Das vierte Jahr
(107 v. Chr.)
Unter den Konsuln
LUCIUS CASSIUS LONGINUS und GAIUS MARIUS (I)
Wohl noch keinem Konsul hatte das Amt so viel bedeutet, wie das erste Konsulat Gaius Marius bedeutete. Als er am Neujahrstag zur Amtsübergabe schritt, tat er dies in dem beruhigenden Wissen, daß er vorschriftsgemäß die ganze Nacht nach Omen Ausschau gehalten hatte, und sein weißer Stier hatte das mit Betäubungsmitteln versetzte Futter bereitwillig gefressen. Jetzt stand Marius, seiner Würde bewußt und bereits jeder Zoll der Konsul, aufrecht in der frischen Luft des heraufziehenden wolkenlosen Tages. Eindrucksvoll hob sich seine hochgewachsene Gestalt von den Umstehenden ab. Der erste Konsul Lucius Cassius Longinus, ein kleiner, feister Mann, sah in seiner Toga wenig beeindruckend aus und wurde von dem zweiten Konsul vollkommen in den Schatten gestellt.
Und Lucius Cornelius Sulla war endlich Senator geworden. Mit dem breiten Purpurstreifen auf der rechten Schulter seiner Tunika stand er, der Quästor, neben seinem Konsul.
Obwohl Marius die fasces, die durch karmesinrote Bänder zusammengehaltenen Rutenbündel, im Monat Januar nicht führte - sie wurden bis zu den Kalenden des Februars dem ersten Konsul Cassius vorangetragen -, berief er am folgenden Tag den Senat zu einer Sitzung ein.
Fast alle Senatoren kamen, denn sie trauten Marius nicht. »Senatoren«, begann Marius, »Rom führt gegenwärtig an mindestens drei Fronten Krieg, Spanien nicht mitgerechnet. Wir brauchen Armeen, um gegen König Jugurtha zu kämpfen, gegen die Skordisker in Makedonien und gegen die Germanen in Gallien. In den fünfzehn Jahren seit dem Tod von Gaius Gracchus haben wir aber auf den verschiedenen Schlachtfeldern sechzigtausend römische Soldaten verloren. Tausende Soldaten taugen nicht mehr für den Dienst in der Armee. Ich wiederhole es, eingeschriebene Väter des Senats: fünfzehn Jahre. Nicht einmal eine halbe Generation.«
In der Curia war es totenstill. Unter den Senatoren saß Marcus Junius Silanus, der erst vor knapp zwei Jahren über zwanzigtausend Soldaten verloren hatte, ein Drittel der Gesamtverluste. Der Hochverratsprozeß gegen ihn war noch nicht abgeschlossen. Noch nie hatte jemand gewagt, die Zahl der insgesamt gefallenen Soldaten im Senat auszusprechen, aber alle Anwesenden wußten, daß Marius eher zu vorsichtig geschätzt hatte. Sie waren wie betäubt von den Zahlen.
»Wir können die Reihen unserer Armeen nicht mehr auffüllen«, fuhr Marius fort. »Aus einem einfachen Grund: Wir haben nicht mehr genügend Männer. Schon der Mangel an römischen Bürgern und Männern latinischen Rechts ist erschreckend, aber der Mangel an Männern unserer italischen Bundesgenossen ist noch viel schlimmer. Auch wenn wir in jedem Bezirk südlich des Arno Truppen ausheben, bekommen wir nicht annähernd so viele Soldaten zusammen, wie wir dieses Jahr im Feld brauchen. Unsere africanische Armee unter Quintus Caecilius Metellus besteht aus sechs gut ausgebildeten und ausgerüsteten Legionen. Ich nehme an, sie wird nach ihrer Rückkehr aus Africa von meinem geschätzten Kollegen Lucius Cassius übernommen und im fernen Gallien gegen die Tolosater eingesetzt. Auch die makedonischen Legionen sind gut ausgerüstet und bestehen aus erfahrenen Soldaten. Sie werden, davon bin ich überzeugt, unter Marcus Minucius und seinem jüngeren Bruder weiterhin gute Arbeit leisten.«
Marius machte eine Pause, um Atem zu holen. Die Senatoren hingen an seinen Lippen. »Bleibt das Problem einer neuen africanischen Armee. Quintus Caecilius Metellus hatte sechs volle Legionen zu seiner Verfügung. Ich denke, daß ich notfalls mit vier Legionen auskommen kann. Aber Rom hat keine vier Legionen in Reserve! Rom hat nicht einmal eine Legion in Reserve! Um euer Gedächtnis aufzufrischen, zähle ich euch jetzt im einzelnen auf, wie viele Soldaten man für vier Legionen braucht.«
Gaius Marius brauchte dazu kein beschriebenes Wachsplättchen. Gelassen trat er einen Schritt vor seinen elfenbeinernen kurulischen Amtsstuhl auf der erhöhten Bühne des Konsuls und nannte die Zahlen aus dem Kopf: »Auf eine volle Legion kommen 5 120 Fußsoldaten, dazu 1280 nichtkämpfende Freie und weitere 1000 nichtkämpfende Sklaven. Dann haben wir die Kavallerie: 2000 Reiter, dazu 2000 nichtkämpfende Freie und Sklaven zur Versorgung der Pferde. Ich muß also irgendwo 20 480 Fußsoldaten, 5120 nichtkämpfende Freie, 4000 nichtkämpfende Sklaven, 2000 Reiter und 2000 nichtkämpfende Männer zur Versorgung der Kavallerie herbekommen.«
Er ließ seine Augen über die Senatoren schweifen. »Es war noch nie schwer, Männer für den nichtkämpfenden Teil der Truppe zu finden, und das wird, denke ich, auch diesmal nicht schwer sein. Für sie gibt es keine untere Einkommensgrenze, sie können so arm sein wie der ärmste Bauer im Gebirge. Auch die Kavallerie ist kein Problem. Rom hat schon seit vielen Generationen keine römischen oder italischen Reiter mehr in die Schlacht geschickt, und trotzdem mangelt es uns nicht an Reitern. Wir finden sie in Ländern wie Makedonien, Thrakien, Ligurien und Gallia Transalpina, und sie bringen ihre eigenen Knechte und Pferde mit.«
Diesmal machte er eine längere Pause, den Blick nachdenklich auf einige Senatoren in der ersten Reihe gerichtet - Scaurus, Catulus Caesar, der sich vergeblich um das Konsulat beworben hatte, den Pontifex Maximus Metellus Delmaticus, Gaius Memmius, Lucius Calpurnius Piso Caesoninus, Scipio Nasica und Gnaeus Domitius Ahenobarbus. Diese Männer waren entscheidend, die anderen Senatoren würde ihnen folgen wie die Herde dem Leithammel.
»Wir sind ein sparsamer Staat, patres conscripti. Als wir die Könige davongejagt haben, haben wir zugleich die vom Staat finanzierte Armee abgeschafft, haben den Dienst in der Armee auf die beschränkt, die genug Geld haben, daß sie Waffen, Rüstung und anderes Kriegsgerät selbst kaufen können. Diese Voraussetzung galt ohne Unterschied für alle Soldaten - römische, latinische und italische. Wer etwas besitzt, hat etwas zu verteidigen. Die Erhaltung des Staates und seines Vermögens ist ihm wichtig. Er wird mit ganzem Einsatz dafür kämpfen. Deshalb haben wir gezögert, unser Reich auf überseeische Länder auszudehnen. Wir haben immer wieder versucht, uns vor dem Besitz von Provinzen zu drücken.
Aber nach unserem Sieg über Perseus sind wir mit unserem lobenswerten Versuch, in Makedonien die Selbstverwaltung einzuführen, gescheitert, weil das Volk dort mit keinem anderen System als der Autokratie zurechtkommt. Wir mußten Makedonien zur römischen Provinz machen, denn wir konnten nicht zulassen, daß Barbarenstämme die Westküste Makedoniens heimsuchten, die unserer eigenen Ostküste so nahe liegt. Die Niederlage Karthagos hat uns gezwungen, das karthagische Reich in Spanien zu verwalten, oder wir hätten das Risiko eingehen müssen, daß ein anderes Volk davon Besitz ergreift. Den größten Teil des africanischen Karthago haben wir den Königen von Numidien überlassen und behielten selbst nur eine kleine Provinz um das eigentliche Karthago im Namen Roms. Damit wollten wir uns für ein erneutes Erstarken der Punier wappnen - ihr seht selbst, was daraus geworden ist, daß wir so viel an die numidischen Könige weggegeben haben! Jetzt müssen wir alles zurückfordern, damit wir unsere kleine Provinz schützen und den dreisten Eroberungsgelüsten eines einzigen Mannes, des numidischen Königs Jugurtha, einen Riegel vorschieben können. Ein einziger Mann erhebt sich, eingeschriebene Väter, und schon droht Rom der Untergang! König Attalus hat uns Kleinasien vermacht, als er starb, und wir versuchen immer noch, uns vor unserer Verantwortung als Verwalter dieser Provinz zu drücken! Gnaeus Domitius Ahenobarbus hat die gesamte gallische Küste zwischen Ligurien und Hispania Citerior erobert, so daß wir einen sicheren, fest in römischer Hand befindlichen Verbindungsweg für unsere Armeen zwischen Rom und Spanien haben - aber daraus ist uns die Notwendigkeit erwachsen, eine weitere Provinz zu schaffen.«
Marius räusperte sich. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. »Unsere Soldaten kämpfen inzwischen außerhalb Italiens. Sie sind lange von zu Hause weg und können sich nicht um Haus und Hof kümmern. Ihre Frauen werden ihnen untreu, ihre Kinder wachsen vaterlos auf. Das Ergebnis ist, daß immer weniger Freiwillige zu uns kommen, daß wir immer mehr Zwangsrekrutierungen vornehmen müssen. Keiner, der Felder bestellt oder ein Geschäft führt, will fünf, sechs oder gar sieben Jahre von zu Hause fort sein! Und wenn er entlassen wird, kann er jeden Augenblick wieder einberufen werden, wenn sich keine Freiwilligen finden.«
Marius’ tiefe Stimme wurde noch tiefer. »Aber was schwerer wiegt als alles andere: In den letzten fünfzehn Jahren sind so viele Soldaten gefallen! Und niemand ist an ihre Stelle getreten. In ganz Italien gibt es keine Männer mehr, die aufgrund ihres Vermögens für die römische Armee in Frage kommen.«
Marius hob die Stimme. Laut und machtvoll hallten seine Worte durch die altehrwürdige Halle. »Seit den Zeiten des zweiten Krieges gegen Karthago mußten die Werbeoffiziere immer wieder ein Auge zudrücken, wenn es um die Vermögensgrenzen ging. Und nach dem Verlust der Armee des jüngeren Carbo vor sechs Jahren haben wir sogar Männer in die höheren Ränge aufgenommen, die weder ihre Rüstung noch sonst irgend etwas bezahlen konnten. Offiziell gebilligt war das nie, es war immer nur der letzte Ausweg.
Diese Zeiten sind vorbei, eingeschriebene Väter. Ich, Gaius Marius, Konsul des Senats und des Volkes von Rom, erkläre vor den Mitgliedern dieses Hauses, daß ich meine Soldaten in Zukunft anwerben werde, nicht zwangsverpflichten - ich will Freiwillige, nicht Männer, die lieber zu Hause wären! Wo ich zwanzigtausend Freiwillige finden will, fragt ihr? Die Antwort darauf ist einfach! Ich finde sie bei den besitzlosen Plebejern, bei den Ärmsten der Armen, die so arm sind, daß sie keiner der fünf Vermögensklassen angehören - ich finde meine Freiwilligen bei denen, die kein Geld haben, keinen Besitz und oft nicht einmal einen festen Beruf - ich finde sie bei denen, die noch nie Gelegenheit hatten, für ihr Land, für Rom zu kämpfen!«
Die Senatoren waren unruhig geworden, und die Unruhe hatte sich immer mehr gesteigert, bis schließlich der ganze Senat donnerte: »Nein! Nein! Nein!«
Marius verzog keine Miene. Geduldig wartete er, auch als der Aufruhr handgreiflich zu werden drohte und geballte Fäuste in die Luft flogen. Die Senatoren waren rot vor Zorn aufgesprungen, und über zweihundert Klappstühle polterten, von den Falten der Togen mitgerissen, über die alten, von ungezählten Füßen im Lauf der Jahrhunderte abgewetzten Marmorfliesen.
Endlich legte sich der Lärm wieder. Die Senatoren schäumten, aber sie wußten, daß sie noch nicht alles gehört hatten, und ihre Neugier war stärker als ihre Wut.
»Ihr könnt schreien und brüllen und heulen, bis Essig zu Wein wird!« rief Marius, sobald er sich Gehör verschaffen konnte. »Aber ich erkläre euch hier und jetzt, daß ich genau das tun werde! Und dazu brauche ich euer Einverständnis gar nicht! Kein Gesetz verbietet mir, Plebejer anzuwerben - aber in einigen Tagen wird es ein Gesetz geben, welches mir genau das erlaubt! Ein Gesetz, nach dem jeder rechtmäßig gewählte Konsul, der eine Armee braucht, Freiwillige bei den capite censi anwerben darf - besitzlose Bürger und Plebejer. Denn ich, Senatoren, trete mit meinem Anliegen vor das Volk!«
»Nein!« schrie Delmaticus.
»Nur über meine Leiche!« schrie Scipio Nasica.
»Nein!« schrien alle Senatoren. »Nein! Nein! Nein!«
»Wartet!« rief eine einsame Stimme. Es war Scaurus. »So wartet doch! Laßt mich ihm antworten!«
Aber niemand hörte ihm zu. Die curia hostilia, Sitz des Senats seit der Gründung der Republik, erzitterte vom Geschrei der tobenden Senatoren.
»Kommt mit!« Hocherhobenen Hauptes verließ Marius die Curia, gefolgt von seinem Quästor Sulla und seinem Volkstribunen Titus Manlius Mancinus.
Auf dem Forum waren bei den ersten Anzeichen des Sturms in der Curia Menschen zusammengeströmt, und auf den Sitzreihen des Comitiums drängten sich bereits Marius’ Anhänger. Entschlossen marschierten der Konsul und sein Volkstribun die Treppe der Curia hinunter und hinüber zur Rednerbühne an der Rückseite des Comitiums. Quästor Sulla, ein Patrizier, mußte auf den Stufen der Curia stehenbleiben.
»Hört mich an!« brüllte Mancinus. »Hiermit berufe ich die Versammlung der Plebs ein und eröffne eine contio, eine vorbereitende Diskussion!«
Gaius Marius trat zum Rednerplatz am vorderen Rand der Bühne. Er drehte sich so, daß er halb zum Comitium, halb zum unteren Teil des Forums gewandt war. Wer auf den Stufen der Curia stand, sah von ihm nicht viel mehr als seinen Rücken, und als die Senatoren mit Ausnahme der wenigen Patrizier des Senats durch die Sitzreihen des Comitiums nach unten drängten, zur Mitte, wo sie Marius ins Gesicht sehen und ihn stören konnten, verstellten ihnen die zum Comitium befohlenen Klienten und Anhänger Marius’ den Weg. Es entstand ein unsanftes Geschiebe und Gedränge, und heftige Worte flogen hin und her, aber die Absperrung gab nicht nach. Nur die neun anderen Volkstribunen wurden zur Rednerbühne durchgelassen. Der innere Zwiespalt eines jeden stand auf ihren Gesichtern zu lesen. Wortlos verharrten sie am hinteren Rand der Bühne und rangen mit der Entscheidung, ob sie angesichts dieser Umstände ein Veto einlegen und damit ihr Leben riskieren sollten.
»Volk von Rom«, rief Marius, »der Senat verbietet mir zu tun, was ich tun muß, wenn Rom überleben will! Rom braucht Soldaten, Rom braucht dringend Soldaten! Wir sind auf allen Seiten vom Feind umgeben, doch die ehrwürdigen Väter des Senats sind wie immer ausschließlich daran interessiert, ihre überkommenen Privilegien zu verteidigen, statt sich um Roms Schicksal zu kümmern!
Es ist der Senat, Volk von Rom, der die Römer und Latiner und Italiker bis aufs Blut ausgesaugt hat und der rücksichtslos die Männer jener Klassen ausgebeutet hat, die traditionell die Soldaten Roms stellen! Denn ich sage euch: Von diesen Männern ist keiner mehr übrig! Wer nicht wegen der Habgier, Arroganz und Dummheit eines Feldherrn und Konsuls auf dem Schlachtfeld gefallen ist, ist entweder verstümmelt und als Soldat nicht mehr zu gebrauchen oder er dient gegenwärtig in den Legionen!
Aber es gibt noch Männer, die bereit und begierig sind, Rom freiwillig zu dienen! Ich meine die besitzlosen Plebejer, jene Bürger Roms und der italischen Städte, die zu arm sind, um eine Stimme in der Zenturienversammlung zu haben, zu arm, um Land oder ein Geschäft zu besitzen, zu arm, um sich als Soldaten ausrüsten zu können! Es ist an der Zeit, Römer, diese Tausende und Abertausende von Männern aufzufordern, daß sie mehr für Rom tun sollen als Schlange stehen, wann immer es billiges Getreide gibt, an Feiertagen in den Zirkus drängen und dort die Zeit totschlagen, Söhne und Töchter in die Welt setzen, die sie nicht ernähren können! Wenn sie kein Vermögen besitzen, sind sie doch nicht wertlos! Ich glaube zum Beispiel nicht, daß sie Rom weniger lieben als die Reichen. Ich glaube sogar, sie lieben Rom aufrichtiger als manches ehrenwerte Mitglied des Senats!«
Marius richtete sich leidenschaftlich auf und breitete die Arme aus, als wolle er ganz Rom umarmen. »Ich bin heute zusammen mit den Tribunen hier, um mir von euch, dem Volk, zu holen, was der Senat mir nicht geben will! Ich bitte euch um das Recht, besitzlose Plebejer als Soldaten anzuwerben! Ich will aus namenlosen Bürgern Soldaten der römischen Legionen machen! Ich biete ihnen eine einträgliche Stellung an, einen ordentlichen Beruf, außerdem eine Zukunft für sie und ihre Familien und die Möglichkeit, zu Ehre und Ansehen zu gelangen. Ich biete ihnen eine Erhöhung ihres Selbstbewußtseins und ihrer Würde und die Chance, bei der Errichtung der römischen Herrschaft eine bedeutende Rolle zu spielen.«
Er hielt inne. Die Menge starrte schweigend zu ihm hinauf. Die Blicke aller waren wie gebannt auf das zornrote Gesicht und die blitzenden Augen des Konsuls gerichtet, auf sein trotzig emporgerecktes Kinn und die stolze Brust. »Die Väter des Senats wollen diesen Abertausenden von Männern ihre Chance vorenthalten! Und mir will man verbieten, ihre Dienste, ihre Loyalität und ihre Liebe zu Rom in Anspruch zu nehmen! Und weshalb? Weil die Senatoren Rom mehr lieben als ich? Mitnichten! Weil sie sich selbst und ihresgleichen mehr lieben als Rom und alles andere! Deshalb komme ich zu euch, zum Volk. Ich bitte euch, auch im Namen Roms, gebt mir, was der Senat mir verweigert! Gebt mir die capite censi, Römer! Gebt mir die Niedrigsten und Ärmsten! Laßt mich aus ihnen Bürger machen, auf die Rom stolz sein kann, Bürger, die Rom nützen, statt ihm zur Last zu fallen, Bürger, die vom Staat ausgerüstet, ausgebildet und bezahlt werden, damit sie dem Staat mit Leib und Seele als Soldaten dienen! Wollt ihr mir geben, was ich verlange? Wollt ihr Rom geben, was Rom braucht?«
Und dann brach der Tumult los. Jubelgeschrei und Füßegetrampel machten jedes weitere Wort unmöglich. Marius hatte es geschafft - eine tausend Jahre alte Tradition stürzte ein. Die neun Volkstribunen sahen einander verstohlen an, in stummem Einverständnis, daß sie kein Veto einlegen würden. Auch sie lebten gern.
Nach Verabschiedung der lex Manlia, die den amtierenden Konsuln das Recht verlieh, Freiwillige unter den capite censi zu werben, sprach Marcus Aemilius Scaurus im Senat. »Gaius Marius ist ein geifernder, tollwütiger Wolf! Gaius Marius ist ein bösartiges Geschwür , das in unserer Mitte wuchert! Gaius Marius ist der sprechendste Grund, patres conscripti, warum wir unsere Reihen gegen Aufsteiger schließen müssen! Nicht einmal einen Platz in der letzten Reihe dieses ehrwürdigen Hauses dürfen sie bekommen! Was, frage ich euch, versteht ein Gaius Marius denn vom römischen Wesen, von den unvergänglichen Idealen und Traditionen des römischen Staates?
Ich bin der Senatsvorsitzende, aber in all den Jahren in diesem Hause, das ich als die Verkörperung des römischen Geistes verehre, bin ich keinem so arglistigen, gemeingefährlichen und erpresserischen Menschen wie Gaius Marius begegnet! Zweimal innerhalb von drei Monaten hat er die geheiligten Vorrechte des Senats mit Füßen getreten und auf dem rohen Altar des Volkes geopfert! Zuerst hat er den Senatsbeschluß aufgehoben, mit dem wir das Kommando des Quintus Caecilius Metellus in Africa verlängert haben. Und jetzt nutzt er die Ahnungslosigkeit des Volkes dazu aus, seinen persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen: Er läßt sich vom Volk ermächtigen, Soldaten anzuwerben. Das ist skrupellos, unsinnig und unannehmbar!«
Die Senatssitzung war gut besucht. Es war Scaurus und anderen einflußreichen Senatoren gelungen, über zweihundertachtzig der dreihundert Senatoren herbeizurufen. Einige hatten eigens das Krankenlager verlassen. Jetzt saßen sie auf ihren kleinen Klappstühlen in den ansteigenden Rängen zu beiden Seiten der curia hostilia wie eine große Schar schneeweißer Hennen, die sich zum Schlafen auf ihren Hühnerstangen niedergelassen haben. Die purpurgesäumten Togen der ehemaligen hohen Magistrate waren die einzige Abwechslung in der blendendweißen, schattenlosen Masse. Die zehn Volkstribunen hatten zwischen den Rängen auf ihrer langen hölzernen Bank neben den amtierenden Magistraten Platz genommen. Die Magistrate - die zwei kurulischen Ädilen, die sechs Prätoren und die beiden Konsuln - saßen aufgrund der Würde ihrer hohen Ämter getrennt von den übrigen Senatoren. Auf einer erhöhten Bühne am Ende des Saals, gegenüber dem gewaltigen, doppelflügligen Bronzeportal, durch das man die Curia betrat, standen die beiden eleganten Elfenbeinstühle der Konsuln.
Auf der Bühne saß neben Konsul Cassius, ein kleines Stück zurückgesetzt, Gaius Marius. Er unterschied sich von den anderen nur durch seine Haltung: Ruhig, zufrieden und mit halbgeschlossenen Augen hörte er Scaurus zu. Die Tat war getan. Er hatte seine Vollmacht. Er konnte es sich leisten, großzügig zu sein.
»Der Senat muß alles tun, was er kann, um die Macht einzuschränken, die Gaius Marius soeben den Plebejern gegeben hat. Die Plebejer sollen bleiben, was sie immer waren - hungrige Mäuler, die zu nichts zu gebrauchen sind und für die wir, die Privilegierten, sorgen, die wir ernähren und tolerieren müssen - ohne im Gegenzug eine Dienstleistung von ihnen zu verlangen. Denn solange die Plebejer nicht für uns arbeiten und keine Aufgabe haben, sind sie nichts weiter als ein Anhängsel, das Weib Roms, das nicht arbeitet, aber auch keine Macht und keine Stimme besitzt. Sie können nichts von uns fordern, das wir ihnen nicht freiwillig geben, denn sie tun nichts. Sie sind nur da.
Wir können uns bei Gaius Marius bedanken, wenn wir jetzt mit den grotesken Problemen einer Armee von Plebejern konfrontiert werden, einer Armee von Berufssoldaten, wie ich sie wohl nennen muß - von Männern, die kein anderes Einkommen haben, keine andere Verdienstmöglichkeit -, Männer, die dann wohl auch nach Abschluß eines Feldzuges in der Armee bleiben wollen und die den Staat enormes Geld kosten werden. Und, eingeschriebene Väter, Männer, die Mitsprache in der römischen Politik fordern werden, weil sie Rom helfen und weil sie für Rom arbeiten. Ihr habt das Volk gehört. Wir vom Senat, die wir den Staatsschatz verwalten und Roms öffentliche Gelder verteilen, müssen jetzt unsere Truhen öffnen und Waffen, Rüstungen und anderes notwendiges Kriegsgerät für die Armee des Gaius Marius kaufen. Das Volk hat uns auch aufgetragen, diese Soldaten regelmäßig zu bezahlen und nicht erst am Ende des Feldzugs, wenn man die Unkosten mit der Beute bestreiten kann. Das Geld, das es kostet, eine Armee von Bettlern ins Feld zu schicken, wird den Staat finanziell ruinieren, daran besteht kein Zweifel.«
»Unsinn, Marcus Aemilius!« unterbrach Marius ihn scharf. »Rom hat so viel Geld in seinen Truhen, daß es gar nicht weiß, wohin damit - denn, patres conscripti, ihr gebt das Geld nie aus! Ihr hortet es nur.«
Die Senatoren begannen zu murren, und einige Gesichter liefen rot an. Scaurus hob den rechten Arm und bat um Ruhe. »Es stimmt«, sagte er, »Roms Truhen sind voll. Aber das ist auch richtig so! Die Truhen sind voll trotz der Unkosten der öffentlichen Arbeiten, die ich als Zensor begonnen habe. Es gab in der Vergangenheit allerdings Zeiten, in denen unsere Truhen gähnend leer waren. Die drei Kriege gegen Karthago brachten uns an den Rand des finanziellen Ruins. Was, so frage ich euch, ist also falsch daran, wenn wir Vorsorge treffen, daß so etwas nie wieder passiert? Solange Roms Truhen voll sind, blüht Rom.«
»Rom wird noch mehr blühen, wenn die besitzlosen Bürger Geld in der Tasche haben, das sie ausgeben können«, sagte Marius.
»Das ist nicht wahr, Gaius Marius!« rief Scaurus erregt. »Die Plebejer werden ihr Geld verprassen. Es wird aus dem Umlauf verschwinden, statt sich zu vermehren.«
Scaurus verließ seinen Stuhl in der ersten Reihe und stellte sich vor das große bronzene Portal. Dort konnten ihn beide Seiten des Hauses sehen und hören.
»Ich sage euch eines, eingeschriebene Väter: In Zukunft müssen wir mit aller Macht Widerstand leisten, wenn ein Konsul mit der lex Manlia Rekruten bei den capite censi anwerben will. Das Volk hat uns nur aufgetragen, die Armee des Gaius Marius zu bezahlen. Der schriftliche Wortlaut des Gesetzes sagt nicht, daß wir auch die nächste Bettlerarmee zahlen müssen, die auf uns zukommt! Hier werden wir den Hebel ansetzen. Soll der künftige Konsul nur nach Belieben Plebejer rekrutieren, um damit die Reihen seiner Legionen aufzufüllen - wenn er uns, die Hüter des römischen Staatsschatzes, bittet, seine Legionen zu bezahlen und auszurüsten, sagen wir nein.«
Gaius Marius erhob sich, um zu antworten. »Eine kurzsichtigere und lächerlichere Haltung würde man schwerlich im Harem eines parthischen Satrapen finden, Marcus Aemilus! Warum bist du so uneinsichtig? Wenn Rom behalten will, was es jetzt hat, muß es in alle Römer investieren, auch in die, die nicht berechtigt sind, in der Zenturienversammlung zu wählen! Statt dessen schicken wir unsere Bauern und kleinen Geschäftsleute in die Schlacht und in den sicheren Tod, wenn wir sie so hirnlosen Idioten wie Carbo und Silanus anvertrauen - ach, du bist auch anwesend, Marcus Junius Silanus? Entschuldige bitte!
Was spricht dagegen, jenen großen Teil der Gesellschaft für den Staat arbeiten zu lassen, der Rom bisher so nützlich war wie dem Stier das Euter? Wenn unser einziger ernsthafter Einwand dagegen ist, daß wir mehr von dem Geld ausgeben müssen, das in unseren Schatztruhen vermodert, dann sind wir nicht nur kurzsichtig, sondern dann sind wir dumm! Du, Marcus Aemilus, bist überzeugt, daß die Plebejer katastrophale Soldaten sein werden. Gut, ich bin überzeugt, sie werden hervorragende Soldaten sein! Sollen wir also weiter darüber stöhnen, daß sie uns Geld kosten werden? Ihnen die Pension am Ende ihres aktiven Dienstes verweigern? Das willst du, Marcus Aemilius!
Ich schlage etwas anderes vor. Ich schlage vor, daß der Staat dem besitzlosen Soldaten am Ende seiner Dienstzeit eine kleine Landparzelle aus öffentlichem Besitz vermacht. Der Veteran kann dieses Land dann bestellen oder verkaufen. Es wäre eine Art Pension. Zugleich wächst unseren dezimierten Kleinbauern dadurch die so dringend benötigte neue Kraft zu. Und das sollte für Rom ein Schaden sein? Männer, Senatskollegen, erkennt ihr nicht, daß Rom nur reicher werden kann, wenn es seinen Reichtum nicht nur mit den Walen, sondern auch mit den Sprotten teilt?«
Aber die Senatoren waren schon wieder empört aufgesprungen, und Konsul Lucius Cassius Longinus, der die Sitzung leitete, wollte einer weiteren Eskalation vorbeugen. Er erklärte die Sitzung für geschlossen und schickte alle nach Hause.
Marius und Sulla machten sich daran, 20 480 Fußsoldaten, 5120 nichtkämpfende Freie, 4 000 nichtkämpfende Sklaven, 2000 Reiter und 2000 Pferdeknechte aufzutreiben.
»Ich übernehme Rom, und du kümmerst dich um Latium«, sagte Marius zufrieden. »Ich bezweifle, daß wir unsere italischen Bundesgenossen überhaupt belästigen müssen. Wir werden es schon schaffen, Lucius Cornelius! Obwohl sie sich so sträuben, wir werden es schon schaffen. Ich habe unseren gemeinsamen Schwiegervater Gaius Julius gebeten, mit den Rüstungs- und Waffenfabrikanten zu verhandeln, und ich lasse seine Söhne aus Africa kommen. Wir können sie hier brauchen. Zwar glaube ich nicht, daß Sextus und der junge Gaius das Zeug zu militärischen Führern haben, aber sie sind ausgezeichnete Befehlsempfänger. Sie arbeiten hart, sind intelligent und loyal.«
Marius ging in sein Arbeitszimmer, wo bereits zwei Männer warteten. Der eine war ein Senator Mitte dreißig, an dessen Gesicht Sulla sich vage erinnern konnte. Der andere war ein junger Bursche von ungefähr achtzehn Jahren.
Marius machte seinen Quästor mit den beiden bekannt.
»Lucius Cornelius, das ist Aulus Manlius. Ich habe ihn gebeten, mir als Legat zu dienen.« Der Senator lächelte. Einer aus dem Patriziergeschlecht Manlius, dachte Sulla. Marius hatte wirklich überall Freunde und Klienten.
»Und dieser junge Mann ist Quintus Sertorius, der Sohn meiner Cousine Maria in Nersia, kurz Ria genannt. Ich habe ihn in meinen persönlichen Stab aufgenommen.« Ein Sabiner, dachte Sulla. Er hatte gehört, daß die Sabiner hervorragende Soldaten waren - unorthodox, aber tapfer und unbeugsam.
»Also gut, an die Arbeit«, drängte Marius. Über zwanzig Jahre hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Nun endlich konnte er seine Vorstellung von der römischen Armee der Zukunft in die Tat umsetzen.
»Wir teilen uns auf. Aulus Manlius, du kümmerst dich um Maultiere, Karren, Ausrüstung, Troß, Verpflegung und Munition. Meine beiden Schwäger müssen jeden Tag eintreffen, sie werden dir helfen. Ich will, daß du Ende März fertig bist und nach Africa auslaufen kannst. Hol dir alle Hilfe, die du brauchst. Mein Vorschlag wäre, zuerst die Männer für den Troß zu suchen und dann die besten von ihnen als Hilfe bei der Arbeit einzusetzen. So sparst du Geld und bildest sie gleich aus.«
Der junge Sertorius sah Marius unverwandt an. Er war ganz offensichtlich von ihm fasziniert, während Sulla, der sich inzwischen an Marius gewöhnt hatte, vor allem von Sertorius fasziniert war. Nicht daß Sertorius sexuell attraktiv gewesen wäre, das nicht. Aber von ihm ging eine Kraft aus, die an einem so jungen Menschen überraschte. Auch physisch ließ er bereits die gewaltigen Kräfte erkennen, die er als Erwachsener haben würde, und vielleicht bestimmte das Sullas Eindruck. Sertorius war großgewachsen und bereits jetzt so muskulös, daß er untersetzt wirkte. Sein eckiger Kopf und der dicke Hals verstärkten diesen Eindruck. Besonders auffällig waren seine hellbraunen Augen: Aus tiefen Höhlen starrten sie ihr Gegenüber bezwingend an.
»Ich selbst will Ende April mit der ersten Abteilung Soldaten aufbrechen«, fuhr Marius fort. Er sah Sulla an. »Du wirst die restlichen Legionen und eine anständige Reiterei organisieren. Wenn du Ende Quintilis auslaufen kannst, bin ich zufrieden.« Er drehte sich zu Sertorius um und grinste. »Und dich halte ich auf Trab, Quintus Sertorius, verlaß dich darauf! Man soll mir nicht nachsagen, daß ich meine Verwandtschaft faulenzen lasse.«
Der Bursche lächelte langsam und gedankenverloren. »Ich liebe es, auf Trab gebracht zu werden, Gaius Marius.«
Das besitzlose Volk Roms strömte in Scharen zu den Anwerbestellen. Rom hatte nie zuvor etwas Vergleichbares erlebt. Und die Senatoren hatten nicht im Traum mit solch großem Zulauf aus einem Teil der Bevölkerung gerechnet, der in ihren Gedanken nur auftauchte, wenn das Getreide knapp war und es um des lieben Friedens willen geraten schien, die hungrigen Plebejermäuler mit billigem Getreide zu stopfen.
Innerhalb weniger Tage waren zwanzigtausend römische Vollbürger rekrutiert - aber Marius ließ die Anwerbestellen nicht schließen.
»Wer kommt, wird genommen«, sagte er zu Sulla. »Metellus hat sechs Legionen. Ich sehe nicht ein, warum ich weniger haben soll - zumal der Staat die Kosten trägt! Schließlich soll es bis auf weiteres die einzige Plebejerarmee bleiben, wenn wir unserem lieben Scaurus glauben dürfen. Und mein Instinkt sagt mir, daß Rom die beiden zusätzlichen Legionen noch brauchen wird. Dieses Jahr können wir sowieso keinen richtigen Feldzug mehr beginnen, konzentrieren wir uns also lieber auf Ausbildung und Ausrüstung der Truppen. Mich freut vor allem, daß diese sechs Legionen ausschließlich aus römischen Bürgern bestehen, und nicht aus italischen Hilfstruppen. Das heißt, wir haben für künftige Jahre immer noch die italischen Plebejer in Reserve.«
Alles verlief nach Plan, was Sulla nicht weiter überraschte, da schließlich Gaius Marius in das Feldherrenzelt eingezogen war. Ende März brach Aulus Manlius von Neapolis nach Utika auf, die Transportschiffe schwer beladen mit Maultieren, ballistae, Katapulten, Waffen, Sätteln, Zaumzeug und tausend anderen Dingen, die eine Armee erst in ein waffenstarrendes Ungetüm verwandeln. Sobald Aulus Manlius in Utika gelandet war, kehrten die Schiffe nach Neapolis zurück und setzten Gaius Marius mit den ersten beiden seiner sechs Legionen über. Sulla blieb in Italien. Er hatte die Aufgabe, die restlichen vier Legionen aufzustellen, sie auszurüsten und die Kavallerie aufzutreiben. Die Suche nach Reitern führte ihn schließlich gen Norden, nach Gallia Cisalpina jenseits des Po. Dort fand er tüchtige Reiter gallisch-keltischer Abstammung.
Nicht nur die plebejischen Soldaten waren neu an Marius’ Armee, es gab auch noch andere Veränderungen. Da die Plebejer nie zuvor gedient hatten und deshalb nicht wußten, wie eine Armee aufgebaut war, konnten sie sich organisatorischen Neuerungen nicht widersetzen oder über sie murren. Der Manipel, die alte taktische Einheit, war seit Jahren zu klein für den Kampf der Legionen gegen die riesigen, ungeordneten Heere des Feindes. Er war deshalb in der Praxis allmählich durch die dreimal so große Kohorte verdrängt worden, aber bis zu dieser Zeit hatte niemand die Legionen auch offiziell in Kohorten statt in Manipel eingeteilt.
Die Arbeit mit einer Plebejerarmee warf allerdings auch unerwartete Probleme auf. Die vermögenden römischen Soldaten alten Stils hatten zumeist lesen, schreiben und rechnen gelernt, und Flaggen, Zahlen, Buchstaben und Symbole ohne Schwierigkeiten erkannt. In Marius’ jetziger Armee konnten die meisten weder lesen noch schreiben und nur wenig rechnen. Sulla teilte die Soldaten deshalb so ein, daß von jeweils acht Mann, die ein Zelt teilten und gemeinsam aßen, wenigstens einer diese Kenntnisse besaß. Er war dann der Vorgesetzte seiner Kameraden und erteilte ihnen Unterricht. Das Lernen ging allerdings nur langsam voran. Deshalb wurde der Abschluß der Ausbildung verschoben, bis die winterlichen Regen in Africa eine Fortsetzung des Feldzugs unmöglich machen würden und Zeit für solche Dinge bliebe.
Marius dachte sich ein einfaches, aber einprägsames Feldzeichen für seine Legionen aus und sorgte dafür, daß alle Soldaten die gebührende Ehrfurcht und Achtung vor dem neuen Zeichen empfanden. Jeder Legion wurde ein schöner silberner Adler mit ausgebreiteten Schwingen auf einer langen, mit Silber beschlagenen Stange übergeben. Der Adler sollte vom aquilifer getragen werden, dem besten Soldaten der ganzen Legion, bekleidet mit einem Löwenfell und einer silbernen Rüstung. Dieser Adler war Marius zufolge das Symbol für Rom, und jeder Soldat mußte einen Eid schwören, lieber zu sterben als zuzulassen, daß der Adler seiner Legion in die Hände des Feindes fiel.
Natürlich wußte Marius genau, was er tat. Nicht umsonst war er Soldat mit Leib und Seele und hatte ein halbes Leben im aktiven Dienst verbracht. Er kannte die Bedürfnisse des gemeinen Soldaten genau - besser als jeder Aristokrat. Seine eigene niedere Herkunft hatte ihn zu einem scharfen Beobachter gemacht, und seine überlegene Intelligenz ermöglichte ihm, aus diesen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Seine Leistungen waren lange unterschätzt worden, und seine unbestreitbaren Fähigkeiten hatten meist nur dem Fortkommen seiner Vorgesetzten gedient. Gaius Marius hatte sehr lange warten müssen, bis er zum ersten Mal Konsul wurde - aber er hatte in dieser Zeit viel nachgedacht.
Die Reaktion von Quintus Caecilius Metellus auf den Aufruhr, den Marius in Rom verursacht hatte, überraschte sogar seinen Sohn. Metellus hatte immer als nüchterner, beherrschter Mensch gegolten. Als er aber erfuhr, daß man ihm den Oberbefehl in Africa genommen und Marius übertragen hatte, verlor er in aller Öffentlichkeit die Nerven. Er heulte und jammerte, raufte sich die Haare und schlug sich an die Brust, und das alles nicht in seinen privaten Amtsräumen, sondern mitten auf dem Marktplatz von Utika unter den faszinierten Blicken der punischen Bevölkerung. Auch nachdem der erste Kummer vorüber war und er sich schmollend in seine Residenz zurückgezogen hatte, reichte die bloße Erwähnung des Namens Marius aus, ihn erneut in Heulkrämpfe zu stürzen, zwischen denen er unverständliche Anspielungen hervorstieß - Numantia, irgendwelche Drei, gewisse Schweine...
Ein Brief des neugewählten Konsuls Lucius Cassius Longinus trug wesentlich dazu bei, daß sich seine Laune wieder besserte. Die nächsten Tage widmete er der Entlassung seiner sechs Legionen, nicht ohne zuvor die Soldaten zu verpflichten, sich gleich nach ihrer Landung in Italien in den Dienst von Lucius Cassius zu begeben. Denn Cassius hatte Metellus in dem Brief mitgeteilt, er sei entschlossen, in Gallia Transalpina die Germanen und die mit ihnen verbündeten Volsker-Tektosager zu schlagen und damit den Aufsteiger Marius in Africa auszustechen. Marius habe ja schließlich keine Truppen.
Metellus wußte nicht, daß Marius dieses Problem bereits gelöst hatte, und er sollte es erst bei seiner Ankunft in Rom erfahren. Ende März verließ er Utika. Seine sechs Legionen nahm er mit, nur Publius Rutilius Rufus blieb zu Marius’ Empfang zurück. Metellus zog zur gut hundert Meilen südöstlich gelegenen Hafenstadt Hadrumentum und überließ sich seinen trübsinnigen Gedanken, bis man ihm meldete, Marius sei in der Provinz eingetroffen, um den Oberbefehl zu übernehmen.
Als Marius in den Hafen einfuhr, stand nur Rutilius zum Empfang am Pier. Er übergab Marius offiziell die Provinz.
»Wo ist unser Freund Schweinebacke?« fragte Marius, als sie zum Palast des Statthalters schlenderten.
»Der sitzt mit seinen Legionen in Hadrumentum und hadert mit dem Schicksal«, seufzte Rutilius. »Er hat beim Jupiter Stator geschworen, daß er dich weder sehen noch sprechen wird.«
»So ein Schwachkopf.« Marius grinste. »Hast du meinen Brief über die capite censi und die neuen Legionen bekommen?«
»Natürlich. Aulus Manlius singt Loblieder auf dich, seit er hier eingetroffen ist, ich kann es schon gar nicht mehr hören. Eine geniale Idee, Gaius Marius.« Dann sah Rutilius Marius ernst an. »Sie werden dich für deine Kühnheit bezahlen lassen, alter Freund. Darauf kannst du dich verlassen!«
»Das glaube ich nicht. Ich habe sie jetzt dort, wo ich sie haben wollte - und bei den Göttern, ich schwöre, es wird so bleiben, solange ich lebe! Ich werde den Senat in den Staub treten, Publius Rutilius.«
»Das wird dir nicht gelingen. Am Ende wird der Senat dich in den Staub treten.«
»Niemals!«
Und von dieser Überzeugung konnte Rutilius Rufus ihn nicht abbringen.
Utika zeigte sich von seiner besten Seite. Die flachen Häuser waren nach den winterlichen Regenfällen frisch verputzt worden, und die ganze Stadt leuchtete in strahlendem Weiß. Zwischen den Häusern blühten Bäume, es war angenehm warm, und farbenfroh gekleidete Menschen bevölkerten sämtliche Straßen. Die kleinen Plätze waren mit Buden und Cafés besetzt, hochgewachsene Bäume spendeten Schatten, das Pflaster war sauber gefegt. Utika hatte wie die meisten römischen, ionischen und punischen Städte eine funktionierende Kanalisation, öffentliche Bäder für die Bevölkerung und eine gute Trinkwasserversorgung. Aquädukte führten das Wasser von den sanft geschwungenen blauen Bergen her, die in der Ferne anstiegen.
»Publius Rutilius, was gedenkst du zu tun?« fragte Marius. Sie hatten im Arbeitszimmer des Statthalters Platz genommen und sahen belustigt zu, wie die Sklaven, die bisher Metellus bedient hatten, jetzt vor Marius dienerten und katzbuckelten. »Willst du als mein Legat hierbleiben? Ich habe Aulus Manlius diesen besten Posten, den ich zu vergeben habe, noch nicht angeboten.«
Rutilius schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Gaius Marius, ich fahre nach Rom zurück. Schweinebacke geht, deshalb ist auch meine Zeit hier zu Ende. Außerdem habe ich genug von Africa. Und ganz offen gesagt, lege ich keinen Wert darauf, den armen Jugurtha in Ketten vor mir zu sehen - denn so wird er enden, jetzt, wo du das Kommando übernommen hast. Nein, da bevorzuge ich Rom und etwas Muße, Zeit, um zu schreiben und Freundschaften zu pflegen.«
»Und wenn ich dich eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft bitten sollte, fürs Konsulat zu kandidieren - zusammen mit mir?«
Rutilius sah ihn erstaunt, aber aufmerksam an. »Was führst du im Schilde?«
»Mir wurde prophezeit, lieber Publius Rutilius, daß ich nicht weniger als siebenmal Konsul von Rom sein werde.«
Jeder andere hätte vermutlich gelacht oder gespottet oder Marius einfach nicht geglaubt. Nicht so Publius Rutilius Rufus. Er kannte Marius. »Ein großes Schicksal. Es erhebt dich über alle anderen, und ich bin zu sehr Römer, als daß ich das gutheißen könnte. Aber wenn dir dieses Schicksal bestimmt ist, kannst du nichts dagegen tun, genausowenig wie ich. Ob ich gerne Konsul wäre? Ja, natürlich! Ich betrachte es als meine Pflicht, den Ruhm meiner Familie zu mehren. Doch spare mich für ein Jahr auf, in dem du mich wirklich brauchst, Gaius Marius.«
Marius nickte zufrieden. »Das werde ich.«
Auch die beiden africanischen Könige Bocchus und Jugurtha erfuhren, daß Marius den Oberbefehl in Africa übernommen hatte. Bocchus bekam eine Heidenangst. Er setzte sich sofort ins heimatliche Mauretanien ab und ließ Jugurtha allein zurück. Jugurtha freilich konnte weder die Flucht seines Schwiegervaters noch Marius’ neue Stellung einschüchtern. Er warb bei den Gaetulern Soldaten an und wartete darauf, daß Marius den ersten Schritt tun würde.
Ende Juni waren vier der sechs neuen Legionen in der römischen Provinz Africa eingetroffen. Zufrieden mit dem Stand ihrer Ausbildung, führte Marius sie nach Numidien. Dort ließ er sie Städte plündern, Felder verwüsten und kleinere Gefechte kämpfen. Es war die Feuertaufe für seine plebejischen Rekruten und schweißte sie zu einer ernstzunehmenden Armee zusammen. Als Jugurtha jedoch hörte, wie klein die römische Streitmacht war und daß sie aus plebejischen Freiwilligen bestand, beschloß er, den Kampf zu wagen und Cirta zurückzuerobern.
Marius traf bei Cirta ein, bevor die Stadt fiel, und zwang Jugurtha zur Schlacht. Endlich konnte die ›Bettlerarmee‹ ihren Kritikern zeigen, was sie taugte. Ein überglücklicher Marius berichtete nach der Schlacht in einem Brief an den Senat, wie glänzend sich seine Plebejer geschlagen hatten. Zwar hätten sie keine persönlichen Besitzinteressen in Rom, aber sie hätten deshalb um kein Haar weniger tapfer und begeistert gekämpft. Marius’ Freiwilligenarmee schlug Jugurtha tatsächlich so vernichtend, daß der König Schild und Speer wegwarf und davonlief.
Als König Bocchus davon erfuhr, ließ er Marius durch einen Boten bitten, dieser möge ihn, Bocchus, wieder als Klient Roms aufnehmen. Marius antwortete nicht, und Bocchus schickte weitere Boten. Schließlich empfing Marius eine Abordnung des Königs, und Bocchus erfuhr, daß Marius nicht mit ihm verhandeln wolle. Ihm blieb nichts anderes übrig, als finster vor sich hinzubrüten und zu grübeln, warum er Jugurthas Schmeicheleien einstmals erlegen war.
Marius hatte alle Hände voll zu tun, Jugurtha jeden besiedelten Flecken numidischen Landes abzunehmen. Der König sollte sich weder in den reichen Flußtälern noch in den Küstengebieten seines Reiches Rekruten, Nachschub oder Geld und Gold beschaffen können. Nur zu den Berberstämmen des Inlands, den Gaetulern und Garamanten, konnte Jugurtha jetzt noch fliehen, nur dort konnte er noch Soldaten auftreiben, und nur dort waren seine Waffen und sein Gold vor den Römern sicher.
Im Juni gebar Julilla nach siebenmonatiger Schwangerschaft ein kränkliches Mädchen, und Ende Quintilis kam Julia nach neun Monaten mit einem großen, gesunden Jungen nieder, einem Bruder für den kleinen Marius. Aber nur Julillas kränkelndes Kind überlebte. Julias kräftiger zweiter Sohn starb, als in der Sommerhitze des Sextilis übelriechende Dämpfe zu den Hügeln Roms aufstiegen und eine Typhusepidemie in der Stadt ausbrach.
»Ich habe nichts gegen ein Mädchen«, sagte Sulla zu seiner Frau. »Aber bevor ich nach Africa abfahre, bist du wieder schwanger, und diesmal mit einem Jungen.«
Julilla war selbst unglücklich, daß sie Sulla nur ein greinendes Mädchen geschenkt hatte, und machte sich mit Feuereifer an die Aufgabe, einen Jungen zu bekommen. Eigenartigerweise hatte sie ihre erste Schwangerschaft und die Geburt ihrer Tochter weit besser überstanden als ihre Schwester Julia. Dabei war Julilla dünn, schwach und ständig gereizt. Die stabiler gebaute und seelisch weit besser gegen die Stürme von Ehe und Mutterschaft gewappnete Julia hatte die zweite Schwangerschaft viel Kraft gekostet.
»Wenigstens haben wir jetzt ein Mädchen, das wir später im Bedarfsfall verheiraten können«, sagte Julilla zu Julia. Es war Herbst. Julias zweiter Sohn war soeben gestorben, und Julilla war wieder schwanger. »Hoffentlich wird es diesmal ein Junge.« Julillas Nase lief. Sie schniefte und nestelte nach einem leinenen Taschentuch.
Julia trauerte um ihren Sohn und konnte nicht mehr so viel Geduld und Mitleid für ihre Schwester aufbringen wie früher. Inzwischen verstand sie, warum ihre Mutter Marcia einmal bitter bemerkt hatte, Julilla sei für immer verdorben.
Eigenartig, daß man neben der eigenen Schwester aufwachsen konnte, ohne je ganz zu verstehen, was mit ihr vorging. Julilla alterte im Eiltempo - allerdings nicht körperlich oder geistig. Es war mehr ein seelischer Prozeß der Selbstzerstörung. Das Hungern hatte etwas in ihr kaputtgemacht, ihr die Fähigkeit genommen, glücklich zu sein. Vielleicht hatte es diese Julilla aber auch unter dem Gekicher und dem Schabernack, den liebenswerten mädchenhaften Possen, die ihre Familie so entzückt hatten, schon immer gegeben.
Man möchte glauben, daß es die Krankheit war, die diese Veränderung verursacht hat, dachte Julia traurig. Man will unbedingt eine äußere Ursache finden, weil man sonst zugeben müßte, daß die Schwäche von Anfang an da war.
Julilla würde immer eine Schönheit bleiben mit ihrer wunderbaren bernsteinfarbenen Haut, ihren eleganten Bewegungen und ihrer makellosen Figur. Heute zeichneten sich allerdings dunkle Ringe unter ihren Augen ab. Zwischen Wangen und Nase hatten sich zwei tiefe Linien eingegraben, und ihre Mundwinkel hingen nach unten. Ja, sie sah unzufrieden und ruhelos aus. Ihre Stimme hatte einen klagenden Unterton, und sie stieß immer noch diese tiefen Seufzer aus, eine unbewußte Angewohnheit, die aber trotzdem ärgerlich war. Wie ihr Schniefen.
»Hast du Wein da?« fragte Julilla plötzlich.
Julia sah sie verblüfft an. Sie war schockiert und ärgerte sich zugleich über ihre prüde Reaktion. Schließlich tranken heutzutage viele Frauen Wein! Als Zeichen sittlicher Verkommenheit galt das nur noch in Kreisen, die Julia selbst unerträglich intolerant und bigott fand. Und trotzdem, wenn die jüngere Schwester, kaum zwanzig Jahre alt und aus dem Hause eines Gaius Julius Caesar, am hellen Morgen nach Wein fragte, ohne daß eine Mahlzeit in Sicht war - dann war das doch schockierend!
»Natürlich habe ich Wein da«, erwiderte Julia.
»Ein Glas wäre jetzt wunderbar.« Julilla hatte lange mit sich, gerungen, ob sie fragen sollte. Natürlich provozierte sie damit einen Kommentar, und sie setzte sich ungern der Mißbilligung ihrer älteren, stärkeren und erfolgreicheren Schwester aus. Aber sie hatte sich nicht beherrschen können. Früher oder später mußte die Rede sowieso auf das heikle Thema kommen.
Julilla stellte fest, daß sie ihrer Familie immer überdrüssiger wurde. Sie fand die ganze Sippschaft uninteressant, fad und langweilig. Besonders die allseits bewunderte Julia, die Gattin des Konsuls, die so schnell zu einer der geachtetsten jungen Ehefrauen Roms aufgerückt war. Nie ein falscher Schritt - so war Julia. Mit ihrem Schicksal zufrieden, verliebt in ihren entsetzlichen Gaius Marius, eine vorbildliche Hausfrau, eine treusorgende Mutter. Wie entsetzlich langweilig!
»Trinkst du oft morgens Wein?« fragte Julia so beiläufig wie möglich.
Die Antwort waren ein Schulterzucken, eine fahrige Bewegung der Hände und ein bohrender Blick, mit dem Julilla den versteckten Vorwurf zur Kenntnis nahm und zugleich beiseite wischte. »Sulla tut es, und er hat gern Gesellschaft.«
»Sulla? Du nennst ihn bei seinem cognomen?«
Julilla lachte. »Ach Julia, du bist so altmodisch! Natürlich nenne ich ihn bei seinem Beinamen! Wir sind doch nicht im Senat! In unserem Bekanntenkreis verwendet heute jeder den Beinamen, das ist schick. Außerdem mag Sulla es, wenn ich ihn so nenne. Er meint, wenn jemand Lucius Cornelius zu ihm sagt, fühlte er sich gleich tausend Jahre älter.«
»Dann bin ich wirklich altmodisch, das muß ich sagen.« Julia versuchte wieder, beiläufig zu klingen. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf, und sie lächelte. Vielleicht lag es am Licht, aber sie sah jetzt jugendlicher aus als ihre jüngere Schwester - und schöner.
»Aber wenigstens habe ich eine Entschuldigung! Gaius Marius hat überhaupt keinen Beinamen.«
Der Wein kam. Julilla goß sich ein Glas voll. Den Wasserkrug aus Alabaster ließ sie unbeachtet stehen. »Darüber habe ich oft nachgedacht«, sagte sie. Sie nahm einen großen Schluck. »Wenn Gaius Marius Jugurtha besiegt hat, findet er sicher einen eindrucksvollen Beinamen für sich. Daß aber auch dieser eingebildete Sauertopf Metellus den Senat überreden konnte, ihm einem Triumph zu gewähren und ihm den Beinamen Numidicus zu verleihen! Gaius Marius hätte diesen Beinamen bekommen müssen!«
»Metellus Numidicus hat sich seinen Triumph verdient, Julilla«, belehrte Julia ihre Schwester. »Er hat viele Numider getötet und große Beute nach Hause gebracht. Und wenn er sich Numidicus nennen will und der Senat sagt ja, das darf er, dann spricht doch nichts dagegen, oder? Außerdem sagt Gaius Marius immer, daß der schlichte Name seines Vaters für ihn gut genug sei. Gaius Marius gibt es nur einmal, Caecilius Metellus heißen Dutzende. Wart’s ab - mein Mann hat es gar nicht nötig, sich durch so etwas Künstliches wie einen Beinamen von der Masse abzuheben. Mein Mann wird der Erste Mann in Rom sein - allein deshalb, weil er mehr kann als andere.«
Julilla fand es unerträglich, wenn Julia ihren Gaius Marius so über den grünen Klee lobte. Ihre Gefühle gegenüber ihrem Schwager waren eine Mischung aus Dankbarkeit für seine Großzügigkeit und Geringschätzung. Die Geringschätzung hatte sie von ihren neuen Freunden übernommen, die Marius und mit ihm seine Frau als Aufsteiger verachteten. Julilla schenkte sich nochmals Wein ein und wechselte das Thema.
»Der Wein ist nicht übel, Schwester. Ich stelle fest, Marius kann sich einen guten Tropfen leisten.« Und nach einer kleinen Pause fragte sie: »Lebst du Marius?« Ihr war plötzlich eingefallen, daß sie das gar nicht wußte.
Julia errötete! Aus Ärger, daß sie sich verraten hatte, klang ihre Antwort trotzig: »Natürlich liebe ich ihn! Und wenn du schon fragst: Ich vermisse ihn sehr. Das ist doch wohl nichts Schlimmes, selbst in deinen Kreisen! Liebst du Lucius Cornelius etwa nicht?«
»Doch!« Jetzt fühlte Julilla sich angegriffen. »Aber ich sage dir eins: Ich vermisse ihn nicht, wenn er fort ist! Und er kann ruhig zwei oder drei Jahre fortbleiben. Dann bin ich wenigstens nicht gleich wieder schwanger, wenn ich dieses Kind geboren habe.« Sie schniefte. »Andauernd mit einem Talent Übergewicht herumzuwatscheln entspricht nicht meiner Vorstellung von Glück. Ich möchte wie eine Feder schweben. Ich hasse es, so schwerfällig zu sein! Seit meiner Heirat bin ich entweder schwanger oder erhole mich von einer Schwangerschaft. Igitt!«
Julia mußte sich beherrschen. »Schwanger zu sein ist deine Aufgabe«, wies sie ihre Schwester zurecht.
»Warum können sich Frauen nie aussuchen, was sie tun wollen?« fragte Julilla weinerlich.
»Jetzt sei nicht albern!« brauste Julia auf.
»Aber es ist schrecklich, so leben zu müssen«, beharrte Julilla störrisch.lte angestrengt. »Komm, hören wir auf zu streiten, Julia! Es ist schon schlimm genug, daß Mama nicht nett zu mir Endlich begann der Wein zu wirken. Mit einem Mal hellte sich ihre Miene auf, und sie läche ist.«
Julilla hat recht, dachte Julia. Marcia hatte Julilla ihr Benehmen gegenüber Sulla nie vergeben, und keiner wußte warum. Vaters Verstimmung hatte nur wenige Tage gedauert. Dann war er wieder aufgetaut und hatte die langsam genesende Julilla mit seiner alten Zuneigung behandelt, aber Mutter war verstimmt geblieben. Arme, arme Julilla! Legte Sulla wirklich Wert darauf, daß sie morgens mit ihm Wein trank, oder war das nur eine Entschuldigung? Jetzt nannte sie ihn selbst schon Sulla! Respektlos.
Sulla traf am Ende der ersten Septemberwoche mit den restlichen beiden Legionen und zweitausend hervorragenden keltischen Reitern aus Gallia Cisalpina in Utika ein. Marius steckte mitten in den Vorbereitungen zu einem größeren Vorstoß nach Numidien. Er begrüßte Sulla freudig und kam sofort auf die Arbeit zu sprechen
»Jugurtha rennt vor mir davon«, erzählte er aufgeräumt, »dabei hatte ich noch gar nicht meine ganze Armee. Jetzt bist du da, Lucius Cornelius, und jetzt legen wir richtig los.«
Sulla übergab Marius Briefe von Julia und Gaius Julius Caesar. Dann faßte er sich ein Herz und kondolierte Marius zum Tod seines zweiten Sohnes, den der Feldherr nie gesehen hatte.
»Mein aufrichtiges Beileid zum Tod des kleinen Marcus Marius«, sagte er, etwas unsicher und fast schon verlegen, weil sich seine Tochter Cornelia Sulla so zäh und hartnäckig ans Leben klammerte.
Ein Schatten verdüsterte Marius’ Gesicht, aber nur für einen Augenblick. »Ich danke dir, Lucius Cornelius. Kinder kann ich auch später noch zeugen, und ich habe ja den kleinen Marius. Sind er und meine Frau wohlauf?«
»Das sind sie, und auch die anderen Mitglieder der Familie Julius Caesar.«
»Gut!« Die übrigen privaten Angelegenheiten wurden auf später vertagt. Marius legte die Post auf einen Nebentisch und ging zum Schreibtisch, auf dem eine riesige Karte aus speziell behandeltem Kalbsleder ausgebreitet war. »Du kommst gerade recht, um Numidien aus nächster Nähe kennenzulernen. In acht Tagen marschieren wir nach Capsa.« Aufmerksam musterten seine braunen Augen Sullas Gesicht. Es war fleckig, und die Haut schälte sich in großen Flächen. »Ich schlage vor, Lucius Cornelius, du stattest zuvor den Märkten von Utika einen Besuch ab und legst dir einen stabilen Hut mit einer extrabreiten Krempe zu. Man sieht dir an, daß du den ganzen Sommer in der Sonne Italiens unterwegs warst. In Numidien scheint die Sonne noch heißer und erbarmungsloser. Ohne Hut verbrennst du hier wie Zunder.«
Marius hatte recht. Sullas makellos weiße Haut, bisher durch ein Leben in überwiegend geschlossenen Räumen geschützt, hatte sichtbaren Schaden erlitten in den Monaten, die er durch Italien gereist war, Truppen ausgebildet und selbst heimlich gelernt hatte, was ihm noch zum Soldaten fehlte. Sein Stolz hatte Sulla nicht gestattet, sich in den Schatten zurückzuziehen, wenn die anderen in der prallen Sonne exerzierten. Und Stolz war es auch, daß er den attischen Helm getragen hatte, wie es seinem hohen Rang entsprach. Diese Kopfbedeckung schützte das Gesicht in keinster Weise vor der Sonne. Der schlimmste Sonnenbrand war vorüber, aber Sullas helle Haut wurde nicht braun. Die verheilten Stellen waren so weiß wie eh und je. Wenigstens waren seine Arme glimpflicher davongekommen als sein Gesicht. Vielleicht würden sich die Arme und Beine mit anhaltender Bestrahlung allmählich an die Sonne gewöhnen. Aber sein Gesicht? Nie.
Marius spurte, was in Sulla vorging bei dem Gedanken, mit einem breitkrempigen Hut auf den Feldzug zu gehen. Er setzte sich hin und deutete auf das Tablett mit dem Wein. »Lucius Cornelius, seit ich mit siebzehn in die Legionen eintrat, bin ich immer wieder aus dem einen oder anderen Grund ausgelacht worden. Zuerst war ich zu mager und zu klein, dann zu groß und zu schwerfällig. Ich konnte kein Griechisch. Ich war ein Italiker, kein Römer. Ich verstehe deshalb, wie es dich demütigt, solch eine empfindliche helle Haut zu haben. Aber für mich als deinen Feldherrn ist es wichtiger, daß du gesund und munter bist, als daß du nach außen hin unbedingt etwas darstellst, von dem du glaubst, es deinem Rang schuldig zu sein. Kauf dir diesen Hut! Binde ihn mit dem Halstuch einer Frau fest oder mit Bändern oder meinetwegen auch nur mit einer goldpurpurnen Schnur. Und lach über die anderen! Mach absichtlich eine Schau daraus. Du wirst feststellen, daß es bald niemandem mehr auffällt. Außerdem rate ich dir, eine Salbe oder Creme zu beschaffen, die so dick ist, daß sie deine Haut vor der Sonne schützt. Reib dich damit ein. Und wenn die Salbe nach Parfüm stinkt, ist das schlimm?«
Sulla nickte grinsend. »Du hast recht, und dein Rat ist trefflich. Ich werde ihn befolgen, Gaius Marius.«
»Gut.«
Sie schwiegen. Marius war unruhig und gereizt, aber Sulla merkte, daß diese Gereiztheit nichts mit ihm zu tun hatte. Und auf einmal wußte er den Grund - hatte nicht auch ihn derselbe Gedanke gequält, und litt nicht ganz Rom darunter?
»Die Germanen«, sagte Sulla.
Marius nickte. »Die Germanen.« Er streckte die Hand nach seinem Becher mit stark verdünntem Wein aus. »Woher sind sie gekommen, Lucius Cornelius, und wohin ziehen sie?«
Sulla schauderte. »Sie ziehen nach Rom, Gaius Marius. Wir alle fühlen es in unseren Knochen. Woher sie kommen, wissen wir nicht. Vielleicht sind sie die fleischgewordene Nemesis. Wir wissen nur, daß sie keine Heimat haben, und wir fürchten, daß sie unsere Heimat zu ihrer Heimat machen wollen.«
»Sie wären Narren, wenn sie das nicht wollten«, erwiderte Marius düster. »Ihre Einfälle in Gallien sind nur ein Vorspiel, Lucius Cornelius. Sie warten noch ab und sammeln Mut. Sie mögen Barbaren sein, aber auch Barbaren wissen, daß sie zuerst gegen Rom ziehen müssen, wenn sie am Mittelmeer siedeln wollen. Die Germanen werden kommen.«
»Ich stimme dir zu. Aber du und ich, wir sind nicht allein. Ganz Rom fühlt in diesen Tagen so. Eine schreckliche Sorge hat sich breitgemacht, und eine noch schrecklichere Angst vor dem Unvermeidlichen. Auch unsere Niederlagen rütteln das Volk nicht auf. Alles scheint sich gegen uns und zugunsten der Germanen zu verschwören. Sogar im Senat redet man schon, als wäre unser Untergang bereits besiegelt. Einige behaupten, die Germanen seien ein Urteil der Götter.«
Marius seufzte. »Kein Urteil der Götter, aber eine Prüfung.« Er stellte den Becher hin und faltete die Hände. »Erzähl mir von Lucius Cassius. Die offiziellen Berichte sagen mir wenig, sie klingen so gestelzt.«
Sulla zog eine Grimasse. »Lucius Cassius hat die sechs Legionen übernommen, die Metellus aus Africa zurückbrachte - was sagst du übrigens zu ›Numidicus‹? -, und er marschierte mit ihnen auf der Via Domitia bis Narbo. Dort ist er wohl nach acht Wochen zu Beginn des Quintilis eingetroffen. Die Soldaten waren ausgeruht, und er hätte schneller vorankommen können, aber keiner wird es ihm verdenken, daß er sie am Anfang eines aller Voraussicht nach anstrengenden Feldzugs schonen wollte. Dank der Entscheidung von Metellus Numidicus, keinen einzigen Soldaten in Africa zurückzulassen, lagen alle Legionen des Cassius zwei Kohorten über der Sollstärke. Er hatte also an die vierzigtausend Fußsoldaten und eine Reiterei, die er auf dem Marsch noch durch unterworfene Gallier verstärkte - insgesamt rund dreitausend Reiter. Eine große Armee.«
Marius grunzte. »Gute Soldaten.«
»Ich weiß. Ich habe sie sogar gesehen, als sie das Tal des Po zum Mons-Genava-Paß hinaufmarschierten. Damals rekrutierte ich Kavallerie. Und du wirst mir vielleicht nicht glauben, Gaius Marius, aber ich hatte bis dahin noch nie eine römische Armee marschieren sehen, Kohorte auf Kohorte, alle voll bewaffnet, ausgerüstet und mit dem entsprechenden Troß. Ich werde den Anblick nie vergessen!« Sulla seufzte. »Auf jeden Fall... Die Germanen scheinen sich mit den Volsker-Tektosagern verständigt zu haben. Die Tektosager behaupten, sie seien mit den Germanen verwandt, und haben den Germanen Land im Norden und Osten von Tolosa gegeben.«
»Ich muß gestehen, daß mir die Gallier fast so rätselhaft sind wie die Germanen, Lucius Cornelius.« Marius beugte sich vor. »Den Berichten zufolge gehören Gallier und Germanen aber nicht derselben Rasse an. Warum behaupten die Tektosager dann, sie seien mit den Germanen verwandt? Die Tektosager gehören ja nicht einmal mehr zur Provinz Gallia Narbonensis. Sie leben in der Gegend um Tolosa, und das schon seit der Zeit, als Spanien noch nicht uns gehörte. Sie sprechen Griechisch und treiben Handel mit uns. Also warum?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sulla. »Niemand scheint es zu wissen.«
»Entschuldige die Unterbrechung, Lucius Cornelius. Fahre fort.«
»Lucius Cassius marschierte von Narbo an der Küste auf der guten Straße des Gnaeus Domitius landeinwärts und stellte seine Armee auf einem geeigneten Gelände unweit von Tolosa zum Kampf auf. Die Tektosager hatten sich inzwischen vollständig mit den Germanen verbündet, uns stand also eine gewaltige Streitmacht gegenüber. Lucius Cassius zwang sie jedoch am richtigen Ort zur Schlacht und verpaßte ihnen einen gehörigen Denkzettel. Wie für Barbaren typisch, blieben die Germanen und Gallier nach ihrer Niederlage nicht in der Nähe. Sie rannten um ihr Leben, bloß möglichst weit weg von Tolosa und unserer Armee.«
Sulla machte eine Pause, runzelte die Stirn, nahm einen Schluck Wein und stellte den Becher wieder ab. »Das hat mir übrigens Popillius Laenas selbst erzählt. Er traf mit dem Schiff von Narbo ein, kurz bevor ich abfuhr.«
»Der arme Tropf. Der Senat wird ihn zum Sündenbock machen.«
»Natürlich.« Sulla zog die rotblonden Brauen in die Höhe.
»In den Berichten steht, daß Cassius die flüchtenden Barbaren verfolgte«, sagte Marius.
Sulla nickte. »Das ist richtig. Sie flohen zu beiden Seiten der Garonne in Richtung Ozean - als Cassius sie wegrennen sah, waren sie nur noch ein chaotischer Haufen. Wahrscheinlich hielt Cassius sie deshalb für sehr dumme und einfältige Barbaren. Als er die Verfolgung aufnahm, hielt er es nicht einmal für nötig, das Heer in geschlossener Formation marschieren zu lassen.«
»Er hat die Legionen nicht in Schlachtordnung marschieren lassen?« fragte Marius ungläubig.
»Nein. Er tat so, als wäre die Verfolgung lediglich ein normaler Marsch. Er nahm den gesamten Troß mit, sogar die Wagen und alles, was flüchtende Germanen zurückgelassen hatten. Du weißt ja, daß die römische Straße in Tolosa endet. Das Heer kam auf dem Marsch entlang der Garonne durch Feindesland sehr langsam voran. Cassius kümmerte sich nur darum, wie er den Troß schützen konnte.« »Warum hat er den Troß nicht in Tolosa gelassen?« Sulla zuckte die Schultern. »Anscheinend hat er den Tektosagern nicht getraut, die bei Tolosa zurückgeblieben waren. Wie auch immer, als er entlang der Garonne bis Burdigala vorgestoßen war, hatten die Germanen und Gallier mindestens fünfzehn Tage Zeit gehabt, sich von ihrer Niederlage zu erholen. Sie verkrochen sich in Burdigala. Burdigala scheint eine deutlich größere Siedlung als das durchschnittliche gallische oppidum zu sein, ist außerdem schwer befestigt und ein einziges Waffenarsenal. Der dort ansässige Stamm wollte keine römische Armee im Land, deshalb half er den Germanen und Galliern auf jede erdenkliche Weise. Er verstärkte sie durch eigene Soldaten und bot ihnen Schutz in Burdigala. Und dann lockten sie Lucius Cassius listig in einen Hinterhalt.«
»Der Trottel!« stöhnte Marius.
»Unsere Armee hatte das Lager nicht weit im Osten von Burdigala aufgeschlagen. Cassius beschloß, die Stadt anzugreifen. Den Troß ließ er im Lager zurück, bewacht von etwa einer halben Legion - Verzeihung, ich meine fünf Kohorten - ich hoffe, ich lerne das eines Tages noch!«
Marius lächelte. »Das wirst du, Lucius Cornelius, ich garantiere es dir. Aber weiter.«
»Cassius muß felsenfest davon überzeugt gewesen sein, auf dem Weg nach Burdigala auf keinen nennenswerten Widerstand zu treffen. Er ließ das Heer deshalb in einfacher Kolonne marschieren, nicht im geschlossenen Viereck, und er sandte auch keine Kundschafter aus. Unsere gesamte Armee lief in einen perfekt gelegten Hinterhalt, und die Germanen und Gallier löschten die Legionen buchstäblich aus. Cassius selbst und sein erster Legat fielen in der Schlacht. Popillius Laenas schätzt, daß insgesamt etwa fünfunddreißigtausend Römer bei Burdigala ihr Leben ließen.«
»Popillius Laenas hatte demnach das Kommando über Troß und Lager?« fragte Marius.
»Richtig. Er hörte den Schlachtlärm, der vom Wind in das nur nur wenige Meilen entfernte Lager getragen wurde. Von der Katastrophe erfuhr er erst, als eine Handvoll unserer Männer in panischer Flucht dort eintrafen. Er wartete und wartete, aber es kamen keine weiteren Soldaten. Statt dessen kamen die Germanen und die Gallier. Popillius sagt, es seien Tausende und Abertausende siegestrunkener, rasender Barbaren gewesen. Sie hätten die Köpfe römischer Legionäre auf Speere gespießt und wilde Kriegsgesänge gebrüllt. Sie seien alle Riesen, und ihre Haare würden ihnen als dicke gelbe Zöpfe über die Schultern hängen oder steif vom Kopf abstehen, weil sie sie mit Lehm eingerieben hätten. Ein schrecklicher Anblick, sagte Laenas.«
»Ein Anblick, den wir in Zukunft noch öfter zu sehen bekommen werden, Lucius Cornelius«, sagte Marius grimmig. »Aber fahre fort.«
»Es stimmt, Laenas hätte kämpfen können. Aber wozu? Er hielt es für sinnvoller, wenigstens den kläglichen Rest unserer Armee für die Zukunft zu retten. Was er dann auch tat. Er ließ die weiße Flagge hissen und ging persönlich mit umgedrehtem Speer und leerer Scheide vor das Lager, um mit den Häuptlingen der Barbaren zu verhandeln. Sie verschonten ihn und den ganzen Rest der Armee. Sie ließen uns sogar den Troß, weil sie uns zeigen wollten, für was für ein gieriges Pack sie uns halten! Sie nahmen sich nur, was Cassius zuvor ihnen weggenommen hatte.« Sulla holte Luft. »Aber sie ließen Popillius Laenas und die Legionäre unter dem Joch durchgehen. Dann begleiteten sie sie nach Tolosa. Und dort überzeugten sie sich, daß die Römer auch wirklich nach Narbo weitermarschierten.«
»Wir sind in den letzten Jahren viel zu oft unter dem Joch gegangen.« Marius ballte die Fäuste.
»Das ist mit Sicherheit auch der Hauptgrund, warum man in Rom so empört über Popillius Laenas ist. Man wird ihn wegen Hochverrat anklagen, aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er den Prozeß gar nicht abwarten. Ich glaube, er wird sofort ins freiwillige Exil gehen und an Vermögen mitnehmen, was er kann.«
»Das ist vernünftig, denn so rettet er wenigstens etwas. Wenn er auf den Prozeß wartet, konfisziert der Staat alles.« Marius schlug mit der Faust auf die Karte. »Aber was Lucius Cassius passiert ist, wird uns nicht passieren, Lucius Cornelius! Egal mit welchen Mitteln, wir werden Jugurtha in den Staub zu unseren Füßen zwingen - und dann kehren wir nach Rom zurück und lassen uns vom Volk mit dein Kampf gegen die Germanen beauftragen!«
»Darauf trinke ich, Gaius Marius!« Sulla hob den Becher.
Der Feldzug gegen Capsa war über alle Erwartungen erfolgreich, und der Erfolg war - so die einhellige Meinung - allein der hervorragenden Führung Gaius Marius’ zu verdanken. Da Marius der Reiterei seines Legaten Aulus Manlius nicht traute, weil sich darunter auch Numider befanden, die behaupteten, Männer Roms und Gaudas zu sein, hatte er den Legaten beauftragt, vor seinen Männern so zu tun, als handle es sich lediglich um einen Plünderungszug. Jugurtha wurde deshalb von seinen Spionen völlig falsch informiert.
Der König glaubte Marius hundert Meilen entfernt, da tauchte dieser mit seiner Armee vor Capsa auf. Man hatte Jugurtha nicht berichtet, daß die Römer sich reichlich mit Wasser und Getreide für den Marsch durch das dürre Land zwischen dem Fluß Bagradas und Capsa versorgt hatten. Als die angeblich uneinnehmbare Festung plötzlich von einem Meer römischer Helme umgeben war, ergaben die Einwohner sich kampflos. Jugurtha freilich konnte erneut fliehen. Marius beschloß, den Numidern und besonders den Gaetulern eine Lektion zu erteilen. Obwohl Capsa keinen Widerstand geleistet hatte, erlaubte er seinen Soldaten, die Stadt zu plündern und zu brandschatzen. Alle erwachsenen Einwohner, Männer wie Frauen, wurden mit dem Schwert niedergemetzelt. Die Beute aus den Plünderungen und Jugurthas gewaltiger Geldschatz wurden auf Wagen verladen. Dann führte Marius seine Soldaten sicher und rechtzeitig vor den winterlichen Regenfällen wieder aus Numidien heraus und ins Winterquartier bei Utika.
Die Soldaten hatten sich die Ruhepause redlich verdient. Mit tiefer Befriedigung schrieb Marius dem Senat einen Brief - Gaius Julius Caesar sollte ihn im Senat verlesen -, in dem er mit wohlklingenden Worten den Kampfgeist, den Mut und die Moral seiner Plebejerarmee pries. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und fügte hinzu, daß Rom nach dem totalen Versagen seines Mitkonsuls Lucius Cassius Longinus als Feldherr sicher noch weitere Armeen dieser Art brauchen werde.
Gegen Ende des Jahres erreichte Gaius Marius ein Brief von Publius Rutilius Rufus:
Du hättest ihre roten Gesichter sehen sollen! Dein Schwiegervater hat Deinen Brief im Senat mit einer solchen Donnerstimme verlesen, daß sogar die ihm zuhören mußten, die sich die Ohren zuhielten. Metellus Schweinebacke - neuerdings auch Metellus Numidicus genannt - schäumte. Mit gutem Grund - seine Soldaten liegen tot an der Garonne, und Deine Plebejer sind die Helden des Tages.
Nach der Sitzung hörte ich ihn sagen: »Es gibt keine Gerechtigkeit mehr!«, Daraufhin drehte ich mich zu ihm um und sagte ganz freundlich: »Stimmt, Quintus Caecilius. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, dann würdest Du jetzt nicht Numidicus heißen!« Das fand er gar nicht lustig, aber Scaurus wollte sich ausschütten vor Lachen. Du kannst über Scaurus sagen, was Du willst, aber ich kenne niemanden, der soviel Humor hat, soviel Sinn für Komik. Von seinen Freunden läßt sich das nicht behaupten, und manchmal frage ich mich, ob er sich seine Freunde nicht danach auswählt, wie gut er insgeheim über ihr aufgeblasenes Getue lachen kann.
Am meisten erstaunt mich, Gaius Marius, daß das Glück stets auf Deiner Seite ist. Ich weiß, Du hast Dir keine Sorgen gemacht. Aber ich kann Dir ja jetzt sagen, ich hätte nicht geglaubt, daß der Senat Dein africanisches Kommando ein weiteres Jahr verlängern würde. Aber was passiert? Lucius Cassius fällt, und mit ihm Roms größte und erfahrenste Armee. Die Kamarilla und damit der ganze Senat können nichts gegen Dich tun. Dein Volkstribun Mancinus tritt vor die Volksversammlung und erreicht völlig problemlos, daß Dein Kommando in der Provinz Africa per Plebiszit verlängert wird. Der Senat sagt gar nichts mehr, es war zu offensichtlich, selbst für die Senatoren, daß Rom Dich braucht. Denn die Atmosphäre in Rom ist gespannt wie noch nie. Die Bedrohung durch die Germanen hängt über der Stadt wie ein Damoklesschwert, und viele sagen, daß niemand mehr das Verhängnis aufhalten kann. Denn, fragen sie, wo ist der nächste Scipio Africanus, der nächste Aemilius Paullus oder Scipio Aemilianus? Aber Du hast eine loyale Gefolgschaft treu ergebener Anhänger, Gaius Marius, und seit Cassius’ Tod sagen Deine Anhänger immer lauter, daß Du der einzige bist, der die germanische Invasion abwehren kann. Zu ihnen gehört auch der angeklagte Legat von Burdigala, Gaius Popillius Laenas.
Und da Du nur ein ungebildeter italischer Bauer ohne Griechischkenntnisse bist, erzähle ich Dir jetzt eine kleine Geschichte.
Es war einmal ein sehr schlechter und böser König von Syrien, der hieß Antiochus. Er war nicht der erste König von Syrien mit Namen Antiochus und auch nicht der größte - sein Vater hatte sich bereits Antiochus der Große genannt -, deshalb hatte er eine Zahl hinter seinem Namen. Er war Antiochus IV, der vierte König Antiochus von Syrien. Obwohl sein Land reich war, gelüstete es ihn nach dem benachbarten Königreich Ägypten. Dort herrschten gemeinsam seine Vettern Ptolemaios Philometor und Ptolemaios Euergetes der Dicke und seine Cousine Kleopatra. Kleopatra war die zweite ihres Namens, auch sie hatte deshalb eine Zahl hinter ihrem Namen, Kleopatra II, - ich wollte, ich könnte sagen, die drei herrschten in Frieden und Eintracht, aber das war keineswegs der Fall. Obwohl sie Bruder und Schwester, Mann und Frau waren - jawohl, in orientalischen Königreichen ist so etwas möglich -, kämpften sie seit Jahren gegeneinander und hatten das schöne und fruchtbare Land am Nil schon fast zugrunde gerichtet. Als König Antiochus von Syrien beschloß, Ägypten zu erobern, rechnete er fest damit, daß er wegen des Zwistes zwischen den beiden Ptolemaios und Kleopatra leichtes Spiel haben würde.
Kaum hatte er Syrien verlassen, da zwangen ihn einige aufsässige Untertanen umzukehren. Zur Strafe für diesen Ungehorsam ließ er etliche Köpfe abhacken, einige Körper verstümmeln, einige Zähne ziehen und sogar eine Gebärmutter herausreißen. Es dauerte vier Jahre, bis König Antiochus sein aufständisches Volk der alten Ordnung unterworfen hatte und zum zweiten Mal aufbrechen konnte, um Ägypten zu erobern. Diesmal war Syrien während seiner Abwesenheit ruhig und gehorsam, König Antiochus fiel also in Ägypten ein, eroberte Pelusium und zog dann das Nildelta hinauf bis Memphis. Er eroberte auch Memphis und marschierte dann das Delta auf der anderen Seite in Richtung Alexandria hinunter.
Die Brüder Ptolemaios und ihre Schwester-Frau Kleopatra hatten Land und Armee ruiniert, und so blieb ihnen nichts übrig, als Rom gegen König Antiochus zu Hilfe zu rufen, da Rom der beste und größte aller Staaten war und der Held der ganzen Welt. Senat und Volk von Rom verstanden sich damals besser, als wir heute für möglich halten würden - so steht es jedenfalls in den Geschichtsbüchern, Sie schickten den vornehmen und tapferen Konsular Gaius Popillius Laenas nach Ägypten. Jedes andere Land hätte seinem Helden eine große Armee mitgegeben, aber der Senat und das Volk von Rom gaben Gaius Popillius Laenas nur zwölf Liktoren und zwei Sekretäre mit. Die Liktoren durften, da es ins Ausland ging, rote Tuniken tragen und in die Rutenbündel das Beil stecken. Gaius Popillius Laenas war also nicht ganz ohne Schutz. Und dann machten sie sich in einem kleinen Schiff auf den Weg und langten in der großen Stadt Alexandria an, als König Antiochus gerade den in Kanopos mündenden Nilarm in Richtung Alexandria hinuntermarschierte. Dorthin waren nämlich schlotternd vor Angst die Ägypter geflohen.
Angetan mit seiner purpurgeränderten Toga und hinter den zwölf karmesinrot gekleideten Liktoren einherschreitend, verließ Gaius Popillius Laenas Alexandria durch das Sonnentor und marschierte nach Osten. Er war kein junger Mann mehr, mußte sich beim Gehen bereits auf einen langen Stab stützen, und sein Schritt war so gemächlich wie seine Miene friedvoll. Da nur die tapferen und heldenhaften Römer anständige Straßen bauten, ging er bald knöcheltief im Staub. Aber ließ Gaius Popillius Laenas sich dadurch abschrecken? Nein! Er marschierte einfach weiter, bis er in der Nähe des riesigen Hippodroms, in dem die Alexandriner Pferderennen veranstalteten, auf eine Mauer syrischer Soldaten stieß und anhalten mußte.
König Antiochus kam Gaius Popillius Laenas entgegen.
»Rom hat in Ägypten nichts zu suchen!«, sagte der König und runzelte unheilverkündend die Stirn.
»Syrien hat ihn Ägypten auch nichts zu suchen«, entgegnete Gaius Popillius Laenas und lächelte heiter und gelassen.
»Kehre nach Rom zurück«, befahl der König.
»Kehre nach Syrien zurück«, sagte Gaius Popillius Laenas.
Aber keiner der beiden wich auch nur einen Zoll zurück.
»Du kränkst den Senat und das Volk von Rom«, sagte Gaius Popillius Laenas, nachdem er das wilde Gesicht des Königs eine Weile betrachtet hatte. »Ich bin beauftragt, dafür zu sorgen, daß Du nach Syrien zurückkehrst.«,
Der König begann zu lachen und wollte gar nicht mehr aufhören. »Und wie willst Du das erreichen?« fragte er schließlich. »Wo ist Deine Armee?«
»Ich brauche keine Armee, König Antiochus. Alles, was Rom ist, war und sein wird, steht in diesem Moment vor dir. Ich bin Rom, genauso wie ich Roms größte Armee bin. Und ich fordere dich im Namen Roms abermals auf. - Kehre nach Hause zurück!«
»Nein«, erwiderte König Antiochus.
Da trat Gaius Popillius Laenas ruhig vor und zog mit seinem Stab im Staub einen Kreis um den König.
»Bevor Du diesen Kreis verläßt, König, denke genau nach. Und wenn Du ihn verläßt, dann in Richtung Osten, weil Du nach Syrien zurückkehren wirst.«
Der König sagte nichts und tat keinen Mucks. Auch Gaius Popillius Laenas sagte nichts und tat keinen Mucks. Weil er ein Römer war und sein Gesicht nicht zu verbergen brauchte, war seine heitere und gelassene Miene für jedermann sichtbar, König Antiochus’ Gesicht hingegen bedeckte ein gekräuselter, mit Draht durchflochtener Zeremonialbart, aber seine Erregung war ihm dennoch deutlich anzusehen. Die Zeit verstrich. Und dann drehte sich der mächtige König von Syrien, der immer noch in dem Kreis stand, nach Osten um. Er verließ den Kreis und marschierte mit seinen Soldaten nach Syrien zurück.
Nun hatte König Antiochus aber auf dem Weg nach Ägypten auch die zu Ägypten gehörende Insel Zypern überfallen und erobert. Ägypten brauchte Zypern, weil die Zyprioten Balken für ägyptische Schiffe und Häuser sowie Getreide und Kupfer lieferten. Nachdem sich Gaius Popillius Laenas von den jubelnden Ägyptern verabschiedet hatte, segelte er nach Zypern. Dort traf er die syrische Besatzungsarmee an.
»Kehrt nach Hause zurück« sagte er zu den Soldaten.
Und sie kehrten nach Hause zurück.
Gaius Popillius Laenas selbst brach in Richtung Rom auf. Dort angelangt, berichtete er dem Senat in seiner ruhigen, freundlichen Art, er habe König Antiochus nach Syrien zurückgeschickt und Ägypten und Zypern ein grausames Schicksal erspart. Ich wollte, ich könnte zum Schluß meiner kleinen Geschichte erzählen, daß die beiden Ptolemaios und ihre Schwester Kleopatra hinfort in Eintracht lebten und herrschten, aber leider taten sie dies nicht. Sie bekämpften sich weiterhin, ermordeten einige nahe Verwandte und ruinierten das Land.
Bei den Göttern, höre ich Dich fragen, warum erzählst Du mir Kindergeschichten? Ganz einfach, lieber Gaius Marius. Wie oft hast Du auf dem Schoß Deiner Mutter die Geschichte gehört, wie Gaius Popillius Laenas einen Kreis um die Füße des Königs von Syrien zog? Na ja, vielleicht erzählen die Mütter in Arpinum diese Geschichte nicht. In Rom kennt die Geschichte von Gaius Popillius Laenas jedenfalls jedes Kind, egal aus welcher Schicht.
Wie also, frage ich, hätte der Urenkel des Helden von Alexandria das Exil wählen können, statt alles auf eine Karte zu setzen und den Prozeß durchzustehen? Wäre er freiwillig ins Exil gegangen, hätte das ein Schuldbekenntnis bedeutet - und ich zum Beispiel glaube, daß unser Gaius Popillius Laenas vor Burdigala richtig gehandelt hat. Um es kurz zu machen: Popillius Laenas blieb und wartete den Prozeß ab.
Der Volkstribun Gaius Coelius Caldus gelobte, nicht eher zuruhen, bis Laenas verurteilt sei. Er handelte im Auftrag einer Clique von Senatoren, die ich nicht namentlich nennen möchte - Du darfst Vermutungen anstellen -, einer Clique, die entschlossen war, die Schuld an Burdigala nicht auf Lucius Cassius’ Schultern ruhen zu lassen. Da das einzige auf Hochverrat spezialisierte Gericht Roms nur im Krieg gegen Jugurtha ermittelt, mußte der Prozeß in der Zenturienversammlung stattfinden, im grellen Licht der Öffentlichkeit also. Sollten die Sprecher der einzelnen Zenturien das Urteil ihrer Hundertschaft also laut hinausrufen, so daß alle Welt es hören konnte? Condemno oder Absolvo? Wie könnte ein Römer, der zu Füßen seiner Mutter die Geschichte von Gaius Popillius Laenas und dem Kreis um die Füße des syrischen Königs gehört hatte, noch rufen: Condemno!?
Aber ließ sich Caldus davon abschrecken? Mitnichten. Er beantragte in der Volksversammlung, die geheime Abstimmung bei Wahlen auch auf Hochverratsprozesse auszudehnen. So konnten die zur Stimmabgabe aufgerufenen Zenturien sicher sein, daß nicht bekannt wurde, wie einzelne Mitglieder gestimmt hatten. Der Antrag wurde angenommen. Alles schien bestens zu stehen.
Anfang Dezember wurde Gaius Popillius Laenas in der Zenturienversammlung des Hochverrats angeklagt. Die Abstimmung war geheim, wie Caldus es gewollt hatte. Aber einige von uns mischten sich unter die Mitglieder der riesigen Jury und flüsterten: »Es war einmal ein vornehmer, tapferer Konsular, der hieß Gaius Popillius Laenas...«, und das war das Ende.
Als die Stimmen ausgezählt wurden, hieß es bei allen Zenturien: Absolvo.
Man könnte sagen, hier hat die Kinderstube der Römer dafür gesorgt, daß Gerechtigkeit geschah.