Als die beiden Töchter Caesars am nächsten Morgen zum Frühstück in ihr kleines Wohnzimmer kamen, war Julilla so unruhig, daß sie sich nicht setzen konnte, sondern ständig von einem Bein aufs andere hüpfte.
»Was ist denn los?« fragte ihre Schwester gereizt.
»Spürst du nichts? Irgendwas ist los, dabei wollte ich mich doch heute vormittag mit Clodilla auf dem Blumenmarkt treffen - ich habe es ihr fest versprochen! Aber ich glaube, wir müssen heute wieder zu so einem langweiligen Familienrat dableiben.« Julilla verdrehte die Augen.
»Du bist wirklich undankbar!« sagte Julia. »Kennst du sonst noch ein Mädchen, das bei einem Familienrat mitreden darf?«
»Ach Quatsch, so ein Familienrat ist doch nur langweilig. Nie reden wir über etwas Interessantes, immer nur über Sklaven, Geldsorgen und Lehrer. Ich will nicht mehr in die Schule. Homer und der blöde alte Thukydides hängen mir zum Hals raus! Was soll ich damit?«
»Diese Autoren bilden dich«, sagte Julia streng. »Du willst doch auch einmal einen tüchtigen Ehemann, oder nicht?«
Julilla kicherte. »Ich stelle mir unter einem tüchtigen Mann jemand anders vor als Homer und Thukydides. Ach, ich wollte heute so gerne ausgehen!« Sie hopste hin und her.
»Wie ich dich kenne, tust du das auch, wenn du es dir in den Kopf gesetzt hast«, sagte Julia. »Setz dich jetzt bitte hin und iß!«
Ein Schatten verdunkelte die Tür. Die Mädchen blickten auf und öffneten erstaunt den Mund. Ihr Vater! Hier!
»Julia, ich möchte mit dir sprechen«, sagte Caesar und trat ein. Ausnahmsweise schenkte er Julilla keine Beachtung,
»Oh, tata! Nicht einmal ein Gutemorgenküßchen?« fragte die Lieblingstochter schmollend.
Gedankenverloren sah er sie an und kniff sie in die Wange. »Willst du nicht etwas unternehmen, mein Schmetterling?«
Julilla strahlte. »Danke, tata, danke! Darf ich auf den Blumenmarkt gehen? Und zum Porticus Margaritaria?«
»Wie viele Perlen willst du dir heute kaufen?« fragte ihr Vater lächelnd.
»Tausend!« rief sie und wollte losrennen.
Caesar drückte ihr noch einen Silberdenar in die Hand. »Das reicht zwar nicht einmal für eine einzige kleine Perle, aber vielleicht reicht es für einen Schal.«
»Oh, danke tata, danke!« Julilla gab ihm einen Kuß und war verschwunden.
Caesar blickte seine älteste Tochter freundlich an. »Setz dich, Julia.«
Erwartungsvoll setzte sie sich, sagte aber kein Wort. Marcia kam herein und nahm neben ihrer Tochter auf dem Sofa Platz.
»Was ist los, Gaius Julius?« fragte Marcia neugierig.
Caesar blieb stehen, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und richtete schließlich seine leuchtend blauen Augen auf Julia. »Hat Gaius Marius dir gefallen, Liebling?« fragte er.
»Ja, warum, tata?«
»Was hat dir an ihm gefallen?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Ich glaube, seine schlichte, aufrichtige Art zu sprechen. Und weil er so natürlich wirkt. Er hat bestätigt, was ich mir schon immer gedacht habe.«
»Ja?«
»Dieser Tratsch, den man immer hört - daß er kein Griechisch kann, daß er ein dummer Bauer ist, daß er sich auf Kosten anderer einen Ruf als Feldherr geschaffen hat. Mir kam es immer so vor, als ob die Leute zuviel redeten. Das konnte einfach nicht alles wahr sein. Jetzt, wo ich ihn kennengelernt habe, bin ich mir sicher, daß ich recht habe. Er ist kein dummer Bauer und durchaus nicht ungehobelt. Er ist intelligent und sehr belesen! Sein Griechisch klingt zwar nicht besonders schön, aber seine Grammatik und sein Wortschatz sind ganz ausgezeichnet. Er kleidet sich nicht besonders geschmackvoll, aber daran ist vermutlich seine Frau schuld.« Bei diesen Worten schlug Julia verwirrt die Augen nieder.
»Julia! Du hast ihn ja richtig lieb!« sagte Caesar, und in seiner Stimme schwang eine merkwürdige Scheu.
»Ja, tata, ich hab ihn lieb.«
»Darüber bin ich sehr froh, denn du wirst ihn heiraten«, platzte Caesar heraus. Sein berühmter Takt und sein diplomatisches Einfühlungsvermögen ließen ihn in dieser ungewöhnlichen Situation auf einmal im Stich.
Julia sah erstaunt auf. »Was?«
Marcia versteifte sich. »Ihn heiraten?«
Caesar nickte und setzte sich jetzt doch.
»Und wann bist du zu diesem Entschluß gekommen?« fragte Marcia. Sie klang verärgert. »Wann hatte er denn Gelegenheit, Julia kennenzulernen, daß er jetzt um ihre Hand anhält?«
»Er hat nicht um Julia angehalten«, sagte Caesar. »Ich habe ihm Julia angeboten. Oder Julilla. Deshalb habe ich ihn gestern zum Essen eingeladen.«
Marcia starrte ihn an, als würde sie an seinem Verstand zweifeln. »Du hast einem homo novus, der dir im Alter näher steht als deinen Kindern, unsere Töchter zur Auswahl angeboten?« Jetzt war sie wirklich zornig.
»Ganz genau.«
»Aber warum denn?«
»Du weißt doch, wer er ist.«
»Natürlich weiß ich das.«
»Dann weißt du auch, daß er einer der reichsten Männer Roms ist.«
»Ja.«
»Na also«, sagte Caesar ernst, an Frau und Tochter zugleich gewandt, »ihr wißt doch beide, in welcher Lage wir sind. Vier Kinder und weder genug Geld noch genug Grundbesitz. Zwei Jungen, die es dank ihrer Herkunft und ihrer Intelligenz bis ganz nach oben schaffen können, und zwei Mädchen, die aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Schönheit nur den besten Mann verdienen. Aber - kein Geld! Kein Geld für den cursus honorum und kein Geld für die Mitgift.«
»Das ist richtig«, sagte Marcia nüchtern. Ihr Vater war gestorben, bevor sie das heiratsfähige Alter erreicht hatte, und seine Kinder aus erster Ehe hatten mit Hilfe der Nachlaßverwalter dafür gesorgt, daß für sie kein nennenswertes Erbe übrigblieb. Gaius Julius Caesar hatte sie aus Liebe geheiratet, und da sie nur eine unbedeutende Mitgift in die Ehe einbringen konnte, hatte ihre Familie der Verbindung erleichtert zugestimmt. Ja, sie hatten aus Liebe geheiratet und waren mit Glück, Harmonie, drei überaus wohlgeratenen Kindern und einem zauberhaften Schmetterling gesegnet worden. Trotzdem war es für Marcia immer noch eine Demütigung, daß Caesar finanziell keine gute Partie gemacht hatte.
»Gaius Marius braucht eine Frau aus einer Patrizierfamilie, deren gesellschaftliche Stellung, Integrität und dignitas untadelig sind«, erklärte Caesar. »Er hätte schon vor drei Jahren Konsul werden sollen, aber die Meteller haben es verhindert. Unsere Julia wird Rom zwingen, Gaius Marius endlich ernst zu nehmen. Unsere Julia wird ihm die gesellschaftliche Stellung verleihen, die er braucht. Sein öffentliches Ansehen wird tausendfach steigen. Dafür wird Gaius Marius unsere finanziellen Schwierigkeiten beheben.«
»Ach, Gaius!« sagte Marcia mit Tränen in den Augen.
»Ach, Vater!« flüsterte Julia mit niedergeschlagenen Augen.
Jetzt, da der Zorn seiner Frau besänftigt war und Julia verlegen errötete, entspannte sich Caesar. »Er fiel mir vorgestern bei den Feierlichkeiten für die neuen Konsuln auf. Merkwürdigerweise hatte ich ihm bis dahin kaum Beachtung geschenkt. Es ist wohl keine Übertreibung, wenn ich sage, daß es mir vorgestern wie Schuppen von den Augen fiel. Ich wußte, da steht ein großer Mann! Ich wußte, daß Rom ihn brauchen wird.«
»Und du hast ihm das Angebot gemacht, nicht umgekehrt?« fragte Marcia.
»Ja.«
»Dann sind unsere Probleme jetzt gelöst?«
Caesar nickte. »Gaius Marius ist zwar kein gebürtiger Römer, aber er ist ein Ehrenmann. Ich bin überzeugt, daß er zu seinem Teil des Vertrags stehen wird.«
»Und der wäre?« fragte Marcia praktisch und griff im Geiste nach ihrem Abakus.
»Noch heute bringt er mir vier Millionen Sesterze in bar, damit ich das Land neben unserem Grundstück in Bovillae kaufen kann. Dann hat Gaius genug Grundbesitz für einen Sitz im Senat, und Sextus’ Erbe bleibt erhalten. Gaius Marius wird beiden Jungen helfen, kurulische Ädilen zu werden. Er wird unsere Jungen in jeder erdenklichen Weise unterstützen, damit sie zur vorgesehenen Zeit Konsul werden können. Und er wird Julilla mit einer großzügigen Mitgift ausstatten, auch wenn wir in dieser Frage noch nicht ins Detail gegangen sind.«
»Und was will er für Julia tun?« fragte Marcia knapp.
Caesar sah sie verständnislos an. »Für Julia?« wiederholte er. »Was sollte er mehr tun, als sie heiraten? Immerhin bringt sie keine Mitgift mit, und es kostet ihn ein Vermögen, sie zu seiner Frau zu machen
»Die Mitgift dient normalerweise dazu, einer Frau auch nach der Heirat eine gewisse Unabhängigkeit zu garantieren, vor allem, wenn sie geschieden wird. Es gibt wohl Frauen, die dumm genug sind, die Mitgift ihren Männern zu überlassen, aber nicht alle Frauen sind so dumm. Ich bestehe darauf, daß Gaius Marius unsere Julia mit einer Mitgift ausstattet, die ihr ein sorgenfreies Leben ermöglicht, wenn es zu einer Scheidung kommt. « Marcias Ton ließ keinen Widerspruch zu.
»Marcia, ich kann unmöglich noch mehr von ihm verlangen!« sagte Caesar verzweifelt.
»Ich fürchte, es bleibt dir nichts anderes übrig. Ich bin erstaunt, daß du nicht selbst daran gedacht hast, Gaius Julius. Julia haben wir unser künftiges Glück zu verdanken, deshalb sind wir es ihr schuldig, daß ihr Auskommen gesichert wird.«
»Ich gebe zu, du hast recht, meine Liebe«, sagte Caesar beschämt. »Aber ich kann unmöglich noch mehr von ihm verlangen!«
Julia sah abwechselnd Vater und Mutter an. Es war nicht das erste Mal, daß ihre Eltern in ihrer Gegenwart Meinungsverschiedenheiten austrugen, aber es war das erste Mal, daß es dabei um sie ging. Sie beschloß, etwas zu sagen. »Es ist gut so, wirklich. Ich werde Gaius Marius selbst auf die Mitgift ansprechen. Er wird es schon verstehen.«
»Julia! Du willst ihn wirklich heiraten?« fragte Marcia atemlos.
»Aber natürlich, Mama. Ich finde ihn wunderbar!«
»Aber er ist fast dreißig Jahre älter als du! Du wirst schneller Witwe sein, als du denkst.«
»Junge Männer langweilen mich, sie erinnern mich an meine Brüder. Einer wie Gaius Marius ist mir viel lieber. Ich werde ihm eine gute Frau sein, das verspreche ich euch. Er wird mich lieben und seine Ausgaben nie bereuen.«
»Wer hätte das gedacht?« fragte Caesar. Er hatte die Frage mehr an sich selbst gerichtet als an eine der Frauen.
»Warum bist du so erstaunt, tata? Ich werde bald achtzehn, und ich wußte, daß du noch in diesem Jahr eine Heirat für mich arrangieren würdest. Ich habe mich, ehrlich gesagt, davor gefürchtet. Nicht vor der Heirat - aber davor, wen du als Mann für mich auswählen würdest. Als ich Gaius Marius gestern abend kennenlernte, dachte ich sofort, es wäre wunderbar, wenn du jemanden wie ihn für mich finden würdest.« Julia errötete. »Er ist ganz anders als du und doch wieder genauso wie du - gerecht, freundlich und aufrichtig.«
Gaius Julius Caesar sah seine Frau an. »Es ist doch eine Freude, festzustellen, daß man sein Kind wirklich schätzt. Sein Kind lieben ist ganz natürlich. Aber schätzen? Das muß verdient sein.«
Die Aussicht, an einem Tag gleich mit zwei Frauen sprechen zu müssen, machte Gaius Marius mehr zu schaffen als die Aussicht auf einen Kampf gegen eine zehnfach überlegene Armee. Zunächst sollte er zum erstenmal seine künftige Frau und deren Mutter treffen, dann zum letztenmal seine bisherige Frau.
Zur achten Stunde - mitten am Nachmittag - traf er am Haus von Gaius Julius Caesar ein, diesmal in seine purpurgesäumte Toga gekleidet. Die Million Silberdenare hatte er nicht dabei. Sie hätten 10 000 Pfund gewogen, was 160 Talenten entsprach oder einem Zug von 160 schwerbeladenen Männern. Nein, er trug statt dessen eine Bankanweisung bei sich.
Im Arbeitszimmer Überreichte er seinem Gastgeber eine Pergamentrolle.
»Ich bin so diskret wie möglich vorgegangen«, sagte er, als Caesar die Urkunde entrollte und die Zeilen überflog. »Wie du siehst, habe ich bei deiner Bank zweihundert Talente in Silber auf deinen Namen hinterlegen lassen. Man kann diese Einlage unmöglich zu mir zurückverfolgen, es sei denn, jemand würde sehr viel Zeit dafür opfern.«
»Das ist gut so. Es würde sonst so aussehen, als ob ich Bestechungsgelder kassiert hätte.«
»Ich bezweifle, daß jemals jemand mit einer so hohen Summe bestochen wurde«, antwortete Marius lächelnd.
Caesar streckte ihm die Hand hin. »Ich habe mir die Summe nicht in Talenten vorgestellt«, sagte er. »Bei den Göttern, ich habe ein Königreich von dir gefordert. Bist du sicher, daß du soviel entbehren kannst?«
»Das bin ich.« Marius konnte seine Hand nicht aus Caesars Umklammerung lösen. »Wenn das Land soviel kostet, wie du gesagt hast, dann sind es vierzig Talente zuviel. Das soll die Mitgift für deine Tochter sein.«
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Gaius Marius.« Caesar ließ endlich seine Hand los und sah ihn mit wachsendem Unbehagen an. »Ich sage mir die ganze Zeit, daß ich meine Tochter ja nicht verkaufe, aber jetzt kann ich mich dieses Eindrucks nicht erwehren. Wirklich, Gaius Marius, ich würde anders handeln, wäre ich nicht aufrichtig überzeugt, daß sie mit dir einer glanzvollen Zukunft entgegensieht. Ich bin überzeugt, daß du gut für sie sorgen und sie behüten wirst, wie es einer Julia zusteht.« Seine Stimme klang rauh. Unsicher kam er hinter seinem Schreibtisch hervor. Obwohl sein Herz pochte und seine Gedanken rasten, nahm er die Pergamentrolle wie beiläufig an sich und steckte sie in eine Falte seiner Toga. »Ich werde erst Ruhe haben, wenn ich das auf die Bank gebracht habe.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Julia wird erst Anfang Mai achtzehn, aber ich möchte die Heirat nicht bis in den Juni hinauszögern. Wenn du einverstanden bist, kann die Zeremonie im April stattfinden.«
»Ich bin einverstanden«, sagte Marius.
»Dann warte hier, Gaius Marius. Ich schicke Julia herein.«
Jetzt war es an Gaius Marius, nervös und gespannt zu sein. Hoffentlich sträubte sich das Mädchen nicht zu sehr! Caesars Verhalten hatte zwar nicht darauf hingedeutet, aber Marius wußte sehr wohl, daß es Dinge gab, über die Caesar nie mit ihm sprechen würde. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als daß Julia ihn freiwillig nahm. Freilich - wie konnte sie eine Verbindung erstreben, die so wenig zu ihrem Stand, ihrer Schönheit, ihrer Jugend paßte? Ob sie viele Tränen vergossen hatte, als man ihr den Beschluß eröffnet hatte? Hatte sie bereits einen jungen, hübschen Adligen für sich auserkoren, den sie aus Gründen der Vernunft nun nicht bekommen konnte? Ein alternder Bauer aus der Provinz, ohne Kultur - was für ein Mann für eine Julia!
Die Tür zum Säulengarten ging auf, und wie ein Fanfarenstoß brach die Sonne in Caesars Arbeitszimmer herein. Inmitten des goldenen Glanzes stand lächelnd Julia. Die rechte Hand hatte sie ausgestreckt.
»Gaius Marius«, sagte sie freundlich. Ihr Lächeln vertiefte sich.
»Julia.« Marius trat näher und ergriff ihre Hand, hielt sie aber, als wüßte er nicht, was er damit tun solle oder was überhaupt als nächstes zu tun sei. Verlegen räusperte er sich. »Dein Vater hat es dir gesagt?«
»Aber ja.« Sie lächelte immer noch, sogar, wenn das überhaupt ging, noch strahlender als zuvor, und sie wirkte durchaus nicht unreif oder mädchenhaft schüchtern. Im Gegenteil, sie schien sich und die Situation vollkommen zu beherrschen. Ganz die selbstbewußte Prinzessin, strahlte sie eine königliche Gelassenheit aus, in die sich unterschwellig Demut mischte.
»Du hast nichts dagegen?« fragte er abrupt.
»Ich freue mich darüber.« Sie ließ den Blick ihrer schönen grauen Augen auf ihm ruhen, in dem noch immer das warme Lächeln lag. Gleichsam als wollte sie ihn ermutigen, drückte sie zart seine Hand. »Gaius Marius, sieh nicht so ängstlich drein. Ich freue mich wirklich und wahrhaftig!«
Er zog seine linke Hand aus den Falten der Toga und nahm ihre Hand in beide Hände. »Ich bin ein alter Mann! «
»Dann mag ich alte Männer, denn ich mag dich.«
»Du magst mich?
Sie nickte. »Natürlich! Sonst hätte ich der Heirat nicht zugestimmt. Ich kann mir keinen gütigeren Mann als meinen Vater vorstellen. Er ist kein Tyrann. Er hätte mich nie zu einer Heirat gezwungen, die ich nicht gewollt hätte.«
»Aber bist du sicher, daß du dich nicht selbst dazu zwingst?«
»Das ist nicht notwendig«, erwiderte sie ruhig.
»Es gibt doch bestimmt einen jungen Mann, den du lieber magst als mich! «
»Nein. Junge Männer erinnern mich zu sehr an meine Brüder.«
»Aber... aber... «, er suchte krampfhaft nach einem Einwand. Schließlich sagte er: »Aber meine Augenbrauen!«
»Ich finde sie wunderbar!«
Er merkte, wie er errötete, und war vollkommen verunsichert. Dann erkannte er, daß sie trotz ihrer Selbstbeherrschung und Gelassenheit ein unschuldiges Mädchen war und nicht verstehen konnte, was er durchlitt. »Dein Vater meint, daß wir im April heiraten sollen, noch vor deinem Geburtstag. Ist es dir recht so?«
Sie runzelte die Stirn. »Nun, wenn er es sagt. Aber ich würde lieber schon im März heiraten, wenn ihr beide einverstanden seid. Ich würde gerne am Fest der Anna Perenna heiraten.«
Ein angemessener Tag für eine Hochzeit - und gleichzeitig ein unglückbringender Tag. Das Fest der Göttin Anna Perenna, das in der ersten Vollmondnacht im März gefeiert wurde, hing mit dem Zyklus des Mondes und dem alten Neujahr zusammen. Der Feiertag galt als Glückstag, doch der Tag danach war ein Unglückstag.
»Hast du keine Angst, daß der erste Tag deiner Ehe dir schlechte Omen bringt?«
»Nein«, antwortete Julia. »Eine Heirat mit dir steht unter einem guten Omen.«
Sie schob ihre linke Hand unter seine rechte, so daß ihre Hände jetzt ineinander verschlungen waren, und blickte ernst zu ihm auf. »Meine Mutter hat mir nur wenig Zeit mit dir allein gegeben, und bevor sie kommt, muß ich noch etwas mit dir besprechen. Meine Mitgift.« Ihr Lächeln erstarb und machte einer ernsten Miene Platz. »Ich glaube nicht, daß unsere Ehe unglücklich wird, Gaius Marius. Ich zweifle nicht im geringsten an deiner Absicht und Integrität, und du wirst ebensowenig an meiner zu zweifeln haben. Meine Mutter besteht aber auf einer Mitgift. Sie meint, ich müsse eine Mitgift haben, für den Fall, daß du dich je von mir scheiden läßt. Mein Vater ist von deiner Großzügigkeit so überwältigt, daß er es nicht über sich bringt, noch mehr zu fordern. Deshalb habe ich, mich bereit erklärt, mit dir darüber zu sprechen, und das muß jetzt sein, bevor Mama hereinkommt, denn sie wird ganz bestimmt darauf zu sprechen kommen.«
In ihrer Miene war keine Habgier, nur Sorge zu erkennen. »Wäre es möglich, daß du zu diesem Zweck einen Betrag beiseite legst? Wenn wir, wie ich sicher annehme, nicht geschieden werden, können wir beide darüber verfügen, im Falle einer Scheidung würde das Geld mir zustehen.«
Eine echte Römerin! Die Worte wohlgesetzt, anmutig und freundlich, aber kristallklar.
»Ich denke, das müßte möglich sein«, sagte er ernst.
»Du mußt dich natürlich absichern, daß ich während unserer Ehe keine Verfügungsgewalt darüber habe.«
»Es soll geschehen, wie du es wünschst«, sagte er. »Aber ich brauche keine Absicherung. Ich überschreibe dir mit Freuden einen Betrag auf deinen Namen, über den du nach eigenem Gutdünken verfügen kannst.«
Sie mußte lachen. »Gut, daß du mich gewählt hast und nicht Julilla! Nein danke, Gaius Marius. Ich ziehe den ehrenhaften Weg vor.« Sanft sah sie zu ihm auf. »Willst du mir jetzt einen Kuß geben, bevor meine Mutter hereinkommt?«
Über die Mitgift hatte er ganz ruhig gesprochen, aber die Bitte um einen Kuß brachte ihn aus der Fassung. Er durfte Julia nicht enttäuschen. Aber was wußte er schon von Küssen und von der Liebe? Er hatte sich nie dafür interessiert, was seine sporadischen Geliebten von seinen Küssen und seinen Liebeskünsten hielten, und er hatte keine Ahnung, was ein junges Mädchen von seinem ersten Geliebten erwartete. Sollte er sie an sich reißen und leidenschaftlich küssen? Sollte er eher zart und zurückhaltend sein? Was erwartete Julia von ihm? Er wußte nur, daß es ihm sehr wichtig war, ihr zu gefallen.
Schließlich trat er ganz nah an sie heran und neigte den Kopf. Nicht sehr tief, denn sie war ungewöhnlich groß. Ihre geschlossenen Lippen fühlten sich kühl an, weich und samtig. Er löste sein Dilemma, indem er instinktiv die Augen schloß und passiv empfing, was sie zu geben bereit war. Für Julia war es eine völlig neue Erfahrung, der sie sich öffnete, ohne zu wissen, was sie barg, denn Caesar und Marcia hatten ihre Töchter sehr behütet erzogen.
Als sie ihre Hände aus seinen Händen zog, ließ er sie sofort los und wollte einen Schritt zurücktreten. Sie aber hob die Arme und legte sie ihm um den Hals. Der Kuß wurde inniger. Julia öffnete leicht die Lippen, und Marius umfing ihren Körper mit seinen Armen. Nach einer Weile lösten ihre Lippen sich wie von selbst voneinander.
Als Marcia geräuschlos das Zimmer betrat, konnte sie nichts Unlauteres an der Umarmung finden. Gaius Marius’ Mund berührte Julias Wange, Julia stand mit geschlossenen Augen da, zufrieden wie eine Katze, die sich still streicheln läßt.
Ganz ohne Verlegenheit lösten sie sich aus der Umarmung und wandten sich Marcia zu, die zumindest in Marius’ Augen ausgesprochen finster dreinblickte. Er vermutete, daß sie ihre Tochter lieber mit einem Mann aus ihrer Klasse verheiratet hätte, selbst wenn dann kein Geld in die Familie gekommen wäre. Doch er fühlte sich in diesem Augenblick so glücklich, daß er leicht über den Unmut seiner zukünftigen Schwiegermutter, die fast zwei Jahre jünger war als er, hinwegsehen konnte. Er würde Marcia beweisen, daß der alternde Bauer aus der Provinz Julia glücklich machen konnte.
»Ich habe ihn um die Mitgift gebeten, Mama«, sagte Julia. »Wir haben alles besprochen.«
Marcia sah Marius verlegen an. »Darauf habe ich gedrängt, nicht meine Tochter - oder mein Mann.«
»Ich verstehe«, sagte er freundlich.
»Du warst außerordentlich großzügig, Gaius Marius. Wir danken dir.«
»Ich muß dir widersprechen, Marcia. Ihr wart außerordentlich großzügig. Julia ist eine Perle, die nicht mit Geld aufzuwiegen ist.«
Diese letzten Worte gingen Gaius Marius nicht aus dem Kopf. Als er kurze Zeit später Caesars Haus verließ, lenkte er deshalb seine Schritte am Fuß der Vesta-Treppe nicht nach links, zu seinem Haus, sondern nach rechts, an dem hübschen, kleinen, runden Tempel vorbei und den engen Weg zwischen der Regia und dem Domus Publicus hindurch. Er kam auf der Via Sacra heraus, die hier anstieg und Clivus Sacer genannt wurde. Rasch stieg er den Clivus Sacer hinauf, denn er wollte den Porticus Margaritaria erreichen, bevor die Händler alle gegangen waren. In den hohen, luftigen Arkaden, die den rechteckigen Platz säumten, waren die besten Juweliere der Stadt zu Hause.
Marius wollte eine Perle für Julia kaufen, und wie jeder Römer wußte er genau, wohin er dazu gehen mußte: zum Geschäft des Fabricius Margarita. Marcus Fabricius verkaufte ganz besondere Perlen. Der erste Marcus Fabricius hatte phantastische Erzählungen über wunderbare Perlen gehört, die es in Ägypten und Arabia Nabataea geben sollte. Wie ein Spürhund hatte er sich auf die Suche gemacht - und war fündig geworden. Zuerst hatte er nur enttäuschend kleine und unregelmäßig geformte Perlen gefunden, aber sie besaßen bereits jenes charakteristische, cremige Weiß. Sie stammten aus dem Roten Meer. Nach und nach entdeckte er Perlenvorkommen in den indischen Meeren und vor Ceylon. Ungefähr zu dieser Zeit hatte er sich den Beinamen Margarita gegeben und sein Monopol im Handel mit diesen besonderen Perlen begründet. Heute, zur Amtszeit der Konsuln Marcus Minucius Rufus und Spurius Postumius Albinus, war sein Enkel so gut sortiert, daß ein reicher Mann sicher sein konnte, in seinem Geschäft jederzeit eine passende Perle zu finden.
Selbstverständlich hatte Fabricius Margarita auch für Marius die passende Perle auf Lager, Marius nahm sie jedoch nicht mit nach Hause. Er wollte diese vollkommen geformte, erbsengroße Perle, in der sich das Mondlicht zu spiegeln schien, zusammen mit anderen, kleineren Perlen auf ein Halsband aus massivem Gold aufziehen lassen, was einige Tage dauern würde. Er spürte einen ihm völlig neuen Drang, einer Frau kostbare Geschenke zu machen. Die Erinnerung an den Kuß und an Julias Bereitschaft, seine Braut zu werden, ließ ihn nicht mehr los. Allein der Gedanke, daß er so ein Herz, so rein, so jung, so edel wie das Julias besitzen würde, erfüllte ihn mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Julia war seine Perle, und sie war nicht mit Geld aufzuwiegen. Perlen, diese Tränen, die der ferne, tropische Mond in die Tiefe des Ozeans fallen ließ und die auf dem Weg in die Tiefe zu Stein gefroren - diese Perlen gehörten seiner Julia.
Natürlich war Grania zu Hause. Grania ging nie aus. Tagtäglich wartete sie von der neunten Stunde an, ob ihr Mann zum Essen nach Hause kommen würde. Immer wieder zögerte sie das Essen um ein paar Minuten hinaus und trieb damit ihren Koch zur Verzweiflung, und allzu häufig endete es damit, daß sie unter Tränen ein einsames Mahl zu sich nahm.
Die kulinarischen Meisterstücke, die der Koch in der Küche vollbrachte, waren immer vergeblich, egal ob Marius auswärts oder zu Hause speiste. Grania hatte ein Vermögen für den Koch ausgegeben, und seine Leistungen hätten den verwöhntesten Epikureer in Ekstase versetzen können. Aß Marius tatsächlich einmal zu Hause, wurden die üppigsten Gerichte aufgetragen: mit Gänseleberpastete gefüllte Schlafmäuse, kleine, unvorstellbar delikate Vögel, exotische Gemüse und aromatische Soßen, die Marius’ Zunge und Magen, wenngleich nicht seine Geldbörse, überforderten. Marius war wie die meisten Soldaten mit einem Stück Brot und einer Schale Erbsensuppe mit Speck zufrieden. Das Essen war ihm nur als Brennstoff für den Körper wichtig, nicht als Genuß. Grania hatte dies nach all den Jahren ihrer Ehe noch immer nicht begriffen, und das war ein Zeichen der großen Distanz zwischen ihnen.
Marius war unbehaglich zumute, wenn er daran dachte, was er Grania antun wollte - obgleich seine Zuneigung zu ihr gering war. Er fühlte sich ihr gegenüber stets schuldig, denn er wußte, daß sie von ihrer Ehe ein glückliches Leben mit Kindern und gemeinsamen Mahlzeiten erwartet hatte. Arpinum hätte das Zentrum ihres Lebens sein sollen, mit häufigen Ausflügen nach Puteoli und vielleicht jeden September einem zweiwöchigen Urlaub in Rom während der ludi romani.
Grania hatte Marius völlig kalt gelassen, als er sie das erste Mal sah, und sogar noch, als er das erste Mal mit ihr schlief. Er konnte sich nicht dazu überwinden, Zuneigung oder gar Verlangen auch nur vorzutäuschen. Dabei war Grania nicht häßlich. Ihr rundliches Gesicht sah recht hübsch aus, sie hatte große Augen und einen kleinen Mund mit vollen Lippen. Jemand hatte Marius sogar einmal gesagt, sie sei schön. Grania war auch nicht streitsüchtig, im Gegenteil, sie wollte ihm auf jede mögliche Weise gefallen. Das Problem bestand darin, daß sie ihm einfach nicht gefiel, er wußte selbst nicht warum, auch wenn sie seinen Becher mit einem Aphrodisiakum gefüllt oder einen der neuerdings beliebten Kurse für erotische Tänze besucht hätte.
In den ersten fünfzehn Jahren ihrer Ehe hatte sie sich große Mühe gegeben, ihre Figur zu behalten, die wirklich nicht schlecht war - sie hatte volle Brüste, eine schmale Taille und kurvige Hüften. Sie bürstete ihr dunkles Haar nach der Wäsche in der Sonne, bis es einen rötlichen Schimmer bekam, zog ihre sanften braunen Augen mit schwarzem stibium nach und achtete darauf, jeden Geruch von Schweiß oder Menstruation zu vermeiden.
Als Marius an diesem Abend im frühen Januar nach Hause kam, hatte er sich verändert: Er hatte endlich eine Frau gefunden, die ihm gefiel, und er freute sich auf die Ehe, auf ein gemeinsames Leben mit ihr. Grania war prosaisch, ungebildet, häuslich und strotzte vor Gesundheit, die ideale Frau eines Landadligen. Julia dagegen war eine echte Aristokratin und majestätische Erscheinung, hochgebildet und politisch interessiert, die ideale Frau eines römischen Konsuls. Bei seiner Verlobung mit Grania hatte seine Familie angenommen, daß er das Leben eines Landadligen führen würde, aber Gaius Marius war ein Adler, der aus dem Käfig der arpinischen Familie ausbrechen wollte. Er hatte es weit gebracht und war entschlossen, noch höher aufzusteigen, besonders jetzt, nachdem ihm eine Julia aus dem Patriziergeschlecht der Julier versprochen worden war. Das war die Frau, die er sich gewünscht hatte. Das war die Frau, die er brauchte.
»Grania!« Er ließ die schwere Toga auf den prächtigen Mosaikboden des Atriums gleiten und trat darüber hinweg, bevor noch ein Diener herbeieilen und sie ihm abnehmen konnte.
»Ja, Liebster?« Sie eilte ihm aus ihrem Zimmer entgegen, und hinter ihr fielen Nadeln, Broschen und Krümel zu Boden. Sie war füllig geworden, viel zu füllig, denn sie tröstete sich mit zu vielen Süßigkeiten und Feigen über ihre bittere Einsamkeit hinweg.
»Im tablinum, bitte«, sagte er über die Schulter und marschierte voraus.
Sie trippelte hinter ihm her.
»Schließ die Tür«, sagte er und ließ sich auf seinem Lieblingsstuhl hinter dem großen Schreibtisch nieder. Grania mußte wie ein Klient auf der anderen Seite der in Gold gefaßten Tischplatte aus poliertem Malachit Platz nehmen.
»Ja, Liebster?« fragte sie noch einmal arglos. Er hatte sich ihr gegenüber nie absichtlich roh verhalten, und abgesehen davon, daß er sie vernachlässigte, hatte er sie nie schlecht behandelt.
Marius legte die Stirn in Falten, seine Hände spielten mit einem Abakus aus Elfenbein. Grania hatte diese Hände immer geliebt, denn sie waren feingliedrig und stark zugleich, mit breiten Handflächen und langen Fingern. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn an - ihn, den Fremden, mit dem sie seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war. Ein gutaussehender Mann, lautete auch jetzt ihr Urteil, und sie stand damit keineswegs allein. Liebte sie ihn noch immer? Nach fünfundzwanzig Jahren glichen ihre Gefühle für ihn einem komplizierten Gewebe ohne jegliches Muster: Wut, Schmerz, Verwirrung, Abneigung, Trauer, Selbstmitleid - oh, so viele Gefühle! Grania war jetzt fünfundvierzig Jahre alt, und sie menstruierte nur noch unregelmäßig, denn ihr armer, unfruchtbarer Schoß verdorrte. Wenn es ein Gefühl gab, das sie beherrschte, dann diese niederdrückende, ausweglose Enttäuschung. Sie hatte sogar begonnen, Vediovis, dem Gott der Enttäuschungen, Opfer darzubringen.
Marius öffnete die Lippen. Sie waren ursprünglich voll und sinnlich gewesen, doch er hatte ihnen eine soldatische Strenge anerzogen, noch bevor Grania ihn kennengelernt hatte. Grania beugte sich leicht vor, damit ihr nichts entging, jede Faser ihres Körpers gespannt.
»Ich lasse mich von dir scheiden«, sagte er. Er reichte ihr ein Stück Pergament, auf das er am Morgen die Scheidungserklärung geschrieben hatte.
Seine Worte drangen kaum zu ihr durch. Sie breitete das dicke und leicht übel riechende Viereck aus glatter Haut auf der Tischplatte aus und las es mit alterssichtigen Augen durch. Dann blickte sie auf.
»Das habe ich nicht verdient«, sagte sie dumpf.
»Ich bin anderer Meinung«, erwiderte er.
»Weshalb? Was habe ich getan?«
»Du hast als Ehefrau nicht zu mir gepaßt.«
»Und du hast fünfundzwanzig Jahre gebraucht, um das herauszufinden?«
»Nein. Ich wußte es von Anfang an.«
»Warum hast du dich dann nicht schon früher von mir getrennt?«
»Damals erschien es mir nicht wichtig.«
Oh, ein Schmerz nach dem anderen, eine Beleidigung nach der anderen! Das Pergament zitterte in ihrer Hand. Sie warf es auf den Tisch und ballte die Hände zu kleinen, harten Fäuste.
»Ja, das glaube ich dir! « sagte sie, und ihre Resignation schlug in Wut um. »Ich war dir nie wichtig. Nicht einmal wichtig genug, um dich von mir zu trennen. Warum also ausgerechnet jetzt?«
»Ich will mich wieder verheiraten.«
Granias Wut wich ungläubigem Staunen. Sie starrte ihn an. »Du?«
»Ja, ich. Man hat mir die Ehe mit einem Mädchen aus einem sehr alten Patriziergeschlecht angeboten.«
»Jetzt hör aber auf, Marius! Wird der große Verächter plötzlich zum großen Aristokraten?«
»Ich glaube nicht«, sagte er gleichmütig. Es war ihm unbehaglich zumute, doch er verbarg dies ebenso geschickt wie seine Schuldgefühle. »Es ist ganz einfach. Diese Ehe bedeutet, daß ich doch noch Konsul werden kann.«
Das Feuer ihrer Zornes erlosch, ausgeblasen vom kalten Wind der Logik. Was konnte sie dagegen sagen? Wie konnte sie ihm Vorwürfe machen? Sie wußte, daß er als Politiker chancenlos war und nur geringes Ansehen genoß, obwohl er nie mit ihr darüber gesprochen hatte. Sie hatte um ihn geweint, hatte sich für ihn verzehrt und gewünscht, sie könnte den Makel ausmerzen und ihn in den Augen des römischen Adels gesellschaftsfähig machen. Doch was konnte sie schon ausrichten, sie, eine Grania aus Puteoli? Sie war so wohlhabend, angesehen und von makelloser Ehre, wie eine Ehefrau nur sein konnte, aber es fehlte ihr an Beziehungen. Marius war ein Landadliger und sie die Tochter eines Kaufmanns aus der Campania. In den Augen des städtischen römischen Adels gehörte sie der untersten Klasse an. Bis vor kurzem hatte ihre Familie nicht einmal die Bürgerrechte besessen.
»Das also ist der Grund«, sagte sie tonlos.
Marius hatte genügend Mitgefühl, um nichts mehr hinzuzufügen und seine Erregung vor ihr zu verbergen, jenes glühende, kleine Körnchen Liebe, das in seinem kühlen Herzen neue Triebe hervorbrachte. Sollte sie doch denken, daß es nur eine politische Zweckheirat war.
»Es tut mir wirklich leid, Grania«, sagte er sanft.
»Mir auch, mir auch«, murmelte sie vor sich hin. Sie begann wieder zu zittern, doch diesmal zitterte sie, weil sie ihre Zukunft vor sich sah - eine noch größere und noch unerträglichere Einsamkeit als bisher. Ein Leben ohne Gaius Marius? Undenkbar.
»Die Verbindung wurde mir angeboten, ich habe mich nicht selbst darum bemüht, falls dir das ein Trost ist.«
»Wer ist das Mädchen?«
»Die ältere Tochter des Gaius Julius Caesar.«
»Eine Julia! Du willst hoch hinaus! Du wirst bestimmt Konsul, Gaius Marius.«
»Ja, das glaube ich auch.« Nervös spielte er mit seiner Lieblingsschreibfeder aus Schilfrohr, mit der kleinen Porphyrflasche, die den Löschsand enthielt, und mit dem Tintenfaß aus poliertem Amethyst. »Du wirst selbstverständlich deine Mitgift zurückerhalten. Das ist mehr als genug für deine Bedürfnisse. Ich habe das Geld in profitablere Unternehmen gesteckt als dein Vater, und da du es nie angerührt hast, ist daraus ein stattliches Vermögen geworden.« Er räusperte sich. »Ich nehme an, daß du in der Nähe deiner Familie wohnen willst, aber in deinem Alter ist es wohl vernünftig, wenn du in einem eigenen Haus wohnst. Besonders jetzt, da dein Vater tot und dein Bruder pater familias ist.«
»Du hast nie oft genug mit mir geschlafen, um mir ein Kind zu schenken«, sagte sie. Der Schmerz ihrer Einsamkeit drohte sie zu überwältigen. »Ich wünschte so sehr, ich hätte ein Kind!«
»Ich bin verdammt froh, daß du keins hast! Dann wäre unser Sohn mein Erbe, und meine Heirat mit Julia hätte nicht dieselbe Bedeutung.« In verändertem Ton fügte Marius hinzu: »Sei vernünftig, Grania! Unsere Kinder wären jetzt längst erwachsen und würden ihr eigenes Leben führen. Sie wären kein Trost für dich.«
»Wenigstens hätte ich Enkel«, sagte sie. Die Tränen schossen ihr in die Augen. »Dann wäre ich nicht so allein! «
»Ich habe dir schon vor Jahren geraten, dir einen kleinen Schoßhund zu kaufen!« Er sagte es nicht unfreundlich, er meinte es aufrichtig gut. Ein noch besserer Rat fiel ihm ein: »Du solltest wieder heiraten! «
»Niemals!« rief sie.
Marius zuckte mit den Schultern. »Wie du willst. Aber um auf deine künftige Wohnung zurückzukommen: Ich bin bereit, eine Villa am Meer bei Cumae zu kaufen und sie für dich einzurichten. Von Cumae aus ist Puteoli mit der Sänfte gut zu erreichen. Puteoli liegt nahe genug, daß du deine Familie ab und zu für ein oder zwei Tage besuchen kannst, und es ist weit genug entfernt, daß du deine Ruhe hast.«
Alle Hoffnung war verflogen. »Danke, Gaius Marius.«
»Du brauchst dich nicht zu bedanken!« Er stand auf, ging um den Tisch und half ihr mit einem unpersönlichen Griff am Ellbogen aus dem Stuhl. »Sag jetzt dem Verwalter Bescheid. Denk auch darüber nach, welche Sklaven du mitnehmen willst. Einer meiner Agenten wird morgen in Cumae nach einer passenden Villa suchen.
Das Haus wird natürlich mir gehören, aber ich werde dir ein lebenslanges Wohnrecht einräumen - oder bis du wieder heiratest. Schon gut, schon gut! Ich weiß, daß du nicht mehr heiraten willst, aber unternehmungslustige Freier werden dich umschwirren wie die Fliegen einen Honigtopf. Du bist reich.« Sie hatten die Tür zu Granias Zimmer erreicht. Er blieb stehen und zog seine Hand zurück. »Es wäre mir recht, wenn du bis übermorgen ausziehen würdest. Am besten vormittags. Ich denke, Julia wird im Haus manches verändern wollen, bevor sie einzieht. Wir werden in acht Wochen heiraten, es bleibt mir also nicht mehr viel Zeit für all die Veränderungen. Deshalb also - übermorgen früh.«
Sie wollte ihn noch etwas fragen - irgend etwas -, aber er hatte sich bereits abgewandt und sich entfernt.
»Mit dem Essen brauchst du nicht auf mich zu warten«, rief er über die Schulter zurück, während er das geräumige Atrium durchquerte. »Ich treffe mich mit Publius Rutilius und werde wahrscheinlich erst zurückkommen, wenn du schon schläfst.«
Das also war das Ende. Ihr Herz würde nicht brechen, nur weil sie das Wohnrecht in dieser riesigen Scheune verloren hatte. Sie hatte das Haus immer gehaßt, und sie haßte auch das hektische Leben der Stadt Rom. Sie nickte dem Sklaven zu, der an der Wand vor ihrem Zimmer stand. »Hole mir sofort den Verwalter«, befahl sie.
Der Verwalter war ein majestätischer Grieche aus Korinth. Er hatte es geschafft, eine gute Ausbildung zu bekommen, und hatte sich dann selbst in die Sklaverei verkauft, in der Hoffnung, reich und irgendwann römischer Bürger zu werden.
»Strophantes, der Herr will sich von mir trennen«, sagte sie ohne Schamgefühle, denn sie empfand keine Scham. »Ich muß bis übermorgen früh ausziehen. Du wirst das Packen übernehmen.«
Der Verwalter zeigte nicht, wie erstaunt er war, sondern verneigte sich lediglich. Er hatte nicht erwartet, daß diese Ehe durch etwas anderes als den Tod geschieden würde, denn sie war eher von einer dumpfen Erstarrung gekennzeichnet gewesen als von jenem bitteren Kampf, der gewöhnlich zu Scheidungen führte.
»Welche Diener willst du mitnehmen, domina?« fragte er. Er war sicher, daß er im Hause bleiben würde, denn er gehörte Gaius Marius, nicht Grania.
»Den Koch auf jeden Fall. Und das gesamte Küchenpersonal, sonst wäre der Koch unglücklich. Dann meine Dienerinnen, meine Schneiderin, meine Friseuse, meine Badesklaven und meine beiden Leibsklaven.« Sonst fiel ihr niemand ein, den sie brauchte und den sie mochte.
»Gewiß, domina.« Strophantes ging. Er konnte es kaum erwarten, der übrigen Dienerschaft die Neuigkeit mitzuteilen. Ganz besonders freute er sich auf das Gesicht des Kochs, wenn er erfuhr, daß er ausziehen mußte. Diesem eingebildeten Meister der Töpfe würde es ganz bestimmt nicht gefallen, daß er Rom gegen Puteoli eintauschen sollte!
Grania betrat ihr geräumiges Zimmer und blickte sich in dem vertrauten Durcheinander um, sah ihre Farben und ihren Nähkasten und die mit Nägeln besetzte Truhe, in der sich die Babyausstattung befand, die sie so hoffnungsvoll zusammengetragen und dann nie benutzt hatte.
Da Römerinnen ihre Möbel weder selbst auswählten noch kauften, würde Marius ihr nichts mitgeben. Ihre Augen hellten sich ein wenig auf, die Tränen versiegten. Gleich morgen würde sie Möbel für ihre neue Villa kaufen gehen! Wie angenehm es war, daß endlich sie auswählen konnte, was ihr gefiel! Morgen würde also ein geschäftiger Tag werden, keine Zeit für Gedanken, keine leeren, traurigen Stunden.
»Berenice!« Als das Mädchen erschien, sagte Grania: »Ich werde jetzt essen. Sag bitte in der Küche Bescheid.«
In dem Durcheinander auf ihrem Arbeitstisch fand sie ein Stück Papier, nach dem Essen wollte sie darauf ihre Einkaufsliste zusammenstellen. Marius hatte doch noch etwas anderes erwähnt - ja, richtig: der kleine Schoßhund. Morgen würde sie einen kleinen Schoßhund kaufen; er würde ganz oben auf ihrer Liste stehen.
Granias Euphorie hielt an, bis sie ihre einsame Mahlzeit fast beendet hatte. Dann schlug der Schock in Trauer um. Sie fuhr sich mit den Händen in die Haare und zerrte und zog wie wild daran. Ihr Mund öffnete sich zu einem langen, schrillen Heulen, die Tränen brachen in Strömen hervor. Die Diener entfernten sich. Einsam heulte sie im Eßzimmer in den golden und purpurrot gewirkten Bezug ihres Sofas.
»Hör dir das an!« sagte der Koch in der Küche bitter. Er war dabei, seine verschiedenen Pfannen, Töpfe und Küchengerate einzupacken. »Warum heult sie denn? Eigentlich muß doch ich ins Exil - sie lebt doch schon seit Jahren im Exil, die blöde alte Kuh! «
Am Neujahrstag wurde die römische Provinz Africa durch ein Dokument der Statthalterschaft des Konsuls Spurius Postumius Albinus unterstellt. Kaum vierundzwanzig Stunden später ergriff Postumius erstmals öffentlich für den Prinzen Massiva von Numidien Partei.
Spurius Albinus hatte einen zehn Jahre jüngeren Bruder mit Namen Aulus Albinus, der seit kurzem dem Senat angehörte und begierig war, sich einen Namen zu machen. Während sich Spurius Albinus eifrig für seinen neuen Klienten Prinz Massiva einsetzte, wurde Aulus Albinus damit beauftragt, Prinz Massiva in der Stadt herumzuführen und allen bedeutenden Römern vorzustellen. Wie die meisten Mitglieder des numidischen Königshauses war auch Massiva ein wohlproportionierter, gutaussehender Semit, der sehr charmant sein konnte und großzügig mit Geschenken war.
Am Ende der ersten Woche des neuen Jahres trug Aulus Albinus dem Senat offiziell den Fall des Prinzen Massiva vor und forderte in dessen Namen den numidischen Thron für den legitimen Zweig der Familie. Es war Aulus Albinus’ Jungfernrede, und es war eine gelungene Rede. Marcus Aemilius Scaurus befürwortete Massivas Anliegen. Dies, sagte er, sei die Antwort auf die lästige Frage, was man mit Numidien anfangen solle. Das Land könne wieder auf den rechten Weg gebracht werden, wenn man dort einen rechtmäßigen König einsetze. Als Spurius Albinus die Sitzung beendete, schien der Senat entschlossen, den herrschenden König abzusetzen und an seiner Stelle Massiva anzuerkennen.
»Das Wasser steht uns bis zum Hals«, sagte Bomilkar zu Jugurtha. »Plötzlich werde ich nicht mehr zum Essen eingeladen, und unsere Agenten finden niemanden mehr, der ihnen auch nur zuhören will. «
»Wann findet die Abstimmung im Senat statt?« fragte der König. Seine Stimme klang ruhig und gelassen.
»Die nächste Sitzung soll am vierzehnten Tag vor den Kalenden des Februars stattfinden - morgen in sieben Tagen.«
Der König richtete sich auf. »Sie werden gegen mich stimmen, nicht wahr?«
»Ja, Herr«, sagte Bomilkar.
»In diesem Fall ist es zwecklos, daß ich weiter versuche, mein Anliegen auf die römische Art durchzusetzen.« Jugurtha schien auf einmal zu wachsen, und eine furchteinflößende Majestät ging von ,hin aus. »Von jetzt ab handle ich auf meine Weise - auf numidische Weise.«
Der Regen hatte aufgehört, eine kalte Sonne schien. Jugurthas Körper verlangte nach den wärmeren Winden Numidiens, nach der freundlichen und uneigennützigen Geborgenheit seines Harems, doch sein Verstand verlangte nach der rücksichtslosen Logik numidischen Handelns.
Ruhelos schritt er den Säulengang auf und ab, der den riesigen Garten umgab. Dann winkte er Bomilkar zu sich und trat mit ihm zu dem laut plätschernden Brunnen in der Mitte des Gartens.
»Hier kann uns nicht einmal ein Vogel hören«, sagte er.
Bomilkar erstarrte und wappnete sich innerlich.
»Massiva muß verschwinden«, sagte der König.
»Hier? Mitten in Rom?«
»Ja, und zwar innerhalb von sieben Tagen. Wenn Massiva tot ist, kann es keine Abstimmung geben. Wir würden Zeit gewinnen.«
»Ich selbst werde ihn töten«, sagte Bomilkar.
Jugurtha schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein! Der Attentäter muß ein Römer sein. Deine Aufgabe ist es, einen Römer zu finden, der die Sache für uns erledigt.«
Bomilkar starrte den König entsetzt an. »Mein Herr und König, wir sind in einem fremden Land! Wir wissen nicht, wo und wie so etwas zu tun ist, und schon gar nicht, wer es tun könnte! «
»Frage einen unserer Agenten. Einem können wir doch wohl vertrauen.«
Bomilkar dachte nach. »Agelastus«, sagte er schließlich. »Marcus Servilius Agelastus, der Mann, der nie lächelt. Sein Vater ist Römer. Marcus ist hier geboren und aufgewachsen, aber mit dem Herzen hängt er an seiner numidischen Mutter, da bin ich ganz sicher.«
»Ich überlasse alles dir. Handle!« Der König entfernte sich über den Gartenpfad.
Agelastus war entsetzt. »Hier? In Rom?«
»Nicht nur hier, sondern auch innerhalb der nächsten sieben Tage«, sagte Bomilkar. »Wenn der Senat zugunsten von Massiva abstimmt - und das wird er sicherlich -, bricht in Numidien der Bürgerkrieg aus.«
»Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich einen Attentäter finden kann!«
»Dann mach es selbst.«
»Das kann ich nicht!« jammerte Agelastus.
»Es muß sein! « beharrte Bomilkar. »In einer so großen Stadt wie Rom gibt es doch sicher eine Menge Leute, die für gute Bezahlung morden würden! «
»Natürlich gibt es sie! Die Hälfte des Mobs wäre bereit dazu. Aber ich habe keine Verbindungen zu diesen Kreisen, ich kenne keine Plebejer! Ich kann mich schließlich nicht an den erstbesten Mann heranmachen, ihm einen Beutel Gold unter die Nase halten und ihn bitten, dafür einen numidischen Prinzen zu töten!« Agelastus stöhnte.
»Warum nicht?« fragte Bomilkar.
»Er könnte mich beim Stadtprätor anzeigen, deshalb!«
»Wenn du ihm zuerst das Gold zeigst, tut er das nicht, das verspreche ich dir! In dieser Stadt hat jeder seinen Preis.«
»Das kann schon sein, Herr«, erwiderte Agelastus. »Aber ich habe keine Lust, deine Theorie zu überprüfen.«
Und Agelastus blieb bei seiner Weigerung.
Die Subura war der Sumpf von Rom, deshalb machte sich Bomilkar dorthin auf den Weg, unauffällig gekleidet und ohne die Begleitung eines Sklaven. Er war wie jeder andere Besucher Roms gewarnt worden, sich in das Tal nordöstlich des Forum Romanum zu begeben, und jetzt verstand er, warum. Die Straßen der Subura waren nicht enger als die auf dem Palatin, und die Gebäude waren auch nicht so bedrückend hoch wie auf dem Viminal und dem oberen Esquilin. Nein, was dem Neukömmling in der Subura auffiel, waren die Menschen, mehr Menschen, als Bomilkar jemals gesehen hatte. Sie lehnten aus tausend Fenstern und schrieen einander zu, sie schoben sich in einer so dichten Masse von Körpern durch die Gassen, daß man nur noch im Schneckentempo vorankam, sie spuckten und pißten und begannen Streit mit jedem, der sie nur schräg ansah.
Der zweite Eindruck war ein alles beherrschender Geruch, ein entsetzlicher Gestank. Schmutz und Gestank bedrängten Bomilkar auf seinem Weg vom zivilisierten Argiletum zu den Fauces Suburae, dem ersten Abschnitt der Hauptstraße. Warum hatte man letztes Jahr nicht den ganzen Bezirk einfach abbrennen lassen, statt so sehr um seine Rettung zu kämpfen? Nichts und niemand in der Subura war es wert, gerettet zu werden! Immer tiefer drang er in das Gewirr der Gassen ein. Seine Abscheu wurde immer mehr zu Staunen, denn nun erkannte er die Vitalität der Einwohner und begegnete einer Fröhlichkeit, die sein Begriffsvermögen überstieg.
Die Sprache, die er vernahm, war ein bizarres Kauderwelsch aus Latein, Griechisch und einigen Wörtern Aramäisch, ein Jargon, den wahrscheinlich niemand verstand, der nicht in der Subura lebte. Bomilkar jedenfalls, der das übrige Rom ausgiebig durchstreift hatte, konnte sich an nichts Vergleichbares erinnern.
Überall gab es Läden, kleine Imbißstuben, die offenbar florierten - es schien genügend Geld im Umlauf. Dazwischen sah er Bäckereien, Metzgereien, Weinstuben und andere kleine Geschäfte, in denen alle möglichen Artikel verkauft wurden - vom Garn über Kochtöpfe und Lampen bis hin zu Talgkerzen. Es gab auch Fabriken. Bomilkar hörte Pressen stampfen, Mühlräder knirschen und Webstühle klappern, und der Lärm der Fabriken vermischte sich mit weiteren Geräuschen, die aus dem unergründlichen Gewirr dunkler Nebengassen und vielstöckiger Wohngebäude drangen. Wie konnten Menschen inmitten dieses Getümmels leben? Auch die kleinen Plätze an den größeren Kreuzungen waren dicht mit Menschen besetzt. Bomilkar bemerkte erstaunt, daß sie es sogar schafften, in den Brunnen ihre Wäsche zu waschen oder Wassereimer nach Hause zu schleppen.
Anderswo sah er freilich auch Männer tatenlos herumsitzen, trinken und sich die Zeit vertreiben. Solche Orte schienen hauptsächlich an den großen Durchgangsstraßen zu liegen, aber er war sich nicht ganz sicher, da er nicht wagte, die Hauptstraße zu verlassen. In den düsteren Höhlen der Tavernen an den Kreuzungen herrschte relative Ruhe. Bomilkar war ein großer, kräftiger Mann, und er erkannte, daß er sich in eine Taverne wagen mußte, wenn er weiterkommen wollte. Schließlich war er in die Subura gekommen, um einen römischen Attentäter zu finden, und das hieß, daß er mit Einheimischen ins Gespräch kommen mußte.
Er bog von der Subura Major in den Vicus Patricii ein, eine Hauptstraße, die zum Viminal führte, und fand eine Taverne an einem dreieckigen Platz, an dem die Subura Minor und der Vicus Patricii zusammenliefen. Die Tür war so niedrig, daß er den Kopf einziehen mußte. Als er eintrat, drehten sich alle Anwesenden nach ihm um. Es befanden sich ungefähr fünfzig Personen in dem Raum.
Das Stimmengewirr verstummte.
»Entschuldigt bitte«, sagte Bomilkar. Ohne sich seine Nervosität anmerken zu lassen, blickte er sich um. Wer führte hier wohl das Kommando? Nach der ersten Überraschung über das Auftauchen des Fremden schauten alle auf einen Mann in der linken hinteren Ecke, der aussah wie ein Anführer. Er hatte ein eher römisches als griechisches Gesicht, war klein und ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Bomilkar musterte ihn. Da er kein Latein konnte, mußte er sich mit Griechisch behelfen.
»Entschuldigt bitte«, wiederholte er. »Ich hoffe, ich störe hier nicht. Ich suche nach einer Taverne, in der ich mich ein wenig ausruhen und einen Becher Wein bekommen kann. Gehen macht durstig.«
»Das hier ist ein privater Verein, Freund«, sagte der Anführer in fürchterlich gebrochenem, aber gerade noch verständlichem Griechisch.
»Gibt es keine öffentlichen Tavernen?« fragte Bomilkar.
»Nicht in der Subura, Freund. Du bist hier am falschen Ort. Geh zur Via Nova zurück.«
»Ich kenne die Via Nova, aber ich bin fremd in Rom. Ich denke immer, daß ich eine Stadt erst richtig kenne, wenn ich in dem Viertel war, das am dichtesten bevölkert ist.« Bomilkar versuchte, einfältig wie ein Tourist und unwissend wie ein Fremder zu erscheinen.
Der Anführer betrachtete ihn mit schlauer Berechnung von oben bis unten. »Du bist also so durstig wie wir, Freund?«
Bomilkar griff das Stichwort dankbar auf. »Durstig genug, um eine Runde auszugeben.«
Der Anführer stieß den neben ihm sitzenden Mann vom Stuhl und schlug mit der Hand darauf. »Wenn meine ehrbaren Kumpel einverstanden sind, ernennen wir dich vielleicht zum Ehrenmitglied.« Er blickte sich um. »Wer damit einverstanden ist, daß dieser Herr Ehrenmitglied wird, sagt ja.«
»Ja! « tönte es im Chor.
Bomilkar sah weder eine Theke noch einen Wirt. Er atmete tief ein und warf seine Börse auf den Tisch, so daß ein paar silberne Denare herausrollten. Entweder würden sie ihn jetzt töten und sein Geld nehmen, oder er war tatsächlich Ehrenmitglied geworden. »Darf ich?« fragte er den Anführer.
»Bromidus, hol eine schöne, große Flasche für den Herrn und die Mitglieder«, sagte der Anführer zu dem Mann, den er vom Stuhl gestoßen hatte. »Unsere Weinstube ist gleich nebenan«, erklärte er.
Bomilkar nahm noch ein paar Denare aus der Börse. »Ist das genug?«
»Für eine Runde ist es genug, Freund.«
Bomilkar schüttelte noch einige Münzen auf den Tisch. »Wie wär’s gleich mit mehreren Runden?«
Ein allgemeines Aufseufzen war zu vernehmen. Bromidus nahm das Geld und verschwand durch die Tür. Drei eifrige Helfer folgten ihm. Bomilkar streckte dem Anführer sein Hand hin.
»Ich heiße Juba«, sagte er.
»Lucius Decumius«, stellte sich der Anführer vor und schüttelte kräftig die dargebotene Hand. »Juba! Was für ein Name ist das denn?«
»Mauretanisch. Ich komme aus Mauretanien.«
»Maure-was? Wo ist das?«
»In Africa.«
»Africa?« Wenn Bomilkar das sagenhafte Land der Hyperboreer genannt hätte, hätte das Decumius Lucius ebensoviel - oder ebensowenig - bedeutet.
»Das ist weit weg von Rom«, erklärte das neue Ehrenmitglied. »Westlich von Karthago.«
»Ach, Karthago! Warum sagst du das nicht gleich?« Lucius Decumius starrte das Gesicht dieses interessanten Fremden an. »Ich habe nicht gewußt, daß Scipio Aemilianus einen von euch am Leben gelassen hat.«
»Hat er auch nicht. Mauretanien ist nicht Karthago, sondern liegt weiter westlich«, erklärte Bomilkar geduldig. »Was früher Karthago hieß, ist jetzt die Römische Provinz Africa. Dorthin geht der diesjährige Konsul - du weißt, Spurius Postumius Albinus.«
Lucius Decumius zuckte die Schultern. »Konsul? Die kommen und gehen, Freund. In der Subura macht das keinen Unterschied, sie leben nicht hier, verstehst du. Solange du zugibst, daß Rom die Welt beherrscht, Freund, bist du hier in der Subura willkommen. Das gilt auch für die Konsuln.«
»Glaub mir, ich weiß, daß Rom über die Welt herrscht«, sagte Bomilkar im Brustton der Überzeugung. »Mein Herr - König Bocchus von Mauretanien - hat mich nach Rom geschickt. Ich soll den Senat bitten, ihn zum Freund und Verbündeten des Volkes von Rom zu ernennen.«
In diesem Moment kam Bromidus mit einem riesigen Krug zurück, gefolgt von seinen drei Helfern, die ebenfalls große Krüge trugen. Sie machten sich sogleich daran, den Inhalt unter den Anwesenden zu verteilen, und bald stand ein randvoll gefüllter Becher vor Bomilkar. Er hob ihn hoch und brachte einen Trinkspruch aus: »Für die besten Freunde, die ich bisher in Rom gefunden habe.« Dann schüttete er den furchtbaren Rebensaft hinunter. Oh ihr Götter! Die Eingeweide dieser Männer mußten aus Stahl sein.
»Auf dein Wohl, Juba, alter Freund!« sagte Decumius.
»Juba!« brüllten die anderen im Chor. Sie waren in guter Stimmung.
In der nächsten halben Stunde erfuhr Bomilkar mehr über das plebejische Rom, als er sich je hätte träumen lassen. Alle Mitglieder des Vereins waren Arbeiter. Einige von ihnen, ungefähr ein Viertel, trugen kleine, konische Kappen auf dem Hinterkopf, die sie als Freigelassene kennzeichneten. Bomilkar erfuhr zu seinem Erstaunen, daß einige der übrigen Männer noch immer Sklaven waren, obwohl sie den anderen gleichgestellt schienen, dieselben Arbeiten verrichteten, denselben Lohn erhielten und dieselbe Arbeitszeit und Freizeit hatten. Er begann den Unterschied zwischen einem Sklaven und einem Freien zu verstehen: Ein freier Mann konnte gehen, wohin er wollte, und Wohnung und Arbeit frei wählen. Ein Sklave hingegen gehörte seinem Besitzer, war dessen Eigentum, konnte also sein eigenes Leben nicht bestimmen. Das war ganz anders als die Sklaverei in Numidien.
Lucius Decumius arbeitete, anders als die übrigen Mitglieder, nur für den Verein.
»Ich bin der Vereinsvorsteher«, sagte er, noch immer genauso nüchtern wie beim ersten Schluck.
»Was für ein Verein ist das hier eigentlich?« fragte Bomilkar, der versuchte, seinen Becher so langsam wie möglich zu leeren.
»Klar, daß du das nicht weißt«, sagte Lucius Decumius. »Wir sind ein Kreuzwegverein. Eine richtige Bruderschaft, eigentlich sogar eine Art Schule. Wir sind bei den Ädilen und beim Stadtprätor registriert, und der Pontifex Maximus hat uns seinen Segen gegeben. Vereine an Straßenkreuzungen gab es schon zu Zeiten der Könige, bevor Rom eine Republik wurde. Heute ist an den Kreuzungen wichtiger Straßen viel los. An richtigen compita, meine ich, nicht an kleinen Nebensträßchen und Gassen. Ja, an den Kreuzungen ist viel los. Stell dir mal vor, du bist ein Gott und schaust auf Rom herunter. Da müßtest du doch auch überlegen, wohin du nun deinen Blitz schleudern willst. Von oben ist Rom ein großer Haufen roter Dächer, die so eng beieinanderliegen wie Mosaiksteinchen. Aber wenn du genau hinschaust, siehst du die freien Stellen, wo sich die großen Straßen kreuzen. Das sind die compita, wie wir hier draußen eine haben. Wenn du ein Gott wärst, würdest du deinen Blitz wahrscheinlich genau dorthin schleudern, stimmt’s? Nur - wir Römer sind klug. Die Könige haben gemerkt, daß wir uns an den Kreuzwegen ganz besonders schützen müssen. Deshalb wurden sie unter den Schutz der Laren gestellt. An jedem Kreuzweg hat man Schreine für sie gebaut, noch bevor es die Brunnen gab. Hast du den Schrein draußen an der Wand des Vereinshauses nicht gesehen? Das kleine, einfache Türmchen?«
»Doch ich habe es gesehen.« Bomilkar war inzwischen ganz verwirrt. »Wer sind diese Laren? Wie viele gibt es denn davon?«
»Oh, Laren gibt es überall - Hunderte, Tausende«, sagte Decumius vage. »Rom ist voll von Laren. Italien auch, sagen manche, aber ich war noch nie in Italien. Hier sind sie jedenfalls überall, wo man sie braucht, und wir, die Vereine an den Kreuzwegen, kümmern uns um sie. Wir halten den Schrein in Ordnung und sorgen für die Opfergaben, wir reinigen den Brunnen, wir schieben zerbrochene Wagen weg und beseitigen die Kadaver, meistens Tiere, und schaffen den Schutt weg, wenn ein Haus einstürzt. Und an Neujahr feiern wir ein großes Larenfest, die compitalia. Das letzte Fest war erst vor ein paar Tagen, deshalb haben wir jetzt kein Geld mehr für Wein. Wir haben alles ausgegeben. Es dauert eine Welle, bis wir wieder etwas zusammengespart haben.«
»Jetzt wird mir vieles klar«, sagte Bomilkar, dem allerdings nichts klar wurde, denn die alten römischen Götter stellten für ihn ein unlösbares Rätsel dar. »Müßt ihr das Fest ganz allein bezahlen?«
»Ja und nein«, sagte Lucius Decumius. »Der Stadtprätor gibt uns ein wenig Geld, genug für ein paar Spanferkel - je nachdem, wer gerade Stadtprätor ist. Manche sind sehr großzügig, andere sind so geizig, daß sie nicht mal ihre Scheiße umsonst stinken lassen wollen.«
Dann wandte sich das Gespräch dem Leben in Karthago zu. Es war unmöglich, den neugierigen Fragern klarzumachen, daß es in Africa noch andere Orte außer Karthago gab. Ihr Wissen über Geschichte und Geographie schien sich auf das zu beschränken, was sie bei ihren gelegentlichen Besuchen auf dem Forum Romanum hörten, und das Forum Romanum suchten sie höchstens dann auf, wenn politische Unruhen eine Zirkusatmosphäre erwarten ließen.
Ihr Bild von Roms politischem Leben war deshalb ziemlich einseitig. Der Höhepunkt schienen die Ereignisse gewesen zu sein, die Gaius Sempronius Gracchus das Leben gekostet hatten.
Bomilkar hielt den richtigen Moment für gekommen. Die Mitglieder des Vereins hatten sich so an seine Gegenwart gewöhnt, daß sie ihn kaum mehr bemerkten, außerdem hatten sie zuviel Wein getrunken. Nur Lucius Decumius war noch immer nüchtern und hielt die wachen, neugierigen Augen ständig auf Bomilkar gerichtet. Sicher kein Zufall, daß sich dieser Juba hier mit dem Mob an einen Tisch setzte. Der führte etwas im Schilde.
»Lucius Decumius«, sagte Bomilkar und beugte sich so nahe zu dem Römer, daß nur er ihn verstehen konnte. »Ich bin in Schwierigkeiten. Ich hoffe, du kannst mir sagen, wie ich sie lösen soll.«
»Ja, mein Freund?«
»Mein Herr, König Bocchus, ist sehr reich.«
»Wenn er ein König ist, muß er ja wohl reich sein.«
»Aber er weiß nicht, wie lange er noch König bleiben wird«, sagte Bomilkar langsam. »Das ist sein Problem.«
»Und das ist auch dein Problem, Freund?«
»Richtig.«
»Und wie kann ich dir helfen?« Decumius fischte eine Zwiebel aus der Schale mit eingelegtem Gemüse, die auf dem Tisch stand, und begann nachdenklich zu kauen.
»In Africa wäre die Lösung einfach. Der König gibt einen Befehl, und der Mann, der das Problem darstellt, wird beseitigt.« Bomilkar verstummte. Jetzt mußte Decumius doch endlich begreifen.
»Aha! Das Problem hat also einen Namen?«
»Richtig. Massiva.«
»Hört sich jedenfalls mehr wie ein lateinischer Name an als Juba«, sagte Decumius.
»Massiva ist Numider, nicht Mauretanier.« Bomilkar rührte mit einem Finger im Bodensatz seines Weins herum. »Die Schwierigkeit ist nur, daß Massiva hier in Rom lebt. Und uns Ärger macht.«
»Ich verstehe, warum Rom die Sache schwierig macht«, sagte Decumius mehrdeutig.
Bomilkar sah den kleinen Mann verblüfft an. Offenbar verfügte er über einen scharfen Verstand. Bomilkar holte tief Luft. »Für mich ist die Sache besonders gefährlich, weil ich in Rom fremd bin«, sagte er. »Aber ich muß einen Römer finden, der Prinz Massiva töten wird. Hier. In Rom.«
Lucius Decumius zuckte mit keiner Wimper. »Das ist nicht weiter schwer.«
»Nicht schwer?«
»Nein. Für Geld bekommst du in Rom alles, Freund.«
»Dann kannst du mir sagen, wohin ich mich wenden soll?«
»Du brauchst nicht weiter zu suchen, Freund.« Decumius schluckte das letzte Stück Zwiebel hinunter. »Ich würde dem halben Senat die Kehlen durchschneiden, wenn ich dafür statt Zwiebeln Austern zu essen bekäme. Wieviel bringt die Sache denn ungefähr?«
»Wie viele Denare sind in dieser Börse?« Bomilkar leerte sie auf dem Tisch aus.
»Nicht genug.«
»Wie wär’s mit der gleichen Zahl Münzen in Gold?«
Decumius schlug sich klatschend auf die Schenkel. »Jetzt kommen wir der Sache näher! Du hast deinen Partner gefunden, Freund.«
Bomilkars Gehirn raste, jedoch nicht wegen des Weins. Den hatte er in der letzten halben Stunde heimlich auf den Boden geschüttet. »Die Hälfte morgen, die andere Hälfte, wenn der Auftrag ausgeführt ist«, sagte er und wollte die Münzen in die Börse zurückschieben.
Doch eine fleckige Hand mit schmutzigen Nägeln hielt ihn mitten in der Bewegung fest. »Laß das Geld als Vertrauensbeweis hier, Freund. Und komm morgen wieder. Aber warte draußen beim Schrein auf mich. Wir reden dann in meiner Wohnung darüber.«
Bomilkar erhob sich. »Ich werde kommen, Lucius.« Auf dem Weg zur Tür blieb er stehen und starrte in das unrasierte Gesicht des Vereinsvorstehers. »Hast du schon einmal getötet?«
Decumius legte den rechten Zeigefinger an den rechten Nasenflügel. »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, Freund. In der Subura gibt es keine Aufschneider.«
Bomilkar lächelte Decumius zufrieden an und trat in das Menschengewühl der Subura Minor hinaus.
Marcus Livius Drusus feierte seinen Triumph in der Mitte der zweiten Januarwoche. Er war zwei Jahre zuvor Konsul gewesen und zum Statthalter der Provinz Makedonien ernannt worden. Glücklicherweise war seine Statthalterschaft verlängert worden, so daß er einen sehr erfolgreichen Krieg gegen die Skordisker führen konnte, einen geschickten und gut organisierten Keltenstamm, der ständig das römische Makedonien heimsuchte. Es gelang Drusus, einen wichtigen Stützpunkt der Skordisker zu erobern, und dort fand er in einem Versteck einen großen Teil des Skordiskerschatzes. Zwar konnten die meisten Statthalter von Makedonien am Ende ihrer Amtsperiode Triumphe feiern, aber man war sich einig, daß Marcus Livius Drusus diese Ehre mehr verdient hatte als die meisten anderen.
Prinz Massiva war bei den Feierlichkeiten Gast des Konsuls Spurius Postumius Albinus, deshalb wurde ihm im Circus Maximus ein besonders guter Platz zugewiesen, von dem aus er den langen Triumphzug auf seinem Weg durch den Circus verfolgen konnte. Was er sah, versetzte ihn in Erstaunen, obwohl er schon oft gehört hatte, daß die Römer die Kunst spektakulärer Inszenierungen besser als jedes andere Volk beherrschten. Sein Griechisch war natürlich hervorragend, und er hatte alles verstanden, was man ihm vor dem Triumphzug mitgeteilt hatte.
Vom Circus Maximus aus eilten Spurius Albinus und seine Gäste zum Dioskurentempel auf dem Forum Romanum. Die beiden Konsuln und ihre Gäste sollten auf einer Plattform am oberen Ende der Treppe dieses eindrucksvollen Gebäudes sitzen, um von hier den Triumphzug entlang der Via Sacra von der Vella bis hinauf zum Kapitol zu verfolgen. Um den Triumphator nicht zu beleidigen, mußten sie ihre Plätze einnehmen, bevor der Zug ankam.
»Die anderen Magistrate und Senatoren gehen an der Spitze des Zuges«, hatte Spurius Albinus Prinz Massiva erklärt. »Auch die Konsuln des jeweiligen Jahres werden formell eingeladen, am Zug teilzunehmen. Sie werden auch zu dem Fest eingeladen, das der Triumphator danach für den Senat im Tempel des Jupiter Optimus Maximus veranstaltet. Aber es gehört sich nicht, daß sie die Einladungen annehmen. Dies ist der große Tag des Triumphators, er soll die wichtigste Person der Feierlichkeiten mit den meisten Liktoren sein. Deshalb verfolgen die Konsuln die Feierlichkeiten von dieser Tribüne aus. Der Triumphator grüßt sie, wenn er vorbeizieht - doch sie stellen ihn nicht in den Schatten.«
Der Prinz hatte erkennen lassen, daß er verstanden hatte, obwohl er alles sehr verwirrend fand. Im Unterschied zu Jugurtha hatte er keine Erfahrung im Umgang mit Römern.
Als die Konsuln und ihre Gäste an der Stelle anlangten, wo die lange Treppe zum Vestatempel die Via Nova kreuzte, fanden sie ihren Weg durch eine große Menschenmenge versperrt. Hunderttausende von Römern wollten den Triumphzug des Drusus sehen, und die Liktoren hatten Schwierigkeiten, den Ehrengästen den Weg zu bahnen. Bis sie beim Tempel des Castor und Pollux ankamen, hatte sich die Gruppe buchstäblich aufgelöst. Prinz Massiva, der von seinen Leibwächtern begleitet wurde, war so weit zurückgefallen, daß er den Kontakt mit dem Rest der Gruppe völlig verloren hatte.
Massiva war daran gewöhnt, als Hoheit behandelt zu werden, und das grobe, respektlose Benehmen der Menschenmenge machte ihn wütend. Seine Leibwächter wurden beiseite gedrängt, so daß er sie für kurze Zeit aus den Augen verlor.
Auf diesen Augenblick hatte Lucius Decumius gewartet. Er handelte mit absoluter Präzision - schnell, gezielt und für Massiva völlig überraschend. Als die Menge Decumius gegen Prinz Massiva drückte, stieß er seinen scharfen Dolch in die linke Seite des königlichen Brustkorbs und drehte ihn mit einer brutalen Bewegung aufwärts. Er ließ den Griff sofort los, als er spürte, daß die Klinge bis zum Heft im Körper des Prinzen steckte. Noch bevor das Blut herausschießen oder der Prinz aufschreien konnte, hatte Decumius bereits ein Dutzend Menschen zwischen sich und sein Opfer gebracht. Doch Prinz Massiva schrie nicht auf, er fiel auf der Stelle um. Als seine Leibwächter zu ihm vorgedrungen waren, eilte Decumius schon über das untere Forum zum sicheren Hafen des Argiletum.
Volle zehn Minuten vergingen, bis jemand auf den Gedanken kam, Spurius Albinus und seinen Bruder Aulus zu benachrichtigen, die bereits auf dem Podium des Tempels ihre Plätze eingenommen hatten. Liktoren sperrten den Tatort ab, die Menge wurde zurückgedrängt. Spurius und Aulus Albinus blickten erschrocken auf den ermordeten Prinzen, dessen Tod ihre Pläne durchkreuzt hatte.
»Das muß jetzt warten«, sagte Spurius schließlich. »Es wäre beleidigend für Marcus Livius Drusus, wenn wir seinen Triumph störten.« Die Leibwache des Prinzen bestand aus angeheuerten römischen Gladiatoren. Spurius wandte sich an ihren Anführer und befahl: »Tragt Prinz Massiva in sein Haus und wartet dort auf mich.«
Aulus reagierte auf das Unglück nicht so phlegmatisch wie sein Bruder. »Jugurtha! « zischte er. »Jugurtha hat es getan! «
»Das wirst du niemals beweisen können«, seufzte Spurius.
Sie stiegen die Treppen zum Tempel des Castor und Pollux wieder hinauf und nahmen ihre Sitze in dem Moment ein, als die ersten Magistrate und Senatoren auftauchten. Langsam kam die Prozession hinter dem mächtigen Bau des Domus Publicus hervor, in dem die Vestalinnen und der Pontifex Maximus wohnten, um dann majestätisch hangabwärts zu jener Stelle zu ziehen, an der die Via Sacra neben dem Rund des Comitiums endete. Spurius und Aulus Albinus beobachteten den Triumphzug, als hätten sie an nichts anderes zu denken als an das prächtige Schauspiel zu Ehren des Marcus Livius Drusus.
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Bomilkar und Lucius Decumius trafen sich ganz offen und deshalb um so unauffälliger. Sie standen nebeneinander an der Theke einer belebten Imbißstube an der oberen Ecke des Großen Marktplatzes und bestellten mit Knoblauchwurst gefüllte Pasteten.
»Genau der richtige Tag für so etwas, Freund«, sagte Lucius Decumius.
Bomilkar atmete tief ein. Er trug einen Mantel mit Kapuze, der ihn fast völlig verbarg. »Ich hoffe, der Tag bleibt so schön«, sagte er.
»Ich versichere dir, der heutige Tag wird so schön enden, wie er angefangen hat, Freund«, sagte Lucius Decumius zufrieden.
Bomilkar tastete unter seinem Mantel nach der Börse. »Bist du sicher?«
»Genau so sicher, wie ich weiß, daß mein Schuh stinkt, wenn ich in Kot trete.«
Der Beutel Gold ging unsichtbar von einer Hand zur anderen. Erleichtert verabschiedete sich Bomilkar.
»Ich danke dir, Lucius Decumius.«
»Keine Ursache, Freund, das Vergnügen war ganz meinerseits!« Lucius Decumius blieb an der Theke stehen und aß genußvoll seine Pastete zu Ende. »Austern statt Zwiebeln«, sagte er laut.
Bomilkar verließ das Viertel durch das Fontinalis-Tor und erreichte den Campus Martius. Er kam jetzt schneller voran, weil sich die Menge zerstreute. Er betrat Jugurthas Villa durch die Vordertür, ohne jemandem zu begegnen. Erleichtert warf er den Mantel ab. Der König war heute besonders großzügig gewesen und hatte allen Sklaven im Haus freigegeben, damit sie den Triumphzug des Drusus ansehen konnten. Außer den numidischen Dienern und Leibwächtern, die dem König in fanatischer Treue ergeben waren, befand sich also niemand im Haus.
Jugurtha saß wie gewöhnlich in der Loggia im Obergeschoß.
»Die Sache ist erledigt«, sagte Bomilkar.
Der König ergriff Bomilkars Arm und drückte ihn. »Gut gemacht! «sagte er lächelnd.
»Ich bin froh, daß es so glatt ablief«, sagte Bomilkar.
»Ist er wirklich tot?«
»Der Attentäter hat mir versichert, daß er tot ist - so gewiß, wie er weiß, daß sein Schuh stinkt, wenn er in Kot getreten ist. « Bomilkar wollte sich auf einmal ausschütten vor Lachen.
Jugurtha atmete auf. »Sobald wir bestätigt bekommen, daß mein lieber Vetter Massiva tot ist, werden wir unsere Agenten zu einer Besprechung zusammenrufen. Wir müssen den Senat dazu bringen, daß er mein Recht auf den Thron anerkennt und daß wir nach Hause dürfen.« Er verzog das Gesicht. »Ich darf natürlich nicht vergessen, daß ich auch noch mit meinem ewig kränkelnden, geliebten Halbbruder Gauda fertig werden muß.«
Einer fehlte, als Jugurtha seine Agenten in seiner Villa zusammenrief. Als Marcus Servilius Agelastus von der Ermordung des Prinzen Massiva erfuhr, bat er den Konsul Spurius Albinus um eine Unterredung. Der Konsul ließ ihm durch einen Sekretär mitteilen, er sei zu beschäftigt, doch Agelastus beharrte auf seinem Wunsch, bis der Sekretär ihn zum jüngeren Bruder des Konsuls schickte. Aulus reagierte erregt auf das, was Agelastus zu sagen hatte. Spurius Albinus wurde gerufen, hörte sich gleichmütig Agelastus’ Aussage an, dankte ihm, notierte sich seine Adresse, ließ sich außerdem, um ganz sicher zu gehen, noch eine Anschrift nennen, bei der Nachrichten hinterlegt werden konnten, und verabschiedete Agelastus so freundlich, daß jeder andere Mann mit einem Lächeln auf dem Gesicht gegangen wäre. Doch Agelastus lächelte nie.
»Wir müssen den Stadtprätor einschalten. Es muß alles so legal wie möglich ablaufen«, sagte Spurius, als er mit seinem Bruder allein war. »Die Sache ist zu wichtig, um Agelastus als Kläger auftreten zu lassen - das mache ich selbst. Aber er ist für uns von größter Wichtigkeit, weil er der einzige römische Bürger unter Jugurthas Agenten ist. Der Stadtprätor muß dann entscheiden, wie Bomilkar angeklagt werden kann. Zweifellos wird er die Senatsvollversammlung konsultieren und um Anweisung bitten, weil er sich nicht in die Nesseln setzen will, aber ich glaube, ich kann seine Furcht zerstreuen, wenn ich ihm die rechtliche Lage schildere. Das Verbrechen ist ja in Rom von einem Bürger Roms verübt worden. Da brauche ich nur noch darauf hinzuweisen, daß Prinz Massiva der Klient des Konsuls war und unter seinem Schutz stand. Es ist wichtig, daß Bomilkar in Rom und vor einem römischen Gericht angeklagt und verurteilt wird. Du, Aulus, wirst dich bereithalten, als Ankläger aufzutreten. Ich werde dafür sorgen, daß auch der praetor peregrinus konsultiert wird, denn er ist ja normalerweise für Gerichtsverfahren gegen Nichtbürger zuständig. Wir werden verhindern, daß Jugurtha den Senat auf seine Seite zieht - und dann schauen wir uns nach einem anderen Thronanwärter um.«
»Wie wäre es mit Prinz Gauda?«
»Meinetwegen Prinz Gauda, obwohl er kaum das Zeug dazu hat. Schließlich ist er Jugurthas legitimer Halbbruder. Wir müssen nur dafür sorgen, daß Gauda niemals persönlich nach Rom kommt, um seinen Anspruch anzumelden.« Spurius lächelte Aulus an. »Numidien haben wir noch dieses Jahr in der Hand, das schwöre ich dir! «
Jugurtha hatte den Gedanken völlig aufgegeben, nach den römischen Spielregeln zu kämpfen. Als der Stadtprätor mit seinen Liktoren in der Villa auf dem Pincio vorsprach und Bomilkar wegen Verschwörung zum Mord verhaften wollte, war der König einen Augenblick lang versucht, die Auslieferung Bomilkars einfach zu verweigern und abzuwarten, was daraufhin geschehen würde. Dann erklärte er, da weder das Opfer noch der Beschuldigte Bürger Roms seien, habe Rom seiner Meinung nach damit gar nichts zu tun. Der Stadtprätor erwiderte, daß der Senat beschlossen habe, den Beschuldigten vor ein römisches Gericht zu stellen, denn es gebe Beweise, daß der Attentäter römischer Bürger sei. Ein gewisser Marcus Servilius Agelastus, ein römischer Ritter, habe die Beweise geliefert. Er habe geschworen, man habe zuerst ihn gefragt, ob er den Mord begehen könne.
»In diesem Fall«, sagte Jugurtha, »kann mein Gefolgsmann nur vom Fremdenprätor verhaftet werden.«
»Man hat dich falsch informiert, Herr«, erklärte der Stadtprätor gewandt. »Der Fremdenprätor wird natürlich auch mit dem Fall befaßt werden. Aber die Gewalt des Stadtprätors reicht bis zum fünften Meilenstein vor den Mauern Roms, deine Villa liegt also innerhalb meines Zuständigkeitsbereichs. Ich fordere dich deshalb auf, Bomilkar auszuliefern.«
Bomilkar wurde geholt und sofort in die Zellen der Lautumiae verbracht. Jugurtha ließ durch seine Agenten fordern, man möge Bomilkar gegen Kaution entlassen oder ihn zumindest im Haus eines angesehenen Bürgers gefangenhalten. Das wurde abgelehnt.
Das jahrhundertealte Gefängnis der Lautumiae bestand aus ungemauerten Steinblöcken und schmiegte sich an den Steilhang oberhalb des Forum Romanum. Die Gefangenen waren in zerfallenen Zellen ohne jegliche Sicherungsmaßnahmen untergebracht und konnten sich innerhalb der Mauern frei bewegen. Nur die Liktoren an den Ausgängen hinderten sie daran, das Gefängnis zu verlassen. Da das Gefängnis meist leerstand, war der Anblick von Liktoren vor den Eingängen eine große Sensation. Bomilkars Gefangennahme verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt - dank der Liktoren, die nur allzu gerne die Neugier der Passanten befriedigten.
Lucius Decumius gehörte zwar dem gemeinen Volk an, doch sein sozialer Status hatte nichts mit seinem Verstand zu tun. Der Posten des Vorstehers eines Kreuzwegvereins stellte einige Ansprüche. Als das Gerücht von Bomilkars Gefangennahme in die Subura drang, zählte Lucius Decumius zwei und zwei zusammen und kam auf vier. Zwar lautete der Name Bomilkar, nicht Juba, und Bomilkar war Numider, nicht Mauretanier, doch Decumius wußte sofort, daß das sein Mann war.
Er nahm Bomilkar die List nicht übel, sondern bewunderte ihn eher dafür. Sofort machte er sich auf den Weg zu den Lautumiae. Am Eingang grinste er die beiden Liktoren breit an, die dort Wache standen, und stieß sie mit dem Ellbogen einfach beiseite.
»Scheißkerl!« sagte der eine und rieb die schmerzende Stelle.
»Selbst einer! « rief Decumius und sprang gewandt hinter eine der halbverfallenen Säulen. Dort wartete er, bis sich die Liktoren wieder beruhigt hatten.
Da Rom nicht über militärische oder zivile Vollzugsorgane verfügte, rekrutierte es das Personal für besondere Aufgaben wie die Bewachung der Gefängnisse traditionell aus den Reihen der Liktoren. In Rom gab es insgesamt etwa dreihundert Liktoren, die vom Staat schlecht bezahlt wurden und deshalb von der Großmut der Männer abhingen, denen sie dienten. Liktoren begleiteten alle Magistrate mit imperium. Sie kämpften um die Gelegenheit, mit einem Statthalter ins Ausland zu gehen, da sie dort von den Privilegien und Einkünften des Statthalters profitierten. Liktoren beriefen ferner die Kuriatkomitien ein, zu denen das Volk in dreißig curiae zusammentrat, und sie konnten für den Wachdienst vor der Lautumiae oder dem benachbarten Tullianum eingesetzt werden, wo die zum Tode Verurteilten die kurze Zeit bis zu ihrer Erdrosselung gefangengehalten wurden. Der Wachdienst gehörte zu den unerfreulichsten Aufgaben. Hier waren keine Trinkgelder, keine Bestechungsgelder, überhaupt nichts zu erwarten. Deshalb machte sich keiner der beiden Liktoren die Mühe, Lucius Decumius in das Gebäude hinein zu verfolgen. Ihre Anweisung lautete, den Eingang zu bewachen. Und das war alles, wozu sie bereit waren, beim Jupiter.
»Hallo, Freund, wo steckst du?« schrie Decumius.
Bomilkar sprang auf, und die Haare auf seinen Armen und seinem Nacken sträubten sich. Also gut, dachte er, das ist das Ende. Wie betäubt wartete er, daß Decumius in Begleitung von Magistraten und anderen Beamten hereingeführt würde.
Doch Decumius erschien allein. Als er Bomilkar erblickte, lächelte er ihm unbekümmert zu. In der Mauer hinter Bomilkar befand sich eine Öffnung, die so groß war, daß ein Mann ohne weiteres hindurchklettern konnte. Bomilkar hatte von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, denn nie wäre ihm eingefallen, die Römer, denen die Idee des Gefängnisses völlig fremd war, könnten ihn in einen Raum sperren, aus dem er jederzeit entkommen konnte. Decumius trat in den türlosen Raum.
»Wer hat dich verpfiffen, Freund?« fragte er, während er sich auf einem heruntergefallenen Steinbrocken niederließ.
Bomilkar unterdrückte ein Zittern und befeuchtete seine Lippen. »Wenn du mich nicht verpfiffen hast, du Narr, dann hast du es jetzt getan! « fuhr er Decumius an.
Decumius starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Dann dämmerte ihm, was Bomilkar meinte. »Aber, aber, mein Freund, keine Sorge«, sagte er beruhigend. »Hier kann uns niemand hören, nur die zwei Liktoren am Eingang, und die sind zwanzig Schritt weit weg. Ich habe gehört, daß man dich verhaftet hat, und da dachte ich mir, ich frage besser nach, was schiefgegangen ist.«
»Agelastus«, sagte Bomilkar. »Marcus Servilius Agelastus!«
»Soll ich mit ihm dasselbe tun wie mit Prinz Massiva?«
»Mensch, verschwinde!« rief Bomilkar verzweifelt. »Verstehst du nicht, daß man fragen wird, was du hier zu suchen hast? Wenn dich jemand in der Nähe von Prinz Massiva gesehen hat, bist du jetzt so gut wie tot!«
»Schon gut, Freund, schon gut! So beruhige dich doch. Niemand kennt mich, und niemand interessiert sich dafür, daß ich hier bin. Das hier ist kein Verlies wie bei den Parthern. Es wäre den Römern völlig egal, wenn du ausbrechen würdest.« Decumius deutete auf das Loch in der Außenwand. »Aber es wäre für sie ein Beweis deiner Schuld.«
»Dann darf ich nicht fliehen«, sagte Bomilkar.
»Wie du meinst.« Decumius zuckte mit den Schultern. »Und dieser Vogel Agelastus? Soll ich ihn beseitigen? Ich mache es für den üblichen Preis - zahlbar nach Erledigung, denn ich vertraue dir.«
Bomilkar war fasziniert. Lucius Decumius glaubte nicht nur, was er sagte, er hatte sogar recht.
»Du kannst dir einen zweiten Beutel Gold verdienen«, sagte er.
»Wo wohnt er, dieser Agelastus?«
»Auf dem Caelius, im Vicus Capiti Africae.«
»Oh, eine gepflegte Neubaugegend!« sagte Decumius anerkennend. »Agelastus muß es recht gut gehen, wie? Aber dort draußen ist er auch leicht zu finden. Dort singen die Vögel lauter als die Nachbarn. Keine Sorge, ich erledige die Sache sofort. Wenn dich dein König dann hier herausholt, kannst du mich bezahlen. Schick das Gold einfach an den Verein.«
»Und woher weißt du, daß mein König mich hier herausholen kann?«
»Natürlich wird er das, Freund! Man hat dich hier nur eingesperrt, um ihm einen Schrecken einzujagen. In ein paar Tagen lassen sie dich gegen Kaution frei. Aber wenn sie das tun, rate ich dir, so schnell wie möglich nach Hause zu reisen. Bleib nicht länger in Rom, verstanden?«
»Ich soll meinen König im Stich lassen? Das kann ich nicht!«
»Natürlich kannst du das, Freund! Was glaubst du, daß ihm hier in Rom passiert? Daß er eins über den Schädel bekommt und in den Tiber geworfen wird? Nein, niemals! Das tun die Römer nicht, Freund. Sie morden nur, wenn es um ihre kostbare Republik geht. Die Gesetze, die Verfassung und solches Zeug, verstehst du? Sie töten vielleicht ab und zu einen Volkstribunen wie Tiberius oder Gaius Gracchus, aber sie würden niemals einen Fremden töten, jedenfalls nicht in Rom. Mach dir also über deinen König keine Sorgen, Freund. Ich wette, daß sie auch ihn nach Hause schicken, wenn du erst einmal geflohen bist.«
Bomilkar starrte Decumius verwundert an. »Und du weißt nicht einmal, wo Numidien liegt« sagte er langsam. »Du warst nicht einmal in Italien! Woher willst du dann wissen, was die römischen Patrizier tun und lassen?«
»Ich bin hier aufgewachsen«, sagte Lucius Decumius und erhob sich von seinem Stein. »Muttermilch, Freund, Muttermilch!«
Bomilkar streckte seine Hand aus. »Ich danke dir, Lucius Decumius. Du bist der einzige durch und durch ehrliche Mann, dem ich in Rom begegnet bin. Ich werde dir dein Gold schicken.«
Agelastus starb. Spurius und Aulus besaßen zwar seine Zeugenaussage, aber der Tod des Hauptzeugen war ein schwerer Schlag für ihre Sache. Jugurtha nützte die Gelegenheit und forderte den Senat erneut auf, Bomilkar gegen Kaution freizulassen. Gaius Memmius und Scaurus sprachen sich entschieden dagegen aus, doch schließlich wurde Bomilkar im Austausch gegen fünfzig numidische Sklaven auf freien Fuß gesetzt. Jugurtha mußte außerdem eine große Geldsumme an den Staat zahlen, die angeblich für den Unterhalt der Geiseln bestimmt war.
Jugurtha wußte jetzt, daß die Römer seinen Anspruch auf den Thron niemals anerkennen würden. Nicht wegen Massivas Tod nein, die Römer hatten gar nie vorgehabt, Jugurtha als König anzuerkennen. Sie hatten ihn jahrelang hingehalten, ihn nach ihrer Pfeife tanzen lassen und ihn insgeheim ausgelacht. Jugurtha beschloß, nach Numidien zurückzukehren - mit oder ohne Genehmigung des Senats. Er wollte ein Heer ausheben und es so ausbilden, daß es in dem unvermeidlichen Kampf mit den römischen Legionen bestehen konnte.
Bomilkar floh sofort nach seiner Entlassung nach Puteoli, bestieg ein Schiff nach Africa und entkam ungeschoren. Daraufhin beschloß der Senat, auch Jugurtha ziehen zu lassen. Er erhielt seine fünfzig Geiseln zurück, nicht jedoch das Geld. Verlasse Rom, verlasse Italien, laß uns in Ruhe.
Der König von Numidien trieb sein Pferd den steilen, Janiculum genannten Hügel hinauf und warf einen letzten Blick auf die Stadt. Da lag sie, in Wellen ausgebreitet über sieben Hügel und die dazwischen liegenden Täler, ein Meer von orangeroten Dachziegeln und bunt bemalten Mörtelwänden. Die vergoldeten Ziergiebel der Tempel funkelten und warfen das Sonnenlicht gebündelt zum Himmel zurück - kleine Straßen für die Götter. Eine lebendige und farbenfrohe Stadt aus Terrakotta, durchsetzt mit grünen Bäumen und Grasflächen.
Doch Jugurtha hatte kein Auge für die Farbenpracht. Lange blickte er auf die Stadt. Er war sicher, daß er Rom niemals wiedersehen würde.
»Du wohlfeile Stadt«, sagte er, »wenn sich ein Käufer findet, bist du verloren!« Er wendete sein Pferd und ritt der Via Ostiensis zu.
Clitumna hatte einen Neffen, der als Sohn ihrer Schwester nicht den Familiennamen Clitumnus trug, sondern Lucius Gavius Stichus hieß. Sulla folgerte aus diesem Namen, daß einer der Vorfahren dieses Lucius ein Sklave gewesen war, denn woher sonst konnte der Spitzname Stichus stammen? Doch Lucius Gavius Stichus beharrte darauf, seine Familie sei durch den Sklavenhandel zu diesem Namen gekommen. Wie sein Vater und sein Großvater verdiente auch Lucius Gavius Stichus sein Geld mit dem Sklavenhandel: Er hatte eine kleine Agentur für Hausdiener im Porticus Metelli auf dem Campus Martius.
Eigenartig, dachte Sulla, als der Verwalter ihm mitteilte, der Neffe der Herrin warte im Arbeitszimmer, eigenartig, wie viele Männer mit dem Namen Gavius ich kenne. Da war einmal der Saufkumpan seines Vaters, Marcus Gavius Brocchus, sodann sein guter alter grammaticus Quintus Gavius Myrto. Gavius. Es war kein sonderlich häufiger Familienname und auch kein besonders angesehener, und doch kannte er drei dieses Namens.
An den Saufkumpan seines Vaters und den Gavius, dem er eine nicht unbeträchtliche Bildung verdankte, dachte er gerne. Stichus war ein anderer Fall. Einen Augenblick lang blieb Sulla im Atrium stehen und kämpfte mit sich, was er jetzt tun sollte - das Haus verlassen oder sich in einen Raum zurückziehen, in den Stichus seine Nase nicht stecken würde.
Der Garten. Sulla lächelte dem Verwalter zu, dankbar, daß er ihn gewarnt hatte. Er umging das Arbeitszimmer und begab sich in das Peristyl, wo er sich auf einer Bank niederließ. Versonnen starrte er die kitschige Statue des Apollo an, der die Nymphe Daphne verfolgte. Clitumna liebte die Statue, sie hatte sie selbst gekauft. Aber hatte der Herr des Lichts wirklich so schreiend gelbe Haare, so ekelhaft blaue Augen oder eine so süßlich-rosige Haut? Und wie konnte jemand einen Bildhauer bewundern, der jegliche Kriterien des Geschmacks so gänzlich verleugnete? Der unbekannte Künstler hatte aus den Fingern der Nymphe, die sich gerade in einen Lorbeerbaum verwandelte, hellgrüne Zweige gemacht und aus ihren Zehen schmutzigbraune Wurzeln. Er hatte sogar, Gipfel der Geschmacklosigkeit, auf der einen noch menschlichen Brust der armseligen Kreatur einen purpurroten Tropfen angebracht, der aus einer knorrigen Brustwarze quoll! Sulla konnte dieses Machwerk nur blinden Auges anstarren, denn jede Faser seines Körpers drängte danach, zur Axt zu greifen.
»Was habe ich hier eigentlich noch zu suchen?« fragte er Daphne. Nicht einmal erschrocken sah sie aus, einfach nur lächerlich.
Daphne gab keine Antwort.
»Was habe ich hier zu suchen?« fragte er Apollo.
Doch auch Apollo antwortete nicht.
Sulla hob die Hand, preßte die Finger gegen die Stirn und schloß die Augen. Er versuchte, sich selbst zu disziplinieren - was er brauchte, war nicht Ergebenheit in sein Schicksal, eher eine Art grimmiger Duldsamkeit. Gavius. An einen anderen Gavius denken, nicht an diesen Stichus. Sulla dachte an Quintus Gavius Myrto, der ihn zu einem gebildeten Menschen gemacht hatte.
Sie hatten sich kurz nach Sullas siebtem Geburtstag kennengelernt. Der magere, aber kräftige kleine Sulla hatte versucht, seinen betrunkenen Vater nach Hause zu bringen, mit dem er damals ein einziges Zimmer am Vicus Sandalarius bewohnte. Der Vater brach auf der Straße zusammen, und Quintus Gavius Myrto kam dem Jungen zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie den Vater nach Hause. Sullas Erscheinung und sein reines Latein faszinierten Myrto.
Sobald sie den alten Sulla auf sein Strohlager gelegt hatten, setzte sich der grammaticus auf den einzigen Stuhl und fragte den Jungen nach der Familiengeschichte aus. Schließlich erklärte Myrto ihm, daß er Lehrer sei, und bot dem Jungen an, ihm kostenlos Lesen und Schreiben beizubringen. Sullas Elend entsetzte Myrto: Sollte ein patrizischer Cornelius mit offensichtlichem Talent für den Rest seines Lebens in den Elendsvierteln von Rom verkümmern? Nicht auszudenken. Der Junge sollte wenigstens so viel Bildung erhalten, daß er sich seinen Lebensunterhalt als Schreiber verdienen konnte.
Sulla nahm das Angebot des Lehrers an, war jedoch entschlossen, dafür zu bezahlen. Wann immer er konnte, stahl er genug, um dem alten Quintus Gavius Myrto einen Silberdenar oder ein fettes Hühnchen zustecken zu können, und als er etwas älter wurde, verkaufte er seinen Körper, um an den Silberdenar zu kommen. Obwohl Myrto vielleicht ahnte, wie Sulla zu dem Geld kam, sprach er nie davon.
Dank Myrto sprach Sulla bald das reine attische Griechisch und erwarb wenigstens Grundkenntnisse in Rhetorik. Myrto verfügte über eine umfangreiche Bibliothek, und Sulla konnte Homer, Pindar, Hesiod, Plato, Menander, Eratosthenes, Euklid und Archimedes lesen, außerdem lateinische Schriften - Ennius, Accius, Cassius Hemina, Cato den Zensor. Er arbeitete sich durch jede Schriftrolle, die ihm in die Hände fiel, und entdeckte dabei eine Welt, die ihn seine eigene Lage für ein paar kostbare Stunden vergessen ließ - eine Welt edler Helden und großer Taten, wissenschaftlicher Fakten und philosophischer Hirngespinste, er entdeckte den Stil der Literatur und das Wesen der Mathematik. Das einzige Vermögen, das Sullas Vater nicht schon lange vor der Geburt seines Sohnes verloren hatte, war sein wunderbares Latein. Sulla beherrschte neben Latein auch den Jargon der Subura und das Latein, das in den unteren Klassen gesprochen wurde. Er konnte sich also in allen Schichten der römischen Bevölkerung bewegen, ohne aufzufallen.
Quintus Gavius Myrto hielt seinen Unterricht in einer ruhigen Ecke des Macellum Cuppedenis ab, des Marktes für Gewürze und Blumen, der sich auf der rückwärtigen, östlichen Seite des Forum Romanum befand. Er mußte auf einem öffentlichen Platz unterrichten, weil er sich kein eigenes Schulgebäude leisten konnte. Es war Myrto nie vergönnt, als Hauslehrer verwöhnte Plebejer-Kinder zu unterrichten oder in einem richtigen Schulraum die Sprößlinge der Ritter zu erziehen. Er ließ einfach seinen einzigen Sklaven einen hohen Stuhl für sich und Stühle für seine Schüler so aufstellen, daß die Marktkunden nicht darüber stolperten. Unter freiem Himmel, inmitten des Lärms und des Marktgeschreis der Gewürz- und Blumenhändler brachte er ihnen Lesen, Schreiben und Arithmetik bei. Weil er sehr beliebt war und den Jungen und Mädchen der Markthändler einen Preisnachlaß einräumte, durfte er seine Klasse bis zu seinem Tod immer in der gleichen Ecke unterrichten. Als Myrto starb, war Sulla fünfzehn.
»Ach, Lucius Cornelius«, pflegte er zu sagen, wenn er mit dem Jungen nach dem Unterricht allein zurückblieb, stets bemüht, den Jungen von der Straße fernzuhalten, »irgendwo auf dieser großen Welt hat ein Mann oder eine Frau die Werke des Aristoteles versteckt! Wenn du wüßtest, wie ich mich danach sehne, etwas von diesem Mann zu lesen! Solch ein gewaltiges Werk, solch ein Verstand - stell dir nur vor, er war der Lehrer von Alexander dem Großen! Man sagt, er habe über alles geschrieben - über das Gute und das Böse, über Sterne und Atome, über die Seele und die Hölle, über Hunde und Katzen, Blätter und Muskeln, die Götter und die Menschen und über Gedankensysteme und das Chaos der Geistlosigkeit. Welch ein Genuß wäre es, die verlorenen Werke des Aristoteles zu lesen!« Dann schlug er verbittert die Hände zusammen, zuckte die Schultern und kramte in den herrlich nach Leder duftenden Schriftrollenbehältern und den säuerlich riechenden Papieren feinster Qualität. »Macht nichts, macht nichts«, murmelte er, »ich kann nicht klagen, ich habe ja noch meinen Homer und meinen Plato.«
Myrto starb während eines kalten Winters, kurz nachdem sein alter Sklave auf einer vereisten Treppe ausgerutscht und sich das Genick gebrochen hatte. Eigenartig, dachte Sulla damals, wie beide Teile verfallen, wenn ein Band zwischen zwei Menschen durchschnitten wird. Bei Myrtos Beerdigung zeigte sich, wie beliebt er gewesen war. Es blieb Quintus Gavius Myrto erspart, in den Kalkgruben verscharrt zu werden, wie es das entsetzlich würdelose Schicksal der Armen war. Ihm wurde ein richtiger Trauerzug mit gedungenen Klageweibern und einer Leichenrede zuteil, ein Scheiterhaufen, der nach Myrrhe, Weihrauch und Balsam duftete, und ein hübscher Schrein für seine Asche. Die Bestattung wurde von zwei Generationen von Schülern organisiert und bezahlt, die in echter Trauer um Myrto weinten.
Sulla hatte sich hocherhobenen Hauptes und mit trockenen Augen in die Menge eingereiht, die Quintus Gavius Myrto das Geleit aus der Stadt hinaus zum Scheiterhaufen gab. Er warf einen Strauß Rosen in die lodernden Flammen und zahlte dem Leichenbestatter einen Silberdenar - seine Beteiligung an den Kosten. Später am Tag, sein Vater lag als weingetränkter Haufen auf dem Boden und seine unglückliche Schwester hatte so gut wie möglich sauber gemacht, saß Sulla grübelnd in seiner Zimmerecke, immer noch fassungslos über den unerwarteten Schatz, der ihm in den Schoß gefallen war. Denn Quintus Gavius Myrto war im Tod ebenso ordentlich wie im Leben: Er hatte ein Testament aufgesetzt und bei den Vestalinnen hinterlegt. Zwar hatte er kein Geld, aber alles, was er besaß - seine Bücher und ein kostbares Modell des Universums, das Sonne, Mond und Planeten in ihren Umlaufbahnen um die Erde zeigte, hatte er Sulla vermacht.
Erst jetzt hatte Sulla weinen können, hatte ihn eine leere Verzweiflung übermannt. »Eines Tages, Quintus Gavius«, hatte er geschluchzt, »werde ich die verlorenen Werke des Aristoteles finden.«
Sulla hatte sich nicht lange über die Bücher und das Planetenmodell freuen dürfen. Als er eines Tages nach Hause kam, fand er seine Ecke bis auf das Strohlager leer. Sein Vater hatte alles verkauft, weil er Geld für Wein brauchte. Sulla wollte ihn umbringen, aber glücklicherweise war seine Schwester da und warf sich dazwischen. Sulla vergaß und vergab nie. Noch am Ende seines Lebens, als er Tausende von Büchern und fünfzig Modelle des Universums sein eigen nannte, trauerte er der verlorenen Bibliothek des Quintus Gavius Myrto nach.
Sulla kehrte in die Gegenwart zurück und sah wieder die grell bemalte, grobschlächtige Statuengruppe des Apollo und der Daphne vor sich. Als sein Blick auf die noch grauenhaftere Statue des Perseus fiel, der das Haupt der Medusa in der Hand hielt, fühlte er sich endlich stark genug, Stichus entgegenzutreten. Er ging durch den Garten zum Arbeitszimmer, das eigentlich dem Herrn des Hauses vorbehalten war. Da Sulla jedoch mehr oder weniger als Herr des Hauses galt, war ihm der Gebrauch des Arbeitszimmers erlaubt worden.
Der pickelige kleine Stichus war gerade dabei, sich mit kandierten Feigen vollzustopfen. Mit seinen klebrigen Stummelfingern wühlte er in den Schriftrollen, die in Löchern in der Wand aufbewahrt wurden.
»Ohhhhh!« wimmerte Stichus, als er Sulla erblickte, und zog seine Hände zurück.
»Zum Glück weiß ich, daß du zu dumm bist, um sie zu lesen«, sagte Sulla. Er gab dem Diener an der Tür, einem hübschen Griechen, der nicht ein Zehntel des hohen Preises wert war, den Clitumna für ihn bezahlt hatte, mit den Fingern ein Zeichen. »Hole Wasser und ein sauberes Tuch«, befahl er, »und wische den Dreck weg, den dieser Herr gemacht hat.«
Er starrte Stichus mit seinen unheimlichen Augen an, die boshaft waren wie der Blick einer Ziege. Während Stichus sich verzweifelt mühte, den Feigensirup an seiner teuren Tunika abzuwischen, sagte Sulla: »Ich wünschte, du würdest dir endlich aus dem Kopf schlagen, daß ich hier obszöne Schriftrollen aufbewahre! Ich habe keine. Warum auch? Ich brauche sie nicht. Obszöne Bücher sind nur für Menschen, die sich selbst nichts trauen. Menschen wie du, Stichus.«
»Irgendwann einmal«, sagte Stichus giftig, »gehört dieses Haus mir. Dann wirst du nicht mehr so hochnäsig sein.«
»Ich kann dir nur raten, den Göttern zu opfern, daß sie diesen Tag hinausschieben. Denn das würde dein letzter Tag sein, Lucius Gavius. Wenn Clitumna nicht wäre, würde ich dich in kleine Stücke schneiden und den Hunden vorwerfen.«
Stichus starrte Sulla mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er hatte keine Angst vor ihm, dafür kannte er ihn schon zu lange, aber er war vorsichtig, denn er wußte, daß seine dumme alte Tante Clitumna ihre sklavische Zuneigung zu diesem Kerl nicht aufgeben wollte. Vor einer Stunde hatte er seine Tante und ihre Zechschwester Nikopolis ganz aufgelöst vorgefunden, weil ihr Liebling Lucius Cornelius seine Toga angelegt und wütend das Haus verlassen hatte. Stichus hatte seiner Tante die ganze Geschichte entlockt und war entsetzt. Angeekelt.
Stichus ließ sich auf Sullas Stuhl fallen und sagte: »Meine Güte, heute siehst du ja wie ein richtiger Römer aus! Du warst sicher bei der Amtseinführung der Konsuln, nicht? Lächerlich! Dein Stammbaum ist nicht halb so gut wie meiner.«
Sulla hob Stichus aus dem Stuhl, indem er ihn mit Fingern und Daumen seiner rechten Hand am Unterkiefer packte. Der Griff war ungeheuer schmerzhaft, verhinderte aber zugleich, daß das Opfer schreien konnte. Als Stichus wieder bei Besinnung war und Sullas Gesicht sah, wagte er nicht mehr zu schreien. Stumm wie ein Götzenbild starrte er Sulla an.
»Meine Vorfahren«, sagte Sulla liebenswürdig, »gehen dich nichts an. Und jetzt verlaß mein Zimmer.«
»Vielleicht ist es bald nicht mehr dein Zimmer!« stieß Stichus hervor. Er eilte zur Tür und stieß dort fast mit dem Sklaven zusammen, der eben mit einer Schale Wasser und einem Lappen hereinkam.
»Wer weiß!« rief Sulla ihm nach.
Stichus war noch vor Sulla bei Clitumna. Als Sulla vor ihrem Zimmer ankam, teilte ihm der Verwalter entschuldigend mit, Clitumna und ihr Neffe wollten nicht gestört werden. Sulla ging durch den Säulengang, der das Peristyl umgab, zu den Zimmern, die seine Geliebte Nikopolis bewohnte. Aus der Küche, die am entfernten Ende des Gartens neben der Toilette und dem Bad lag, drangen verlockende Düfte. Wie die meisten Häuser auf dem Palatin war auch Clitumnas Haus an die Wasser- und Abwasserleitungen angeschlossen. Die Dienerschaft mußte das Wasser also nicht vom öffentlichen Brunnen holen und die vollen Nachttöpfe nicht zur nächstgelegenen Latrine tragen oder in den Straßengraben schütten.
»Wenn du nur ab und zu aus deinen aristokratischen Höhen herabsteigen würdest, Lucius Cornelius«, sagte Nikopolis und ließ ihre Stickarbeit in den Schoß sinken. »Dann ginge es dir viel besser.
Sulla sank mit einem Seufzer auf das bequeme Sofa und zog die Toga enger um seinen Körper, denn in dem Zimmer war es kalt. Eine Dienerin, die Bithy gerufen wurde, zog ihm die Winterstiefel aus. Sie war ein nettes, fröhliches Mädchen mit einem unaussprechlichen Namen und stammte aus dem Hinterland von Bithynien. Mit den Stiefeln in der Hand eilte sie geschäftig aus dem Zimmer. Kurze Zeit darauf kehrte sie mit einem Paar dicker, warmer Socken zurück und zog sie ihm an.
»Danke, Bithy«, sagte Sulla, lächelte ihr zu und fuhr ihr mit der Hand durch das Haar.
Das Mädchen erglühte. Seltsames kleines Ding, dachte er mit einer Zärtlichkeit, die ihn selbst überraschte, bis ihm klar wurde, daß Bithy ihn an das Mädchen aus dem Nachbarhaus erinnerte. Julilla.
»Was willst du damit sagen?« fragte er Nikopolis.
»Warum sollte dieser habgierige kleine Kriecher Stichus alles erben, wenn Clitumna zu ihren zweifelhaften Ahnen versammelt wird? Wenn du sie nur ein klein wenig anders behandeln würdest, mein lieber Freund Lucius Cornelius, würde sie alles dir vermachen. Und sie hat nicht wenig, glaube mir!«
»Was erzählt er ihr jetzt? Daß ich ihm weh getan habe?« fragte Sulla.
»Natürlich! Und er wird es ihr in den buntesten Farben ausmalen. Ich mache dir keine Vorwürfe, er ist wirklich ein abscheulicher Mensch, aber er ist nun mal ihr einziger Verwandter - und sie liebt ihn. Aber dich liebt sie noch mehr, obwohl du so ein eingebildeter Bengel bist! Wenn du das nächste Mal bei ihr bist, darfst du dich nicht hochmütig weigern, dich gegen seine Anschuldigungen zu verteidigen. Erzähl ihr, was für ein unausstehlicher Mensch Stichus ist, und erzähl es ihr so, daß sie dir glaubt und nicht Stichus!«
Sulla starrte sie mit einer Mischung aus Interesse und Skepsis an. »Clitumna ist nicht so naiv, daß sie auf so etwas hereinfällt.«
»Ach, lieber Lucius! Wenn du nur willst, kannst du jede Frau dazu bringen, daß sie dir aus der Hand frißt!« schmeichelte Nikopolis. »Versuche es! Tu es mir zuliebe!«
»Nicht um alles Geld der Welt würde ich vor jemandem wie Clitumna im Staub kriechen!«
»Sie hat nicht alles Geld der Welt, aber sie hat mehr als du brauchst, um in den Senat zu kommen«, schmeichelte die Verführerin.
»Du irrst dich, wirklich! Sie hat dieses Haus, aber abgesehen davon gibt sie jeden Sesterz aus, den sie einnimmt - und was sie nicht verbraucht, gibt der klebrige Stichus aus.«
»Warum, glaubst du, wird sie dann von den Geldwechslern umworben, als wäre sie Cornelia, die Mutter der Gracchen? Sie hat bei ihnen ein hübsches Vermögen angelegt, und sie gibt nicht einmal die Hälfte ihres Einkommens aus.«
Sulla setzte sich so ruckartig auf, daß die Falten seiner Toga auseinanderfielen.
»Nikopolis! Hast du das alles erfunden?«
»Nichts habe ich erfunden«, antwortete sie und führte einen Faden aus purpurroter, mit Goldfäden durchwirkter Wolle durch die Nadel.
»Clitumna wird sicher hundert Jahre alt«, sagte Sulla und sank gelangweilt auf das Sofa zurück.
»Schon möglich, daß sie hundert Jahre alt wird«, sagte Nikopolis. Sie machte einen Stich und zog den glitzernden Faden mit unendlicher Vorsicht durch das Gewebe. Dann richtete sie ihre großen, dunklen Augen wieder auf Sulla und blickte ihn ruhig an. »Vielleicht auch nicht. Niemand in ihrer Familie wurde sehr alt.«
Von draußen drangen Geräusche herein. Lucius Gavius Stichus war wohl dabei, sich von seiner Tante Clitumna zu verabschieden.
Sulla erhob sich. »Also gut, Nikopolis.« Er grinste. »Dieses eine Mal versuche ich es. Drück mir die Daumen! «