswert erlangen. Zumindest wenn wir mit den Germanen fertig sein werden - oh, Lucius Cornelius, wäre es nicht großartig, wenn wir in diesem Krieg mitkämpfen könnten? Aber sie werden uns nicht lassen, leider.«
»Ich würde meine rechte Hand darauf verwetten«, erwiderte Sulla.
»Behalt sie lieber«, meinte Marius.
»Sprich weiter - was wolltest du über die Soldaten sagen, die entlassen werden?« fragte Sulla.
»Ich denke, der Staat schuldet den Plebejern ohne Grundbesitz ein bißchen mehr als nur einen Beuteanteil am Ende eines Feldzuges. Ich denke, der Staat sollte jedem dieser Männer ein Stückchen Land schenken, auf dem sie sich zur Ruhe setzen können. Mit anderen Worten, er könnte brave Bürger aus ihnen machen, die in bescheidenem Wohlstand leben.«
»Eine militärische Version der Landreform, die die beiden Gracchen wollten?« fragte Sulla leicht erstaunt.
»Genau. Du bist nicht einverstanden?«
»Ich habe gerade daran gedacht, was der Senat dazu sagen wird.«
»Nun, ich nehme an, der Widerstand im Senat wäre wesentlich kleiner, wenn das zu verteilende Land kein ager publicus wäre - kein römisches Gemeindeland. Wenn du nur laut darüber nachdenkst, ager publicus zu verteilen, hast du schon Ärger - zu viele einflußreiche Männer stehen als Pächter Schlange. Nein, ich möchte vom Senat die Erlaubnis - oder vom Volk, falls der Senat nicht zustimmt, aber das wird hoffentlich nicht passieren -, die besitzlosen Soldaten auf schönen, großen Grundstücken auf Kerkena oder Menirix hier in der Kleinen Syrte anzusiedeln. Gib jedem ehemaligen Soldaten, na, sagen wir einmal hundert iugera, und er wird zwei Dinge für Rom tun. Erstens werden er und seine Kameraden einen Kern erfahrener Krieger bilden, die man im Falle künftiger Kriege in Africa jederzeit mobilisieren kann. Zweitens werden er und seine Kameraden römische Kultur in die Provinzen tragen - römisches Gedankengut, römische Sitten und Lebensgewohnheiten, römische Sprache.«
Sulla schien nicht ganz einverstanden. »Ich weiß nicht, Gaius Marius. Zumindest die zweite Überlegung scheint mir falsch zu sein. Römisches Gedankengut, römische Sitten und Lebensgewohnheiten, römische Sprache - diese Dinge gehören zu Rom. Sie in das punische Africa einzuführen, mit seinen Berbern und Mauren, nun, das kommt mir wie ein Verrat an Rom vor.«
Marius schaute hilfesuchend zur Decke. »Kein Zweifel, Lucius Cornelius, daß du ein Aristokrat bist! Du bist in deinem Leben vielleicht durch ein paar Niederungen gegangen, aber niedrig denkst du bestimmt nicht.« Er wandte sich wieder der gemeinsamen Arbeit zu. »Hast du die Listen von dem ganzen Kram, den wir erbeutet haben? Die Götter mögen uns beistehen, wenn wir auch nur einen letzten goldbeschlagenen Nagel auf der Liste vergessen. Und das Ganze in fünffacher Ausfertigung!«
»Finanzbeamte, Gaius Marius, sind der Bodensatz der Römer«, bemerkte Sulla, während er sich durch Papierstapel wühlte.
»Nicht nur der Römer, Lucius Cornelius.«
An den Iden des Novembers traf ein Brief von Publius Rutilius Rufus in Utika ein. Marius hatte sich angewöhnt, die Briefe von Rutilius Rufus gemeinsam mit Sulla zu lesen, denn Sulla konnte den schwungvollen Stil mehr genießen als er, Sulla hatte ein ausgeprägteres Gefühl für Sprache. Als der Brief jedoch in Marius’ Arbeitszimmer gebracht wurde, war Sulla gerade nicht da, und das war Marius ganz recht. Er wollte die Gelegenheit nutzen und den Brief wenigstens kurz überfliegen, um sich mit dem Inhalt vertraut zu machen. Wenn Sulla dabeisaß, fiel es ihm immer schwer, sich durch die endlosen Schnörkel auf dem Papier zu kämpfen und sie in einzelne Worte aufzuteilen.
Doch er hatte kaum die ersten Zeilen laut gelesen, da zuckte er zusammen, schauderte und sprang dann mit einem Satz auf. »Beim Jupiter!« schrie er und stürmte zu Sullas Arbeitsraum.
Kalkweiß im Gesicht stürzte er in das Zimmer und fuchtelte mit der Schriftrolle wild in der Luft herum. »Lucius Cornelius! Ein Brief von Publius Rutilius!«
»Was? Was ist denn?«
»Hunderttausend Römer tot.« Marius pickte die wichtigsten Brocken heraus, soweit er schon gelesen hatte. »Achtzigtausend davon Soldaten... Die Germanen haben uns vernichtet... Dieser Narr Caepio weigerte sich, in das Lager von Mallius Maximus zu ziehen... Errichtete sein eigenes Lager zwanzig Meilen weiter nördlich von Mallius Maximus... Der junge Sextus Caesar schlimm verwundet, ebenso der junge Sertorius... Nur drei der vierundzwanzig Militärtribunen haben überlebt... Alle Zenturionen tot... Die Soldaten, die überlebten, waren die unerfahrensten, sind desertiert... Eine ganze Legion Marser tot, die Marser haben Protest beim Senat eingelegt... Sie verlangen riesige Entschädigungen, wollen notfalls klagen... Auch die Samniten in Unruhe... ebenfalls aufgebracht...«
»Beim Jupiter!« keuchte Sulla und sank zurück auf seinen Stuhl.
Marius las einen Augenblick lang so leise weiter, daß Sulla sein Gemurmel nicht verstehen konnte. Dann gab Marius ein sehr eigenartiges Geräusch von sich. Sulla dachte, Marius bekäme einen Schlaganfall, und sprang auf. Doch bevor er ihm zu Hilfe eilen konnte, hatte Marius die Sprache wiedergefunden.
»Ich - bin - Konsul!« keuchte Gaius Marius.
Sulla erstarrte mitten in der Bewegung, sein Miene spiegelte Fassungslosigkeit.
»Beim Jupiter!« sagte er noch einmal.
Marius begann, Rutilius’ Brief laut vorzulesen, und dieses Mal war es ihm egal, ob er über die Worte stolperte oder nicht.
Noch am selben Tag bekam die Versammlung des Volkes diesen Brocken zu schlucken. Manius Aquillius hatte sich noch nicht einmal wieder hingesetzt, da stürmten schon alle zehn Volkstribunen aus dem Senat zur rostra auf dem Forum Romanum. Es sah so aus, als dränge sich halb Rom auf dem Versammlungsplatz der Komitien und die andere Hälfte auf dem unteren Forum Romanum. Die Senatoren folgten den Volkstribunen natürlich auf der Stelle, nur Scaurus und unser lieber Freund Schweinebacke blieben zurück und brüllten ein paar hundert leere Stühle an.
Die Tribunen beriefen die Versammlung der Plebs ein, und im Handumdrehen waren zwei Beschlüsse gefaßt. Ich finde es immer wieder erstaunlich, daß es möglich ist, eine Idee im ersten Moment besser zu formulieren und vorzutragen als Monate später, wenn jeder seinen Senf dazugegeben hat. Das zeigt wieder einmal, daß viele Köche nur dazu geeignet sind, einen guten Gesetzesvorschlag in einen schlechten zu verwandeln.
Cotta hat mir erzählt, Caepio sei förmlich nach Rom geflogen, weil er seine Version der Ereignisse als erste verbreiten wollte. Da Caepio beim Überschreiten der Stadtgrenze seinen Oberbefehl verlieren würde, blieb er vor den Toren der Stadt zurück. Sein Sohn und seine Agenten sollten für ihn wirken. Auf diese Weise, dachte er sich, wäre er sicher und könnte sein imperium wie einen schützenden Mantel um sich wickeln, bis seine Version der Geschehnisse bei Arausio öffentlich anerkannt wäre. Ich glaube, er spekulierte darauf - und das nicht ganz zu Unrecht -, daß seine Amtszeit verlängert werden würde und er sein imperium und seine Statthalterschaft in Gallia Transalpina so lange behalten könnte, bis der schlimmste Sturm sich gelegt hätte.
Aber die Plebejer haben ihm die Suppe gründlich versalzen! Mit überwältigender Mehrheit erkannten sie ihm den Oberbefehl ab. Wenn er die Stadtgrenze von Rom erreicht, wird er feststellen, daß er so nackt ist wie Odysseus am Strand von Scherie. Das zweite plebiscitum, Gaius Marius, verpflichtete mich als obersten Beamten, Dich auf die Liste der Kandidaten für das Amt des Konsuls zu setzen - obwohl es Dir nicht möglich ist, zum Zeitpunkt der Wahl in Rom zu sein.
»Das ist das Werk von Mars und Bellona, Gaius Marius!« rief Sulla. »Ein Geschenk der Kriegsgötter.«
»Mars? Bellona? Nein! Das ist das Werk von Fortuna, Lucius Cornelius, deiner und meiner Freundin! Fortuna!«
Marius las weiter.
Da das Volk mich beauftragt hatte, die Konsulwahlen durchzuführen, mußte ich dieser Aufforderung natürlich nachkommen.
Sogleich nachdem die Versammlung der Plebs ihre Beschlüsse gefaßt hatte, versuchte Gnaeus Domitius Ahenobarbus, von der Rednertribüne gegen das plebiscitum zu sprechen, das Dich in absentia zur Konsulwahl zuläßt. Da er sich als Gründer von Gallia Transalpina betrachtet, meinte er wohl, er hätte ein besonderes Recht, sich zu dieser Sache zu äußern. Nun, Du weißt ja, wie jähzornig die Mitglieder dieser arroganten, stets schlecht gelaunten Familie sind, jeder einzelne von ihnen! Gnaeus Domitius geiferte vor Wut, im wahrsten Sinne des Wortes! Die Menge hatte bald genug von ihm und begann, ihn niederzuschreien. Doch da drehte er den Spieß um und versuchte, die Menge niederzubrüllen. Und als ein Gnaeus Domitius hatte er auch ganz gute Chancen, daß ihm das gelingen würde. Aber irgend etwas in seinem Kopf oder in seinem Herzen platzte, er klappte zusammen und starb, mitten auf der Rednertribüne des Forum Romanum. Das dämpfte die Stimmung natürlich, und die Menge zerstreute sich. Die wichtigsten Beschlüsse waren ohnehin gefaßt.
Am nächsten Morgen wurden alle Beschlüsse der Versammlung der Plebs offiziell verabschiedet, ohne eine einzige Gegenstimme. Mir wurde aufgetragen, die Konsulwahlen vorzubereiten. Ich muß Dir nicht sagen, daß ich keine Zeit verstreichen ließ, sondern mich sofort ans Werk machte. Eine höfliche Anfrage bei den Volkstribunen brachte die Sache ins Rollen. Die neuen Volkstribunen waren innerhalb weniger Tage gewählt, und es scheinen mir sehr ansehnliche und fähige Männer darunter zu sein. Es ging ja schließlich auch um die Wahl eines Oberbefehlshabers in einem wichtigen Krieg. Der älteste Sohn des betrauerten Gnaeus Domitius Ahenobarbus ist dabei, der älteste Sohn des ebenfalls verstorbenen Lucius Cassius Longinus. Ich glaube, Cassius war darauf aus zu beweisen, daß seine Familie nicht nur aus unverantwortlichen Männern besteht, die römische Soldaten in den Tod führen. Auch Lucius Marcius Philippus wurde aufgestellt, und - hört! hört! - ein Clodius aus dem riesigen Claudius-Clodius-Clan. Ihr Götter, sie vermehren sich wie die Kaninchen!
Die Zenturienversammlung wählte gestern die beiden neuen Konsuln, mit dem Ergebnis - ich habe es einige Spalten weiter oben schon geschrieben -, daß Gaius Marius von jeder Hundertschaft der Ersten Klasse zum ersten Konsul gewählt wurde. Ebenso geschlossen stimmten die Hundertschaften der Zweiten Klasse für ihn, soweit ihre Stimmen für seine Wahl noch benötigt wurden. Einige Senatoren hätten Deine Wahl zum Konsul liebend gerne verhindert, aber Du bist zu bekannt als aufrechter patronus und als ehrlicher Förderer des Geschäftslebens, vor allem seitdem Du in Africa all Deine Versprechen eingelöst hast. Die abstimmenden Ritter scherten sich keinen Deut um solch spitzfindige Fragen wie die, ob eine zweite Kandidatur innerhalb von drei Jahren und eine Wahl in absentia erlaubt sei.
Marius blickte triumphierend von der Schriftrolle auf. »Was sagst du zu diesem Vertrauensbeweis des römischen Volkes, Lucius Cornelius? Ein zweites Mal zum Konsul gewählt, während ich nicht das geringste davon ahnte!« Er streckte die Arme hoch, als wollte er nach den Sternen greifen. »Ich werde die Prophetin Martha mit nach Rom nehmen. Sie soll meinen Triumphzug und meine Amtseinführung als Konsul an ein und demselben Tag miterleben, Lucius Cornelius! Ich habe mich gerade dazu entschlossen, meinen Triumphzug am ersten Tag des neuen Jahres durchzuführen.«
»Und wir werden nach Gallien ziehen«, fügte Sulla hinzu, den dieser Aspekt der Ereignisse am meisten begeisterte. »Das heißt, Gaius Marius, falls Du mich mitnimmst.«
»Mein lieber Freund, ich könnte ohne dich überhaupt nicht auskommen! Und auch nicht ohne Quintus Sertorius!«
»Lies doch weiter«, bat Sulla. Er brauchte noch etwas mehr Zeit, um die atemberaubenden Neuigkeiten zu verdauen, bevor er sie ausführlich mit Gaius Marius besprechen konnte.
Wenn ich Dich das nächste Mal treffe, Gaius Marius, wird es sein, um Dir die Amtsabzeichen des Konsuls zu übergeben. Ich wünschte, ich könnte mich ohne Einschränkung darüber freuen. Für Roms Heil ist es unerläßlich, daß Du den Oberbefehl gegen die Germanen erhältst, aber ich wünschte sehr, es wäre unter weniger ungewöhnlichen Bedingungen geschehen! Ich denke daran, wie viele neue Feinde jetzt zu denen hinzukommen werden, die Du bereits hast, und es schaudert mich. Du hast zu viele Ausnahmeregelungen bekommen. Ja, ich weiß, jede einzelne war notwendig für Dein politisches Überleben. Aber wie sagen die Griechen über ihren Odysseus? Sein Lebensfaden war so stark, daß er die Lebensfäden aller durchtrennte, die er traf. Ich denke, unser Senatsvorsitzender Marcus Aemilius hat nicht ganz unrecht mit seinen Einwänden, jedenfalls ist er nicht so engstirnig und borniert wie Schweinebacke Numidicus. Scaurus sieht die alten Traditionen, die zu Rom gehören, dahinschwinden, und mir geht es ebenso. Natürlich ist mir klar, daß diese ganzen erschreckenden, ungewöhnlichen Neuerungen nicht nötig wären, wenn der Senat Einsicht zeigen und Dir im Kampf gegen die Germanen freie Hand lassen würde. Doch dazu ist er eben nicht fähig. Die Senatoren würden immer versuchen, Dir Beschränkungen aufzuerlegen, und um das zu verhindern, muß Rom selbst den Scheiterhaufen errichten, auf dem die alten Traditionen verbrennen werden. Ich sehe es ein, aber dennoch schmerzt es mich.
Bis dahin war Marius’ Stimme genauso fest gewesen wie seine Entschlossenheit, Sulla alles vorzulesen. Doch die letzten Zeilen hatten seine Laune erheblich gedämpft.
»Der Brief ist nicht mehr sehr lang«, sagte er dennoch zu Sulla. »Ich lese dir den Rest vor.«
Deine Kandidatur, das muß ich zum Schluß noch erwähnen, hat alle ehrenhaften und angesehenen Bewerber abgeschreckt. Soweit sie schon auf der Kandidatenliste eingetragen waren, zogen sie die Kandidaturen zurück. So auch Quintus Lutatius Catulus Caesar, der erklärte, daß er mit Dir ebensowenig zusammenarbeiten werde, wie wenn sein Schoßhund als Konsul gewählt worden wäre. Demzufolge wird Dein Mitkonsul ein ziemlich unbedeutender Mann sein. Das sollte Dich nicht weiter stören, auf diese Weise wirst Du wenigstens in Ruhe arbeiten können, ohne Dich ständig mit Deinem Mitkonsul streiten zu müssen. Ich weiß, Du kannst es vor Neugier kaum noch aushalten, aber laß mir doch mein bißchen Getratsche! Ich sage nur soviel zu ihm: Er ist korrupt, aber das wirst Du vermutlich schon wissen. Sein Name? Gaius Flavius Fimbria.
»Oh, den kenne ich.« Sulla schnaubte verächtlich. »Ein Herumtreiber, der in Roms Sümpfen, die einmal auch meine Welt waren, nach Abenteuer und Vergnügen sucht. Sein Charakter ist so krumm wie die Hinterbeine eines Hundes.« Er fletschte die weißen Zähne, ein Anblick, der in einem dunkleren Gesicht als dem seinen noch fesselnder gewesen wäre. »Paß auf, Gaius Marius, daß er nicht eine seiner krummen Hinterpfoten hebt und dir ans Bein pinkelt.«
»Ich werde rechtzeitig zur Seite springen«, erwiderte Marius ungerührt. Er streckte seine Hand aus, und Sulla ergriff sie. »Ein Eid, Lucius Cornelius - du und ich, wir werden die Germanen schlagen.«
Ende November segelte die africanische Armee mit ihrem Kommandanten von Utika nach Puteoli, alle in bester Verfassung. Für diese Jahreszeit war die See ungewöhnlich ruhig, und weder der Nordwind, Septentrio, noch der Nordwestwind, Corus, störten die Überfahrt. Etwas anderes hatte Marius auch nicht erwartet. Sein Stern war im Aufsteigen, Fortuna gehorchte seinem Befehl ebenso wie seine Soldaten. Außerdem hatte Martha, die Syrerin, eine schnelle, ruhige Überfahrt vorausgesagt. Sie befand sich mit Marius auf dem Flaggschiff, eine alte, knochige Frau mit meckerndem Lachen. Die Seeleute - noch abergläubischer als andere Römer - betrachteten sie mit Unbehagen und Furcht und machten einen großen Bogen um sie. König Gauda wollte Martha zunächst nicht ziehen lassen, doch als sie auf den Marmorboden seines Thronsaales gespuckt und ihm und seiner Familie mit dem Fluch des bösen Blicks gedroht hatte, hatte er sie gar nicht schnell genug loswerden können.
In Puetoli meldete sich bald ein Quästor des Schatzamts bei Marius und Sulla. Er war neu im Amt, forsch und besorgt, daß die Listen über die Beute auch ja vollständig waren, doch zugleich auch sehr ehrerbietig. Marius und Sulla behandelten ihn mit ausgesuchter Höflichkeit, und da ihre Listen bewunderungswürdig genau geführt waren, trennte man sich hochzufrieden. Die Armee wurde in einem Lager außerhalb von Capua untergebracht. Dort befanden sich auch die neuen Rekruten im Training mit den Gladiatoren, die Rutilius Rufus verpflichtet hatte. Marius’ erfahrene Zenturionen konnten nun die Gladiatoren bei der Ausbildung unterstützen. Ein bedrückendes Problem war allerdings die geringe Zahl der neuen Rekruten. Italiens Reserven an kampfkräftigen Männern waren erschöpft, und das würde so bleiben, bis die nächste Generation das siebzehnte Jahr erreicht hatte und die Reihen wieder füllen konnte. Nicht einmal unter den Plebejern waren noch genügend taugliche Männer zu finden, zumindest nicht unter denen mit römischem Bürgerrecht.
»Und ich bezweifle sehr, daß der Senat mitmachen wird, wenn ich italische capite censi rekrutieren will«, sagte Marius.
»Sie haben keine andere Wahl«, meinte Sulla.
»Das ist richtig. Wenn ich sie dränge. Doch im Moment liegt es nicht in meinem Interesse - oder in Roms Interesse -, sie zu drängen.«
Bis Neujahr würden Marius und Sulla getrennte Wege gehen. Sulla konnte Rom jederzeit betreten, doch Marius, der immer noch mit dem prokonsularischen imperium aus dem africanischen Krieg ausgestattet war, durfte die Stadtgrenze Roms nicht überschreiten, wenn er seinen Oberbefehl nicht verlieren wollte. So reiste Sulla nach Rom, während sich Marius in sein Landhaus nach Cumae begab.
Puetoli lag, wie Neapolis, Herculaneum, Stabiae und Surrentum, an einer großen Bucht, deren nördliche Landspitze das Kap Miseno war. Die Bucht, Crater-Bucht genannt, galt als sicherer Ankerplatz. Eine Legende, älter als Erinnerungen oder Überlieferungen, erzählte, die Crater-Bucht sei einmal ein Vulkan gewesen, und bei einem seiner Ausbrüche sei das Meer in den Krater eingedrungen. Es gab immer noch Zeichen für vulkanische Aktivität. Die Feuerspalten hinter Puetoli erhellten den Nachthimmel, wenn Flammen aus den Rissen in der Erde aufflackerten, in kochenden Schlammpfuhlen bildeten sich große Blasen, die Erde war mit grellgelben Schwefelablagerungen bedeckt. Marius’ Landhaus stand ganz oben auf einer großen Klippe bei Cumae. Von dort aus konnte man die Inseln Ischia, Pandataria und Pontia erkennen, drei Gipfel mit Abhängen und Ebenen, die wie Bergspitzen durch eine blaßblaue Nebeldecke stachen. Und hier, in Marius’ Landhaus, wartete Julia auf ihren Gatten.
Es war mehr als zweieinhalb Jahre her, daß sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Julia war nun fast vierundzwanzig, Marius zweiundfünfzig. Er wußte, daß sie sich sehr danach sehnte, ihn wiederzusehen, denn sie hatte sich zu einer Jahreszeit auf die Reise von Rom nach Cumae gemacht, zu der Rom den weitaus angenehmeren Ort darstellte, denn an der See war es jetzt stürmisch und kalt. Die Sitte verbot ihr, gemeinsam mit ihrem Mann zu reisen, vor allem wenn er im Auftrag Roms unterwegs war. So konnte sie ihn weder in die römischen Provinzen begleiten, in denen er zu tun hatte, noch auf seinen Reisen durch Italien, es sei denn, er lud sie in aller Form dazu ein. Doch solche Einladungen wurden nicht gern gesehen. Wenn eine römische Adlige im Sommer an die See fuhr, kam ihr Gatte nach, sobald er konnte, doch sie mußten getrennt reisen. Und wenn ein römischer Adliger ein paar Tage in einem seiner Landhäuser verbringen wollte, nahm er in den seltensten Fällen seine Frau mit.
Julia war keine Ehefrau, die zu Hause saß und sich unablässig Sorgen um ihren Mann machte. Sie hatte Marius während seiner Abwesenheit einmal in der Woche geschrieben, und er hatte ebenso regelmäßig geantwortet. Beide hatten sie keinen Hang zum Klatsch, und so waren ihre Briefe eher kurz und betrafen ausschließlich Familienangelegenheiten, aber sie waren stets zärtlich und liebevoll. Natürlich ging es Julia nichts an, ob Marius in der Fremde mit anderen Frauen schlief, und sie war zu gut erzogen, um danach zu fragen. Ebensowenig erwartete sie, daß er ihr aus eigenem Antrieb davon erzählen würde. Solche Dinge gehörten zu den Männerangelegenheiten, und Ehefrauen hatten damit nichts zu tun. In dieser Hinsicht, so hatte ihre Mutter Marcia ihr vorsichtig erklärt, könne sie von Glück sagen, daß sie mit dem dreißig Jahre älteren Marius verheiratet sei. Sein Appetit auf sexuelle Abenteuer wäre wohl gemäßigter als der von jüngeren Männern und seine Wiedersehensfreude größer als die jüngerer Ehemänner.
Julia hatte Marius schmerzlich vermißt, nicht nur weil sie ihn liebte, sondern weil sie gern mit ihm zusammen war. Sie mochte ihn, und das machte die Trennung um so schwerer, denn ihr fehlte nicht nur der Gatte und Geliebte, sondern auch der Freund.
Als er unangekündigt ihr Wohnzimmer betrat, stand sie unbeholfen auf und stellte sogleich fest, daß ihre Beine sie nicht trugen. Sie fiel in ihren Stuhl zurück. Wie groß er war! Wie braungebrannt und wie gesund und voller Leben! Er sah nicht einen Tag älter aus, sondern eher jünger, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln - seine Zähne schimmerten so weiß wie früher -, in seinen dichten Wimpern glitzerten kleine Lichter, und die dunklen Augen, die darunter versteckt lagen, leuchteten. Seine großen, wohlgeformten Hände streckten sich nach ihr aus. Und sie konnte sich nicht rühren! Was mußte er von ihr denken?
Anscheinend nahm er es ihr nicht übel, denn er kam durch den Raum auf sie zu und zog sie sanft auf die Füße. Er machte keine Anstalten, sie zu umarmen, sondern stand nur da und sah sie mit seinem warmen Lächeln an. Dann legte er seine Hände um ihr Gesicht und küßte sie zärtlich auf die Augenlider, auf die Wangen und auf die Lippen. Sie legte ihre Arme um ihn, lehnte sich an ihn und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.
»Oh, Gaius Marius, ich freue mich so sehr, dich wiederzusehen!« sagte sie.
»Ich freue mich genauso, Frau.« Seine Hände streichelten ihren Rücken, und sie konnte fühlen, wie sie zitterten.
Sie hob ihr Gesicht. »Küß mich, Gaius Marius! Küß mich richtig!«
Und so war ihr Wiedersehen genauso, wie sie es sich beide erhofft hatten, liebevoll und leidenschaftlich. Und nicht nur das. Da war auch die gemeinsame Freude an dem kleinen Marius und die Trauer über den Tod ihres zweiten Sohnes, die er nun mit seiner Frau teilen konnte.
Zu seiner freudigen Überraschung war der kleine Marius ein Kind, wie es sich jeder Mann nur wünschen konnte - groß, kräftig, mit blondem Haar und heller Haut, die großen grauen Augen furchtlos und prüfend auf den Vater gerichtet. Die Erziehung war bisher wohl etwas zu milde gewesen, dachte Marius, aber das würde sich nun ändern. Der kleine Frechdachs würde bald lernen, daß ein Vater jemand war, den man zu ehren und zu respektieren hatte, so wie er selbst es in seinem Elternhaus gelernt hatte.
Es gab noch mehr zu betrauern als den Tod seines Sohnes - Julia, das wußte er, hatte ihren Vater verloren, und nun teilte sie ihm mit großem Zartgefühl mit, daß auch sein Vater tot war. Er war in hohem Alter gestorben, und er hatte vor seinem Tod noch erlebt , wie sein ältester Sohn zum zweiten Mal zum Konsul gewählt wurde, und das unter wirklich bemerkenswerten Umständen. Der Tod war schnell und gnädig gekommen. Während er seinen Freunden von dem Empfang erzählte, den Arpinum seinem berühmtesten Bürger bereiten wollte, hatte ihn ein Schlaganfall ereilt.
Marius legte sein Gesicht zwischen Julias Brüste und weinte. Sie tröstete ihn, und nach einer Welle sah er ein, daß alles zum richtigen Zeitpunkt geschehen war. Der Tod seiner Mutter, Fulcinia, lag bereits sieben Jahre zurück, und seither hatte sein Vater sehr unter dem Alleinsein gelitten. Wenn Fortuna auch nicht die Güte besessen hatte, ihn seinen Sohn noch einmal sehen zu lassen, so war er doch im Wissen um dessen ungewöhnliche Auszeichnung gestorben.
»Wozu soll ich jetzt noch nach Arpinum reisen«, sagte Marius später zu Julia. »Wir werden hierbleiben, meine Geliebte.«
»Publius Rutilius will bald herkommen. Sobald sich die neuen Volkstribunen ein wenig eingearbeitet haben, meinte er. Ich glaube, er befürchtet, daß es Schwierigkeiten mit ihnen geben könnte. Einige von ihnen sind sehr klug.«
»Nun, bis dahin, mein liebstes, schönstes, geliebtes Weib, wollen wir an so lästige Dinge wie Politik nicht einmal denken.«
Sullas Heimkehr verlief völlig anders. Er hatte sich nicht mit der gleichen unverhohlenen Freude auf die Heimreise gemacht wie Marius. Warum das so war, wollte er lieber erst gar nicht so genau erforschen. Wie Marius hatte er während der zwei Jahre in der africanischen Provinz sexuell enthaltsam gelebt, allerdings nicht aus Liebe zu seiner Frau - er wollte das neue, makellose Leben, das er begonnen hatte, durch nichts, aber auch gar nichts beschmutzen. Keine Unehrlichkeiten, keine Verrätereien an seinen Vorgesetzten, keine Intrigen, kein Ränke, keine Ausschweifungen - nichts, was seiner cornelischen Ehre oder dignitas auch nur den kleinsten Kratzer hätte versetzen können.
Sulla, ein Schauspieler durch und durch, war vollkommen mit der neuen Rolle verschmolzen, die ihm sein Dienst als Quästor bei Marius bot. Er lebte in dieser Rolle, innerlich wie äußerlich, in allem, was er sagte oder tat. Bis jetzt war es ihm nicht langweilig geworden, denn sein neues Leben war abwechslungsreich, hielt große Herausforderungen bereit und befriedigte ihn voll und ganz. Seine imago in Wachs konnte er noch nicht in Auftrag geben, da er bislang weder Konsul gewesen war noch in irgendeiner Weise Berühmtheit erlangt hatte, aber er konnte bei Magius im Velabrum einen prachtvollen Schaukasten aus Holz für seine Auszeichnungen bestellen, für die goldene corona, die phalerae und die torques. Allein der Gedanke an das Aufstellen dieser Zeugnisse seiner Tapferkeit im Atrium seines Hauses erfüllte ihn mit Vorfreude. In den Jahren in Africa war die Zeit davor in Vergessenheit geraten - auch wenn er wohl niemals ein großer Reiter werden würde, so hatte er sich doch als ausgezeichneter Soldat bewährt. Seine Trophäen in einem kunstvollen Rahmen von Magius würden ganz Rom davon erzählen.
Und doch... sein altes Leben würde ihn nie ganz loslassen, das spürte er. Das Verlangen, Metrobius wiederzusehen, dieser Hang zu grotesken Gestalten - Zwergen, Transvestiten, alten, dick bemalten Huren und anderen abstoßenden Figuren -, diese unüberwindliche Abneigung gegen Frauen, die ihre Macht benutzten, um ihn zu beherrschen. Die Leichtigkeit, mit der er andere Leben vernichtete, wenn er sich bedroht fühlte. Der Unwillen, sich mit Idioten abzugeben. Der nagende, verzehrende Ehrgeiz.
Der Auftritt des Schauspielers auf der africanischen Bühne war vorüber, aber eine allzu lange Pause war nicht zu befürchten. Die Zukunft hielt noch ganz andere Rollen für ihn bereit. Und doch... Rom war die Bühne, auf der sein altes Selbst sich dargestellt hatte, Rom bedeutete alles, von den tiefsten Tiefen der Erniedrigung bis zum Beginn einer großen Zukunft. Auf der Heimreise beobachtete er sich mißtraurisch. Er war sich der Veränderungen in seinem Inneren bewußt, doch gleichzeitig war ihm klar, daß sich sein wahrer Charakter nur sehr wenig verändert hatte. Der Schauspieler zwischen zwei Rollen - immer eine unglückliche Gestalt.
Julilla begrüßte ihn ganz anders, als Julia Marius begrüßt hatte, denn sie war sich sicher, daß sie Sulla mehr liebte als Julia ihren Gatten. Für Julilla war jedes Zeichen von Disziplin oder Selbstkontrolle ein Beweis für unvollkommene Liebe. Die richtige Liebe mußte überwältigen, hinreißen, den Verstand fortspülen, von übermächtiger Heftigkeit sein, alles andere niedertrampeln wie ein riesiger Elefant. So erwartete sie Sullas Ankunft in fieberhafter Aufregung, unfähig, das Warten ohne ihre Weinflasche zu ertragen. Sie zog sich ständig um, änderte dauernd ihre Frisur, Haare hochgesteckt, dann wieder offen, dann wieder an der Seite, und brachte ihre Sklaven zur Verzweiflung.
Als Sulla endlich da war, warf sie sich mit ihrer ganzen Aufregung auf ihn wie ein erstickendes Tuch. Kaum hatte er das Atrium betreten, rannte sie ihm mit ausgestreckten Armen und verklärtem Gesicht entgegen. Bevor er sie auch nur ansehen und auf sie reagieren konnte, hatte sie schon ihren Mund auf den seinen gepreßt, wie ein Blutegel, der sich an einem Arm festsaugt, verzehrend, sich windend, feucht und klebrig. Ihre Hände tasteten nach seinem Glied, sie stöhnte wollüstig. Dann fühlte Sulla, wie sie ihre langen Beine um ihn wand, während ein Dutzend Sklaven sie mit höhnischen Blicken beobachteten; die meisten waren ihm völlig fremd.
Er konnte nicht anders - seine Hände fuhren hoch und hielten ihre Arme fest, sein Kopf prallte zurück, und er riß sich von ihren Lippen los.
»Fasse dich!« sagte er. »Wir sind hier nicht allein!«
Sie schnappte nach Luft, als hätte er sie angespuckt, doch dann riß sie sich zusammen und beruhigte sich etwas. Mit rührender Unbeholfenheit hängte sie sich bei ihm ein und ging an seiner Seite durch das Peristyl zu ihrem Wohnzimmer, das in dem Flügel lag, den früher Nikopolis bewohnt hatte.
»Ist das zurückgezogen genug?« fragte sie etwas hämisch.
Doch seine Laune war schon vor dieser kleinen Bosheit verdorben gewesen. Er wollte nicht, daß sie mit ihrem Mund oder ihren Händen Macht über ihn gewann und in die zurückgezogenen Winkel seines Wesens eindrang, ohne jedes Verständnis für das, was in ihm vorging.
»Später, später!« sagte er knapp und ging zu einem Stuhl.
Julilla stand da, verwirrt und ängstlich, und wirkte, als wäre ihre Welt zusammengebrochen. Sie war schöner als je zuvor, auf eine sehr zerbrechliche Weise. Ihre dünnen Arme ragten aus einem Gewand, das Sulla als hochmodische Kreation erkannte - ein Mann mit Sullas Herkunft würde niemals das Gefühl für Stil und Formen verlieren. Ihre riesigen Augen lagen tief in den Höhlen, die von blauschwarzen Schatten umrahmt waren, und schauten ihn mit einem halbverrückten Ausdruck an. »Ich - ich - verstehe das nicht!« schrie sie auf. Sie wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren. Ihr Blick hing immer noch an ihm, doch nicht mehr leidenschaftlich, sondern eher so, wie eine Maus das Lächeln auf dem Gesicht einer Katze beobachtet, mit der unausgesprochenen Frage: Freund oder Feind?
»Julilla«, begann er so geduldig er nur konnte. »Ich bin müde. Ich fühle immer noch das Schwanken des Schiffs unter meinen Füßen. Ich kenne kaum ein Gesicht in diesem Haus. Und da ich nicht betrunken bin, habe ich die normalen Hemmungen eines nüchternen Mannes, was körperliche Liebe in der Öffentlichkeit angeht.«
»Aber ich liebe dich!« protestierte sie.
»Das hoffe ich. Ich liebe dich ebenfalls. Aber alles hat seine Ordnung«, sagte er steif. Alles in seinem Leben in Rom sollte seine Ordnung haben, von seiner Frau und seiner Dienerschaft bis hin zu seiner politischen Karriere.
Während der zwei Jahre, die er fort gewesen war, hatte er oft an Julilla gedacht, aber irgendwie war ihm entfallen, was für eine Persönlichkeit sie war. Er hatte sich nur daran erinnert, wie sie aussah, wie aufregend wild und leidenschaftlich sie im Bett war. Er hatte an sie gedacht wie an eine Geliebte, und nicht wie an eine Ehefrau. Nun starrte er die junge Frau an, die vor ihm stand, und befand, daß sie eine weit bessere Geliebte als Ehefrau abgeben würde - er könnte sie von Zeit zu Zeit besuchen, aber er müßte nicht unter einem Dach mit ihr leben, müßte sie nicht mit seinen Freunden und Geschäftspartnern bekannt machen.
Ich hätte sie niemals heiraten dürfen, dachte er. Ich habe mich hinreißen lassen von einem Bild meiner Zukunft, die ich durch ihre Augen sah - denn nur das war sie gewesen, ein Medium, durch dessen Augen er seinen Weg in Fortunas Arme gesehen hatte. Mein Blick hätte weiter reichen müssen, dann hätte ich erkannt, daß es Dutzende adliger Römerinnen gab, die weit besser zu mir gepaßt hätten als dieses arme, überspannte Geschöpf, das sich aus lauter Liebe zu mir zu Tode hungern wollte. Allein, daß sie dies tat, ist schon eine unerhörte Maßlosigkeit. Ich habe nichts gegen Maßlosigkeit, solange ich nicht das Opfer bin. Warum nur habe ich mich immer mit Frauen eingelassen, die mich ersticken wollen?
Julillas Gesicht veränderte sich. Ihre Augen wandten sich ab von den beiden blassen, unbeweglichen Augäpfeln, die mit leidenschaftslosem Interesse auf sie gerichtet waren und weder Liebe noch Begehren zeigten. So stand es also! Oh, was sollte sie nur ohne seine Liebe tun? Wein! Treuer, tröstender Wein! Ohne sich darum zu kümmern, was er von ihr denken würde, ging sie zu einem kleinen Tisch, schenkte sich einen Becher mit unverdünntem Wein ein und leerte ihn in einem Zug. Dann erst erinnerte sie sich an ihn und wandte sich mit fragendem Blick um.
»Wein, Sulla?«
Er starrte sie an. »Du trinkst verdammt schnell! Schüttest du den Wein immer so in dich hinein?«
»Ich brauchte etwas zu trinken!« verteidigte sie sich. »Du bist so unfreundlich und kalt zu mir.«
Er seufzte. »Vermutlich bin ich das. Nimm’s mir nicht übel, Julilla. Ich werde mich ändern. Oder vielleicht solltest du dich ändern... Ja, gib mir Wein!« Er riß ihr den Becher, den sie ihm hinhielt, beinahe aus der Hand und trank. Doch er schüttete den Wein nicht in sich hinein und leerte den Becher beileibe nicht in einem Zug. »Als ich das letzte Mal von dir gehört habe... Du bist keine große Briefschreiberin, hm?«
Tränen rollten Julillas Gesicht herunter, sie weinte lautlos. »Ich hasse es, Briefe zu schreiben!«
»Das habe ich gemerkt«, erwiderte er trocken.
»Was war, als du das letzte Mal von mir gehört hast?« fragte sie. Sie schenkte sich ihren Becher zum zweiten Mal voll und leerte ihn wieder in einem Zug.
»Als ich das letzte Mal von dir gehört habe, sah es so aus, als hätten wir Kinder. Ein Mädchen und einen Jungen, richtig? Nicht, daß du dir die Mühe gemacht hättest, mir von dem Jungen zu schreiben, ich habe es von deinem Vater erfahren.«
»Ich war krank.« Sie weinte immer noch.
»Warum zeigst du mir die Kinder nicht?«
»Dort hinten!« Sie zeigte mit einer wilden Bewegung zum hinteren Teil des Peristyls.
Er ließ sie in ihrem Wohnzimmer stehen. Sie wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab und goß sich den dritten Becher Wein ein.
Sulla sah seine Kinder das erste Mal, als er vorsichtig durch das offene Fenster des Kinderzimmers lugte. Sie bemerkten ihn nicht. Er hörte die murmelnde Stimme einer Frau, doch sie war im hinteren Teil des Zimmers, unsichtbar für ihn. Sein Blick hing an den beiden kleinen Menschen, die er gezeugt hatte. Ein Mädchen - ja, sie mußte jetzt zweieinhalb sein - beugte sich über einen kleinen Jungen - er mußte anderthalb sein!
Das Mädchen war bezaubernd, das hübscheste kleine Püppchen, das er je gesehen hatte. Unter einer Masse rotgoldener Locken war ein kleines Gesicht mit einer Haut wie aus Milch und Honig zu erkennen. Die roten Wangen hatten Grübchen, unter den sanften, rotgoldenen Augenbrauen leuchteten riesige blaue Augen und strahlten glücklich und voller Liebe auf den kleinen Bruder hinunter.
Von seinem Sohn, den er noch nie gesehen hatte, war Sulla noch mehr hingerissen. Er lief - das war gut! - ohne einen Faden am Leib im Zimmer herum, und seine Schwester schimpfte deshalb mit ihm. Er konnte schon ein wenig brabbeln und teilte ebenso gut aus wie die Schwester, der kleine Schlingel! Und er lachte. Er sah aus wie ein Caesar - das gleiche längliche, hübsche Gesicht, das gleiche dichte, goldene Haar, die gleichen lebhaften, blauen Augen wie Sullas verstorbener Schwiegervater.
Das schlummernde Herz von Lucius Cornelius Sulla erwachte nicht langsam, mit einem müden Räkeln und Gähnen, es sprang in eine Welt voller Gefühle, wie Athene in voller Rüstung aus der Stirn von Zeus gesprungen war, mit schallenden Fanfarenklängen. Er kniete an der Tür nieder und streckte mit glänzenden Augen seine Arme nach ihnen aus.
»Tata ist hier«, sagte er. »Tata ist nach Hause gekommen.«
Die Kinder zögerten keine Sekunde, geschweige denn, daß sie zurückgeschreckt wären. Sie rannten in seine Arme und bedeckten sein strahlendes Gesicht mit Küssen.
Publius Rutilius Rufus war nicht der erste, der Marius in Cumae besuchte. Der heimgekehrte Held hatte sich kaum eingelebt, als sein Verwalter ihn fragte, ob er den edlen Lucius Marcius Philippus zu ihm vorlassen dürfe. Marius war neugierig, was Philippus wohl von ihm wollte - er war ihm noch nie persönlich begegnet und kannte die Familie nur sehr oberflächlich -, und so wies er den Verwalter an, Philippus in sein Arbeitszimmer zu führen.
Philippus redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kam sofort zur Sache. Ziemlich weichlich, dachte Marius, Doppelkinn und zuviel schlaffes Fleisch um den Bauch. Aber er trat mit einer Selbstsicherheit und Arroganz auf, die für die ganze Sippe typisch waren. Immerhin behaupteten sie, Nachfahren von Ancus Marcius zu sein, dem vierten König von Rom, dem Erbauer der großen hölzernen Brücke.
»Wir kennen uns noch nicht, Gaius Marius«, sagte Philippus. Seine dunkelbraunen Augen schauten direkt in die Augen von Marius. »Ich wollte die Gelegenheit nutzen und diesem Versäumnis abhelfen. Du wirst aller Voraussicht nach der Konsul des nächsten Jahres, ich bin einer der neugewählten Volkstribunen.«
»Wie nett von dir, daß du dieses Versäumnis nachholen willst«, erwiderte Marius und lächelte offen, frei von Ironie.
»Ich stimme dir zu«, sagte Philippus unverbindlich. Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Marius hatte diese Pose schon immer unmännlich gefunden.
»Was kann ich für dich tun, Lucius Marcius?«
»Nun, eine ganze Menge.« Philippus beugte den Kopf vor, sein Gesicht verlor auf einmal den weichen Ausdruck und wurde ausgesprochen energisch. »Ich befinde mich zur Zeit in einer etwas angespannten finanziellen Lage, Gaius Marius. Darum erwäge ich, dir meinen - sollen wir sagen, Dienst? - meinen Dienst als Volkstribun anzubieten. Ich frage mich, ob es nicht eine kleine Gesetzesänderung gibt, die du gerne durchsetzen würdest. Oder vielleicht möchtest du auch nur die Gewißheit, einen loyalen Anhänger unter den Volkstribunen zu haben, der dir in Rom den Rücken stärkt, während du den germanischen Wolf von unserer Türschwelle jagst. Diese dummen Germanen! Sie haben immer noch nicht eingesehen, daß eigentlich Rom der Wolf ist. Aber das werden sie schon noch lernen, da bin ich sicher. Wenn irgend jemand ihnen klarmachen kann, wie gefährlich Rom ist, dann du, Gaius Marius.«
Während dieser Rede waren Marius tausend Gedanken in rasender Schnelligkeit durch den Kopf geschossen. Nun lehnte auch er sich zurück, schlug jedoch die Beine nicht übereinander. »Nun, mein lieber Lucius Marcius, es gibt in der Tat eine Kleinigkeit, die ich gerne von der Versammlung der Plebs verabschieden lassen würde, und zwar so, daß es möglichst wenig Wirbel darum gibt. Es wäre mir ein Vergnügen, dir bei der Behebung deiner finanziellen Schwierigkeiten behilflich zu sein - wenn du mir dafür Ärger bei meinen Gesetzen ersparst.«
»Je größer dein Beitrag zu meiner Sache ausfällt, Gaius Marius, desto weniger Wirbel wird es um den Gesetzesvorschlag geben«, sagte Philippus mit breitem Lächeln.
»Ausgezeichnet! Nenne deinen Preis«, verlangte Marius.
»Du meine Güte! Wie unverblümt!«
»Nenne deinen Preis«, wiederholte Marius.
»Eine halbe Million«, gab Philippus zur Antwort.
»Sesterze«, vergewisserte sich Marius.
»Denare«, erwiderte Philippus.
»Oh! Für eine halbe Million Denare würde ich wesentlich mehr verlangen als Kleinigkeiten«, sagte Marius.
»Für eine halbe Million Denare, Gaius Marius, würdest du wesentlich mehr erhalten als Kleinigkeiten. Nicht nur meine Dienste während meiner Amtszeit als Tribun, sondern auch danach. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
»Dann kommen wir ins Geschäft.«
»Wie einfach!« rief Philippus aus und entspannte sich. »Nun, wie sieht die Kleinigkeit aus, bei der ich dir helfen kann?«
»Ich brauche ein Ackergesetz«, sagte Marius.
»Nicht einfach! Ganz und gar nicht einfach!« Philippus setzte sich auf, er sah fassungslos aus. »Wofür, um alles in der Welt, brauchst du ein Ackergesetz? Ich brauche Geld, Gaius Marius. Aber das nützt mir nur etwas, wenn ich noch am Leben bin und es ausgeben kann, nachdem ich meine Schulden bezahlt habe! Ich habe nicht die Absicht, mich auf dem Kapitol zu Tode prügeln zu lassen. Glaub mir, Gaius Marius, ich bin bestimmt kein zweiter Tiberius Gracchus!«
»Es ist zwar ein Ackergesetz, ein Gesetz über Landverteilung, aber es geht nicht so weit, daß sich jemand dafür umbringen lassen müßte«, beruhigte ihn Marius. »Ich versichere dir, Lucius Marcius, ich bin kein Reforrner und kein Revolutionär. Ich habe anderes mit den Besitzlosen von Rom vor, als sie mit Roms kostbarem ager publicus zu beschenken. Ich werde sie als Soldaten verpflichten - sie sollen für das Land, das sie bekommen, hart arbeiten! Niemand wird etwas geschenkt bekommen, ohne etwas dafür zu leisten.«
»Aber was für Land kann denn verschenkt werden, wenn nicht ager publicus? Oder willst du, daß Rom mehr Land kauft? Oder sich auf andere Weise aneignet? Dafür braucht man erst einmal viel Geld.« Philippus war immer noch sehr beklommen.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte Marius, »das Land befindet sich bereits in römischem Besitz. Ich habe immer noch mein prokonsularisches imperium über Africa, somit steht es in meiner Macht, das von mir eroberte Land in der africanischen Provinz nach meinem Gutdünken zu nutzen. Ich kann es an meine Klienten verpachten, an den Höchstbietenden versteigern oder einem verbündeten König schenken. Ich muß nur erreichen, daß der Senat meine Entscheidung bestätigt.«
Marius beugte sich vor und fuhr fort. »Ich habe nicht die Absicht, Metellus Numidicus oder seinesgleichen die Flanke zu bieten und zu warten, bis sie zustoßen. Also werde ich so handeln wie immer - streng nach dem Gesetz oder nach Sitte und Herkommen. Darum werde ich am Neujahrstag mein prokonsularisches imperium abgeben, und Metellus Numidicus hat das Nachsehen.
Über den größten Teil des Landes, das ich in Africa für den Senat und das Volk von Rom erobert habe, konnte ich mit Zustimmung des Senats bereits verfügen. Aber da gibt es noch etwas, eine Sache, die ich nicht selbst ins Rollen bringen will. Und sie ist so knifflig, daß sie nicht in einem Zug durchgeführt werden sollte, sondern in zwei Etappen. Die erste im kommenden Jahr, die zweite ein Jahr später.
Deine Aufgabe, Lucius Marcius, wird es sein, mit der ersten Etappe zu beginnen. Ich erläutere dir kurz, worum es geht. Meiner Meinung nach muß Rom, wenn es weiterhin gute Armeen aufstellen will, den Militärdienst für die Besitzlosen lohnend machen. Sie sollen nicht nur aus patriotischen Gefühlen in die Legionen eintreten, wenn Rom in Not ist - oder aus Langeweile in ruhigen Zeiten. Die übliche Entlohnung, ein bißchen Geld und ein kleiner Anteil an der Kriegsbeute, wird den Soldaten irgendwann einmal nicht mehr ausreichen. Wenn ihnen aber ein schönes Stück Land angeboten wird, auf das sie sich im Alter zurückziehen oder das sie verkaufen können, dann wird der Militärdienst viel interessanter. Dieses Land kann jedoch nicht auf italischem Gebiet liegen. Und ich sehe auch gar keinen Grund, warum es in Italien sein muß.«
»Langsam verstehe ich, worauf du hinauswillst, Gaius Marius«, sagte Philippus. Er nagte nachdenklich an der Unterlippe. »Interessant.«
»Das denke ich auch. Ich habe die Inseln in der Kleinen Syrte zurückbehalten, und dort sollen diese Soldaten nach ihrer Entlassung angesiedelt werden. Dank der Germanen wird es mit der Entlassung allerdings noch eine Welle dauern. Diese Zeit will ich nutzen, um mir die Zustimmung des Volkes für die Verteilung von Land auf Meninx und Kerkena an die Soldaten zu holen. Aber ich habe viele Feinde, die versuchen werden, mich aufzuhalten, und sei es auch nur, weil sie ihre ganze Karriere darauf aufgebaut haben, mich aufzuhalten«, sagte Marius.
Philippus nickte wissend. »Das ist wahr, du hast eine Menge Feinde, Gaius Marius.«
Marius war sich nicht sicher, ob in dieser Bemerkung tatsächlich ein sarkastischer Unterton mitschwang. Er schenkte Philippus einen vernichtenden Blick und fuhr dann fort. »Deine Aufgabe, Lucius Marcius, ist es, in der Versammlung der Plebs ein Gesetz durchzubringen, das besagt, daß die Inseln in der africanischen Kleinen Syrte als Teil des ager publicus zurückbehalten werden. Sie dürfen weder verpachtet noch aufgeteilt noch verkauft werden, so lange, bis künftige Beschlüsse der Versammlung der Plebs etwas anderes verfügen. Kein Wort über die Soldaten und über die capite censi. Du wirst nur ganz beiläufig und ruhig dafür sorgen, daß uns die Inseln sicher sind und niemand seine gierigen Finger darauf legen kann. Es ist sehr wichtig, daß meine Feinde nicht einmal im Traum auf die Idee kommen, ich könnte etwas mit diesem kleinen Gesetz zu tun haben.«
»Oh, ich denke, das wird kein Problem sein«, meinte Philippus, der jetzt wieder etwas zuversichtlicher wirkte.
»Gut. An dem Tag, an dem das Gesetz in Kraft tritt, werde ich Anweisung geben, eine halbe Million Denare auf deinen Namen zu überschreiben. Es wird so vor sich gehen, daß diese Aufbesserung deines Vermögens nicht mit mir in Verbindung gebracht werden kann.«
Philippus erhob sich. »Du hast dir einen Volkstribunen gekauft, Gaius Marius«, sagte er und streckte die Hand aus. »Und noch mehr Ich werde während meiner gesamten politischen Karriere dein Mann sein.«
»Ich freue mich, das zu hören«, erwiderte Marius und schüttelte die angebotene Hand. Doch kaum war Philippus aus der Tür, ließ Marius warmes Wasser kommen und wusch sich die Hände.
»Nur weil ich von Bestechung Gebrauch mache, heißt das noch lange nicht, daß ich die Männer, die ich besteche, mögen muß«, sagte Marius zu Publius Rutilius Rufus, als dieser fünf Tage später in Cumae ankam.
Rutilius Rufus machte ein resigniertes Gesicht. »Nun, er hat immerhin Wort gehalten«, entgegnete er. »Er hat dein bescheidenes, kleines Gesetz vorgetragen, als ob er es sich selbst ausgedacht hätte. Ich muß sagen, er hat es so logisch vorgebracht, daß niemand Einwände erhob, nicht einmal aus Lust am Streiten. Ein kluger Mann, dieser Philippus, wenn auch auf die schleimige Art. Er strich die Lorbeeren für seinen Patriotismus ein, indem er der Versammlung der Plebs weismachte, ein winziges Stück der großen africanischen Provinz müsse für die Zukunft des römischen Volkes zurückgelegt werden. ›Gespart‹ war der Ausdruck, den er gebrauchte. Sogar unter deinen Feinden dachten ein paar, er wollte dir damit eins auswischen. Das Gesetz ging ohne den leisesten Protest durch.«
»Sehr gut!« sagte Marius und seufzte erleichtert. »Jetzt werden die Inseln wenigstens für eine Weile unangetastet bleiben. Ich brauche noch Zeit, um zu beweisen, daß die Plebejer als Legionäre etwas taugen, erst dann kann ich es wagen, ihnen ein Stück Land als Belohnung zuzuteilen. Du kannst dir ja denken, was der Senat dazu sagen wird. Die früheren römischen Legionäre wurden nicht mit Land beschenkt, warum also sollen die neuen, die besitzlosen, etwas bekommen?« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, genug davon. Was ist sonst so passiert?«
»Ich habe ein Gesetz verabschiedet, das den amtierenden Konsul ermächtigt, im Notfall zusätzliche Militärtribunen zu verpflichten, ohne deshalb Wahlen abhalten zu müssen«, sagte Rutilius.
»Du denkst wie immer voraus. Hast du mit deinem neuen Gesetz schon ein paar Militärtribunen verpflichtet?«
»Einundzwanzig. So viele, wie bei Arausio gefallen sind.«
»Wer ist dabei?«
»Der junge Gaius Julius Caesar.«
»Na, das ist wirklich eine gute Nachricht! Obwohl Verwandte ja meistens eher eine Plage sind. Erinnerst du dich an Gaius Lusius? Den Mann von Gratidia, der Schwester meines Schwagers?«
»Nur undeutlich. Numantia?«
»Genau. Ein fürchterlicher Trottel! Aber unglaublich reich. Irgendwie haben Gratidia und er einen Sohn und Erben zustande gebracht. Er ist inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt. Und jetzt bitten sie mich, ihn auf den Feldzug gegen die Germanen mitzunehmen. Dabei habe ich ihn noch nicht einmal gesehen. Aber natürlich konnte ich nicht ablehnen, sonst hätten sie meinem Bruder Marcus endlos damit in den Ohren gelegen.«
»Da wir gerade bei deiner zahlreichen Verwandtschaft sind - es wird dich freuen zu hören, daß der junge Quintus Sertorius daheim in Nursia bei seiner Mutter ist. Er wird bald wieder auf den Beinen sein und mit dir nach Gallien ziehen können.«
»Gut! So wie Cotta dieses Jahr nach Gallien gegangen ist, hm?«
»Ich bitte dich, Gaius Marius! Ein ehemaliger Prätor und fünf Hinterbänkler, die abgesandt wurden, um mit jemandem wie Caepio zu verhandeln? Aber ich kannte meinen Cotta, während Scaurus und Delmaticus nicht ahnten, was in ihm steckt. Ich hegte keinen Zweifel, daß Cotta retten würde, was zu retten ist.«
»Was ist mit Caepio passiert, seit er wieder zurück ist?«
»Oh, sein Kinn ist noch über Wasser, aber er muß ganz schön paddeln, um nicht unterzugehen, das kann ich dir sagen. Ich vermute, irgendwann wird nur noch seine Nasenspitze aus dem Wasser schauen. Das Volk ist ungeheuer aufgebracht über ihn, und nicht einmal seine Freunde auf den vorderen Bänken können viel für ihn tun.«
»Sehr gut! Er müßte ins Tullianum geworfen werden und dort verrotten«, sagte Marius grimmig.
»Richtig, aber vorher müßte er eigenhändig das Holz für achtzigtausend Begräbnisfeuer schlagen«, meinte Rutilius und fletschte die Zähne.
»Was ist mit den Marsern? Haben sie sich beruhigt?«
»Du meinst die Entschädigung, die sie verlangen? Der Senat hat sie natürlich abgelehnt, aber Rom hat sich damit bestimmt keine Freunde gemacht. Der Befehlshaber der marsischen Legion, Quintus Poppaedius Silo, kam nach Rom, um als Zeuge auszusagen. Und ich wette, du kannst dir nicht denken, wer bereit war, mit ihm auszusagen?« fragte Rutilius.
Marius grinste. »Du hast recht, ich kann es mir wirklich nicht denken. Wer?«
»Kein anderer als mein Neffe, der junge Marcus Livius Drusus! Anscheinend haben sich die beiden nach der Schlacht kennengelernt. Drusus’ Legion stand neben der von Silo. Für Caepio war es wohl ein riesiger Schock, als mein Neffe, der zufällig auch sein Schwiegersohn ist, sich bereit erklärte, in diesem Fall auszusagen, denn es geht schließlich um Caepios Verhalten in Arausio.«
»Ein junger Esel, der allerdings auch ganz schön austeilen kann«, sagte Marius, der sich an den jungen Drusus aus der Gerichtsverhandlung erinnerte.
»Er hat sich verändert seit Arausio«, meinte Rutilius. »Ich würde sagen, er ist erwachsen geworden.«
»Nun, dann dürfte Rom in Zukunft einen guten Mann mehr haben.«
»Sehr wahrscheinlich. Aber ich mußte bei allen, die Arausio überlebt haben, tiefe Veränderungen feststellen«, sagte Rutilius traurig. »Sie konnten immer noch nicht alle Soldaten auftreiben, die sich über die Rhône gerettet haben. Ich glaube, das werden sie niemals schaffen.«
»Ich werde sie finden«, sagte Marius grimmig. »Es sind capite censi, und damit fallen sie unter meine Verantwortung.«
»Das ist natürlich der Nagel, an dem Caepio seinen Fall aufhängt, an den Soldaten, die unter den capite censi rekrutiert wurden. Er versucht, die Schuld auf Gnaeus Mallius und seinen Pöbelhaufen, wie er sie nennt, abzuwälzen. Den Marsern gefällt es natürlich überhaupt nicht, wenn man sie als besitzlose Plebejer bezeichnet, und den Samniten genausowenig. Mein junger Neffe Marcus Livius hat einen öffentlichen Eid geschworen, daß die Legionen mit solchen Soldaten keine Schuld an der Niederlage trifft. Er ist ein guter Redner und kann die Leute begeistern.«
»Wie kann er Caepio kritisieren, wenn er sein Schwiegersohn ist?« fragte Marius neugierig. »Sind nicht sogar Caepios Gegner über einen solchen Mangel an Familiensinn entsetzt?«
»Er kritisiert Caepio nicht - jedenfalls nicht direkt. Es ist wirklich interessant. Er sagt überhaupt nichts über ihn! Er widerspricht nur Caepios Darstellung, daß die Schuld für die Niederlage bei Gnaeus Mallius’ Plebejerarmee liege. Aber mir ist aufgefallen, daß der junge Marcus Livius und der junge Caepio bei weitem nicht mehr so häufig zusammenstecken. Die Sache ist ziemlich verwickelt, weil der junge Caepio mit meiner Nichte, der Schwester von Marcus Livius, verheiratet ist«, sagte Rutilius.
»Nun, was erwartest du, wenn all diese erbärmlichen Adligen darauf bestehen, untereinander zu heiraten, anstatt neues Blut hineinzulassen?« fragte Marius. Dann zuckte er mit den Schultern. »Genug davon! Hast du noch mehr Neuigkeiten?«
»Nur über die Marser, oder besser gesagt, über die italischen Bundesgenossen. Die Stimmung gegen uns schlägt hohe Wogen, Gaius Marius. Wie du weißt, versuche ich seit Monaten, Soldaten zu rekrutieren, aber die italischen Bundesgenossen stellen sich quer. Sie behaupten, daß sie keine waffenfähigen Männer im dienstfähigen Alter mehr haben, und als ich nach capite censi fragte, sagten sie, sie hätten auch keine capite censi mehr.«
»Nun, es sind bäuerliche Völker, ich könnte mir vorstellen, daß das stimmt.«
»Unsinn! Pachtbauern, Schäfer, Feldarbeiter, freie Bauernknechte - wann hat es davon jemals zuwenig gegeben? Aber die italischen Bundesgenossen beharren darauf, daß es keine italischen Proletarier mehr gibt. Ich habe ihnen einen Brief geschrieben und nach dem Grund gefragt. Sie sagen, jeder italische Mann, der vielleicht als tauglicher Proletarier in Frage käme, sei inzwischen römischer Schuldsklave. Oh, es ist bitter! Alle italischen Stämme haben sich schriftlich beim Senat beschwert, alle beklagen sich bitter darüber, wie sie von Rom behandelt würden, und nicht nur vom Staat, sondern auch von römischen Bürgern in Machtstellungen. Die Marser, die Paeligner - die Picenter - die Umbrer - die Samniten - die Apulier - die Lukaner - die Etrusker - die Marrukiner - die Vestiner - die Liste ist vollständig, Gaius Marius!«
»Wir haben doch schon seit langem gewußt, daß es irgendwann Ärger geben würde«, sagte Marius. »Ich hoffe allerdings, daß die Bedrohung durch die Germanen unsere Halbinsel wieder zusammenschmiedet.«
»Das glaube ich nicht. Alle Bundesgenossen werfen Rom vor, daß ihre besitzenden Männer viel zu lange in der Armee gehalten werden. In dieser Zeit können sie sich nicht um ihre Höfe oder Geschäfte kümmern, die langsam vor die Hunde gehen. Wenn sie dann von einem Feldzug für Rom zurückkommen - falls sie ihn überlebt haben -, stellen sie fest, daß sie hoch verschuldet sind, entweder bei einem römischen Landbesitzer oder bei einem ansässigen Geschäftsmann mit römischem Bürgerrecht. Und so habe Rom bereits alle ihre Männer - als Schuldsklaven, verstreut über alle römischen Provinzen von einen Ende des Mittelmeeres zum anderen. Vor allem da, sagen sie, wo Rom Leute mit landwirtschaftlichen Kenntnissen braucht, in Africa oder auf Sardinien oder Sizilien.«
Marius wirkte beunruhigt. »Ich hatte keine Ahnung, daß es schon so weit gekommen ist«, sagte er. »Ich besitze selbst große Ländereien in Etrurien, darunter auch viele Höfe, die von meinen Agenten beschlagnahmt wurden, weil die Besitzer verschuldet waren. Aber was soll ich denn sonst tun? Wenn ich die Höfe nicht kaufe, dann kaufen sie Schweinebacke oder sein Bruder Delmaticus. Ich habe die Ländereien von der Familie meiner Mutter Fulcinia geerbt und mich deshalb auf diese Gegend beschränkt. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß ich dort ein großer Grundbesitzer bin.«
»Und ich wette, du weißt nicht, was deine Agenten mit den Männern gemacht haben, deren Höfe sie für dich beschlagnahmt haben«, sagte Rutilius.
»Du hast recht, ich weiß es nicht«, erwiderte Marius und sah betreten aus. »Ich hatte keine Ahnung, daß wir so viele Italiker versklavt haben. Es ist, als hätten wir Römer versklavt!«
»Nun, das machen wir auch mit Römern, wenn sie sich verschulden.«
»Seltener, Publius Rufus, viel seltener!«
»Stimmt.«
»Sobald ich im Amt bin, werde ich mich um die Beschwerden unserer Bundesgenossen kümmern«, sagte Marius mit Entschiedenheit.