Sullas Gespräch mit Clitumna war nicht erfolgreich. Stichus hatte seine Tante mit List bearbeitet, und Sulla konnte sich nicht so weit erniedrigen, wie Nikopolis ihm geraten hatte.

»Du bist an allem schuld, Lucius Cornelius«, sagte Clitumna weinerlich und drehte und zog mit ihren beringten Fingern an den Fransen ihres teuren Schals. »Du gibst dir überhaupt keine Mühe, nett zu meinem Jungen zu sein, obwohl er dir doch immer so weit entgegenkommt!«

»Er ist ein schmieriger kleiner Gernegroß«, knurrte Sulla.

In diesem Augenblick glitt Nikopolis, die an der Türe gelauscht hatte, in den Raum und setzte sich neben Clitumna auf das Sofa. Sie kuschelte sich an Clitumna und sah Sulla resigniert an.

»Was ist los?« fragte sie unschuldig.

»Lucius verträgt sich nicht mit Lucius«, sagte Clitumna, »obwohl ich mir doch so sehr wünsche, daß sie Freunde werden!«

Nikopolis hob Clitumnas Hand an ihre Wange. »Oh, mein armes Mädchen! « gurrte sie. »Der eine ist eben ein geradeso böser Kampfhahn wie der andere, das ist das Problem.«

»Aber sie müssen lernen, miteinander auszukommen«, sagte Clitumna, »weil mein lieber Lucius Gavius seine Wohnung aufgeben und nächste Woche hier einziehen wird.«

»Dann ziehe ich aus«, sagte Sulla.

Die beiden Frauen begannen zu jammern, Clitumna mit schriller Stimme, Nikopolis wie ein kleines, gefangenes Kätzchen.

Sulla beugte sich zu Clitumna herunter und brachte sein Gesicht dicht vor ihr Gesicht. »Benimm dich endlich wie eine erwachsene Frau!« zischte er. »Gavius weiß doch, was hier los ist. Wie soll er ertragen, mit einem Mann im selben Haus zu wohnen, der mit zwei Frauen schläft, von denen eine seine eigene Tante ist?«

Clitumna brach in Tränen aus. »Aber er will hier einziehen! Ich kann doch meinen eigenen Neffen nicht zurückweisen!«

»Auch gut! Wenn ich ausziehe, hat er keinen Grund mehr, sich zu beklagen.«

Sulla wandte sich zur Tür, doch Nikopolis streckte die Hand aus und ergriff seinen Arm. »Sulla, liebster Sulla, zieh nicht aus!« rief sie. »Du kannst doch weiter mit mir schlafen, und wenn Stichus nicht zu Hause ist, kann Clitumna zu uns kommen!«

»Oh, sehr geschickt!« sagte Clitumna eisig. »Du willst ihn ganz für dich allein, du geile Ziege!«

Nikopolis wurde blaß. »Was schlägst du dann vor? Deine Dummheit hat uns das doch eingebrockt!«

»Haltet den Mund, alle beide!« zischte Sulla. »Ihr habt so viele Theaterstücke gesehen, daß ihr euch selbst wie Schauspieler aufführt. Ihr hängt mir beide zum Hals heraus. Ich habe genug davon, ein halber Mann zu sein!«

»Du bist ja auch kein halber Mann!« sagte Clitumna gehässig. »Du bist zwei Hälften - eine gehört mir, die andere Nikopolis! «

Sulla wußte nicht, was ihn mehr schmerzte: die Wut oder die Trauer. Halbwahnsinnig starrte er seine beiden Peinigerinnen an. Er war nicht mehr fähig zu denken, nicht mehr fähig zu verstehen.

»So kann ich nicht weiterleben!« sagte er schließlich.

»Unsinn! Natürlich kannst du das«, rief Nikopolis mit der Überheblichkeit der Frau, die ihren Mann genau dahin gebracht hat, wo sie ihn haben will - unter ihren Fuß. »Jetzt geh und tu was Vernünftiges. Morgen sieht alles wieder ganz anders aus. Das ist bei dir doch immer so.«

Sulla verließ das Haus und stolperte ohne Ziel die Straße entlang. Etwas Vernünftiges tun - geistesabwesend ging er vom Cermalus zu jener Seite des Palatin, die dem Ende des Circus Maximus und dem Capena-Tor zugewandt war.

Hier gab es weniger Häuser, und zwischen den Häusern erstreckten sich weite Parkanlagen. Unbekümmert um die Kälte, setzte Sulla sich auf einen Stein und blickte gedankenverloren vor sich hin. Er sah weder die leeren Zuschauerränge des Circus Maximus noch die anmutigen Tempel auf dem Aventin, er sah nur seinen eigenen Weg vor sich, der sich unendlich in eine furchtbare Zukunft erstreckte, eine holprige Straße aus Knochen und Haut ohne jeden erkennbaren Zweck. Schmerz schüttelte ihn, bis er seine Zähne knirschen hörte. Er merkte nicht, daß er laut stöhnte.

»Ist dir nicht wohl?« fragte leise eine ängstliche Stimme.

Als Sulla aufblickte, sah er niemanden - der Schmerz lag noch immer über seinen Augen. Doch dann hob sich der Schleier, und langsam nahm er das Mädchen wahr: ein spitzes Kinn, goldene Haare, ein herzförmiges Gesicht, das nur aus Augen zu bestehen schien, aus riesigen, honigfarbenen Augen, die ihn besorgt anblickten.

»Julia.« Er erschauerte.

»Nein, Julia ist meine ältere Schwester. Ich heiße Julilla«, sagte das Mädchen lächelnd. »Bist du krank, Lucius Cornelius?«

»Nicht so krank, daß ein Arzt mir helfen könnte«, sagte er. »Ich wäre jetzt gerne verrückt, aber es will mir nicht gelingen.«

Julilla rührte sich nicht. »Wenn es dir nicht gelingt, dann wollen dich die Furien offenbar noch nicht haben.«

Sulla sah sich um und runzelte mißbilligend die Stirn. »Bist du allein? Was denken sich deine Eltern denn, daß sie dich so spät noch hier herumspazieren lassen?«

»Meine Dienerin ist bei mir«, sagte sie ruhig und kauerte sich auf die Fersen. In ihren Augen blitzte es koboldhaft auf. »Sie ist ein gutes Mädchen, treu und verschwiegen.«

»Du meinst, sie läßt dich tun, was du willst, und verrät dich nicht? Aber eines Tages werden sie dich doch erwischen.«

Sie schwiegen. Julilla betrachtete sein Gesicht mit unbefangener Neugier. Was sie sah, gefiel ihr.

»Geh nach Hause, Julilla. Wenn sie dich erwischen, dann wenigstens nicht mit mir.« Sulla seufzte.

»Weil du ein schlechter Mann bist?« fragte sie.

Er mußte lächeln. »Wenn du es so ausdrücken willst.«

»Ich glaube nicht, daß du so schlecht bist!«

Welcher Gott mochte sie geschickt haben? Sullas Muskeln entspannten sich, er fühlte sich auf einmal unbeschwert und leicht, als ob tatsächlich ein Gott ihn gestreift habe.

»Ich bin wirklich schlecht, Julilla«, sagte er.

»Unsinn! « Ihre Stimme klang fest und überzeugt.

Sulla erkannte die Symptome mädchenhafter Schwärmerei und verspürte den Impuls, den Flirt durch eine grobe oder einschüchternde Bemerkung zu beenden. Doch er brachte es nicht über sich. Dieses Mädchen verdiente eine bessere Behandlung. Für sie würde er den besten Lucius Cornelius Sulla hervorholen, frei von Schmutz, Kriecherei und Obszönität.

»Ich danke dir für dein Vertrauen, kleine Julilla«, sagte er.

»Ich muß noch nicht nach Hause«, sagte sie ernsthaft. »Reden wir noch ein wenig miteinander?«

Sulla rückte auf seinem Felsblock zur Seite. »Also gut. Aber setz dich hierher. Der Boden ist zu feucht.«

»Die Leute sagen, daß du deinem Namen Schande bringst. Aber ich glaube nicht, daß das stimmt. Du hast ja noch gar keine Gelegenheit gehabt zu zeigen, was du kannst.«

»Das hat vermutlich dein Vater gesagt?«

»Was?«

»Daß ich meinem Namen Schande bringe.«

Sie war entsetzt. »Oh nein! Tata würde so etwas nie sagen. Er ist der klügste Mann der Welt.«

»Meiner war der dümmste. Wir beide stammen aus zwei sehr unterschiedlichen Schichten der römischen Bevölkerung, kleine Julilla.«

Sie zupfte die langen Grashalme heraus, die um den Felsblock wuchsen, und flocht sie mit geschickten Fingern zu einem Kranz. »Hier«, sagte sie und hielt ihm den Kranz hin.

Sullas Atem stockte. »Eine Krone aus Gras!« sagte er verwundert. »Nein! Nicht für mich! «

»Natürlich für dich«, beharrte sie, und als er keine Anstalten machte, den Kranz anzunehmen, beugte sie sich zu ihm hinüber und setzte ihm den Kranz auf den Kopf.

»Blumenkränze gibt man nur jemandem, den man liebt«, sagte er.

»Ich liebe dich doch!« erwiderte sie leise.

»Vielleicht jetzt. Aber das geht vorbei.«

»Nein, nie!«

Sulla stand auf und lachte. »Jetzt hör aber auf! Du bist doch höchstens fünfzehn Jahre alt. «

»Sechzehn!« sagte sie schnell.

»Fünfzehn, sechzehn, da ist kein Unterschied. Du bist noch ein Kind.«

Sie wurde rot vor Empörung und preßte die Lippen wütend zusammen. »Ich bin kein Kind mehr! «

»Natürlich bist du eins«, lachte er. »Schau dich doch einmal an, du steckst ja noch halb in den Windeln, ein kleines, dickes Baby.« Gut gesprochen! Das würde ihr den Kopf zurechtrücken.

Aber er hatte sie tief verletzt. Das Licht in ihren Augen erlosch. »Ich bin nicht hübsch!« sagte sie. »Und ich habe immer gedacht, ich sei hübsch!«

»Wahrscheinlich bekommen das alle kleinen Mädchen von ihren Eltern zu hören«, sagte Sulla grob. »Aber die Welt urteilt nach anderen Kriterien. Na ja, wenn du älter bist, wirst du ganz ordentlich aussehen. Jedenfalls wirst du schon einen Mann finden.«

»Ich will nur dich«, flüsterte sie.

»Das glaubst du jetzt. Aber du irrst dich, du dickes Baby. Und jetzt hau ab, bevor ich dich an den Haaren ziehe. Geh schon! Sssch!«

Sie rannte so schnell davon, daß die Dienerin ihr kaum folgen konnte. Sulla blickte den beiden Mädchen nach, bis sie hinter dem Kamm des nächsten Hügels verschwunden waren.

Er trug noch immer den Graskranz auf dem Kopf. Er riß ihn herab, warf ihn jedoch nicht weg, sondern hielt ihn in den Händen und starrte darauf. Dann stopfte er ihn in seine Tunika und machte sich auf den Rückweg.

Armes Ding. Er hatte ihr wehgetan. Doch er hatte ihr jede Hoffnung nehmen müssen, denn das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine liebeskranke Nachbarstochter, die ihn über die Mauer hinweg anhimmelte. Schließlich war ihr Vater nicht nur Clitumnas Nachbar, sondern auch noch Senator.

Bei jedem Schritt erinnerte ihn ein leichtes Kitzeln auf seiner Haut an den Graskranz. Corona graminea. Ihm überreicht hier auf dem Palatin durch eine Personifikation der Venus - eine Julia. Ein Omen.

»Wenn es ein gutes Omen ist, werde ich dir einen Tempel bauen, siegreiche Venus«, sagte er laut.

Endlich sah er seinen Weg klar vor sich liegen. Ein gefährlicher Weg und doch ein gangbarer Weg - für jemanden, der nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatte.

Schwer senkte sich die winterliche Dämmerung über die Stadt, als Sulla wieder bei Clitumnas Haus ankam. Er fragte nach den Frauen. Sie steckten im Eßzimmer die Köpfe zusammen und hatten mit dem Essen auf ihn gewartet. Es war offenkundig, daß er der Gegenstand ihres Gesprächs gewesen war.

»Ich brauche Geld«, sagte er als erstes.

»Aber Lucius Cornelius... «, begann Clitumna.

»Halt deinen Mund, du alte Schlampe! Ich brauche Geld.«

»Aber Lucius Cornelius!«

»Ich mache Ferien«, sagte er, ohne sich zu setzen. »Es liegt an euch. Wenn ihr mich zurückhaben wollt - wenn ihr weiterhin genießen wollt, was ich zu bieten habe -, dann gebt mir tausend Denare. Andernfalls verlasse ich Rom für immer.«

»Wir geben dir jede die Hälfte«, sagte Nikopolis und sah ihn mit ihren dunklen Augen aufmerksam an.

»Einverstanden.« »Aber vielleicht haben wir nicht soviel Geld im Haus.«

»Euer Pech. Ich werde nämlich nicht warten.«

Als Nikopolis eine Viertelstunde später sein Zimmer betrat, war Sulla bereits mit Packen beschäftigt. Sie setzte sich auf sein Bett und sah ihm schweigend zu, bis er geruhen würde, sie zu bemerken.

Schließlich brach sie das Schweigen. »Du bekommst dein Geld.

Clitumna hat den Verwalter zu ihrem Bankier geschickt. Wohin gehst du?«

»Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal, solange ich nur hier wegkomme.« Er faltete Socken zusammen und steckte sie in die Schuhe.

»Du packst wie ein Soldat.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich war einmal die Geliebte eines Militärtribuns und bin mit der Truppe gezogen. Kaum zu glauben, nicht wahr? Was man nicht alles tut, wenn man jung und verliebt ist! Ich betete ihn an. Ich folgte ihm bis nach Spanien und dann nach Asien.« Sie seufzte.

»Und dann?« Sulla wickelte seine zweitbeste Tunika um ein Paar lederne Stiefel.

»Er fiel in Makedonien. Ich kehrte nach Hause zurück.« Mitleid erfüllte ihr Herz, doch nicht Mitleid für den toten Geliebten, sondern Mitleid für Lucius Cornelius, diesen gefangenen, schönen Löwen, der für irgendeine schmutzige Arena bestimmt war. Warum mußten Menschen lieben, wenn es so sehr schmerzte? Sie lächelte, aber es war kein frohes Lächeln. »Er hinterließ mir sein gesamtes Vermögen, und ich wurde ziemlich reich. Damals machten die Soldaten reiche Beute.«

»Mir bricht das Herz«, sagte Sulla. Er steckte sein Rasierzeug in einen Leinenbeutel und ließ den Beutel in eine Satteltasche gleiten.

Nikopolis verzog das Gesicht. »Das hier ist ein furchtbares Haus. Wie ich es hasse! Alle sind verbittert und unglücklich. Wir beleidigen und verachten einander und sagen einander böse Dinge. Warum bleibe ich hier?«

»Weil du, meine Liebe, auch nicht mehr die Jüngste bist«, antwortete er.

»Und du haßt uns alle«, sagte sie. »Ist die Stimmung im Haus deshalb so schlimm? Es wird jeden Tag schlimmer.«

»Richtig. Und deshalb gehe ich auch für eine Zeitlang weg.« Er schloß die beiden Satteltaschen und hob sie ohne Mühe hoch. »Ich will frei sein. Ich will mein Geld in irgendeiner Stadt durchbringen, wo keiner meine dumme Visage kennt. Ich will fressen und saufen, bis ich alles wieder herauskotze. Ich will mindestens ein halbes Dutzend Weiber schwängern, und jeder Strichjunge, der mir über den Weg läuft, wird einen wunden Arsch kriegen.« Sulla lächelte böse. »Dann, meine Liebe, komme ich wieder ganz zahm hierher zurück. Zu dir, zu unserem klebrigen Stichus und zu Tantchen Clitumna. Und dann leben wir glücklich zusammen bis ans Ende unserer Tage.«

Sulla sagte ihr nicht, daß er Metrobius mitnehmen würde.

Er erzählte niemandem, nicht einmal Metrobius, was er eigentlich vorhatte. Denn er plante keine Ferien. Er plante eine Bildungsreise. Er wollte sich mit Dingen wie Arzneimittelkunde, Chemie und Botanik beschäftigen.

Sulla kehrte erst Ende April nach Rom zurück. Er setzte Metrobius vor Skylax’ eleganter Wohnung im Erdgeschoß eines Hauses auf dem Caelius ab. Dann gab er die Maulesel und den Wagen zurück, die er gemietet hatte, warf die Satteltaschen über die linke Schulter und betrat Rom zu Fuß. Auf dem Caelius standen zwar ein paar teure Mietshäuser, doch bis zum Capena-Tor wirkte die Gegend recht ländlich. Erst nach dem Tor begann die eigentliche Stadt, zwar noch nicht das undurchdringliche Straßengewirr der Subura und des Esquilin, aber doch schon erkennbar kein Dorf mehr. Sulla ging am Circus Maximus entlang und die Cacus-Treppen zum Palatin hinauf. Von hier war es nur noch ein kurzes Stück bis zu Clitumnas Haus.

Vor der Tür holte Sulla tief Luft, dann betätigte er den Türklopfer. Zwei kreischende Weiber flogen ihm an den Hals. Es war offenkundig, daß sich Nikopolis und Clitumna freuten, ihn wiederzusehen. Sie weinten und heulten und klammerten sich an ihn, bis er sie von sich stieß.

»Wo soll ich schlafen?« fragte Sulla. Er weigerte sich, die Satteltaschen dem Diener zu übergeben, der geradezu begierig schien, sie ihm abzunehmen.

»Bei mir«, sagte Nikopolis triumphierend. Clitumna schien auf einmal niedergeschlagen.

Sulla bemerkte, daß die Tür des Arbeitszimmers geschlossen war. Er folgte Nikopolis zum Säulengang hinaus, seine Stiefmutter Clitumna blieb händeringend im Atrium zurück.

»Hat sich der klebrige Stichus gut eingenistet?« fragte er Nikopolis, als sie deren Zimmer erreichten.

»Hier«, sagte sie, ohne seine Frage zu beachten. Sie wollte ihm unbedingt seine neue Unterkunft zeigen.

Sie hatte ihm ihr geräumiges Wohnzimmer überlassen und für sich selbst nur ein Schlafzimmer und eine kleine Kammer behalten. Sulla fühlte Dankbarkeit in sich aufsteigen, und er sah Nikopolis wehmütig an. Er mochte sie in diesem Augenblick mehr als je zuvor.

Er warf die Satteltaschen auf das Bett. »Und Stichus?« Er brannte darauf zu erfahren, wie schlimm es hier im Haus stand.

Natürlich sehnte Nikopolis sich danach, von ihm geküßt zu werden, mit ihm zu schlafen. Sie kannte ihn aber auch gut genug, um zu wissen, daß er keine sexuellen Tröstungen brauchte, nur weil er eine Zeitlang auf sie und Clitumna hatte verzichten müssen. Sie seufzte.

»Stichus hat sich wirklich gut eingerichtet.« Sie begann, die Satteltaschen auszupacken.

Sulla schob sie beiseite, stellte die Taschen hinter eine Kleidertruhe und setzte sich in seinen Lieblingsstuhl, der hinter einem neuen Tisch stand. Nikopolis ließ sich auf dem Bett nieder.

»Erzähl mir alles«, sagte er.

»Nun, Stichus wohnt hier, schläft im Herrenzimmer und beansprucht natürlich auch das Arbeitszimmer. Eigentlich ist es sogar besser gelaufen, als zu erwarten war. Selbst Clitumna kann ihn kaum ertragen, wenn sie auf so engem Raum mit ihm zusammenlebt. Ich wette, sie wirft ihn in ein paar Monaten wieder hinaus. Das war wirklich geschickt von dir, einfach wegzugehen.« Geistesabwesend glättete sie die Kissen. »Und was er alles verändert hat! Deine Bücher hat er auf den Abfallhaufen geworfen - schon gut, die Diener haben sie wieder gerettet. Und was du sonst noch zurückgelassen hattest, Kleidung, persönliche Sachen, kam ebenfalls zum Müll. Aber die Diener mögen dich und hassen ihn, deshalb ist nichts verlorengegangen.«

Sulla ließ seine hellen Augen über die Wände und den wunderbaren Mosaikboden gleiten. »Erzähl weiter.«

»Es geht Stichus nicht schlecht. Aber es hat ihm doch ein wenig die Freude verdorben, daß du nicht gesehen hast, was er mit deinen Sachen gemacht hat. Es war niemand da, mit dem er streiten konnte.«

Das kleine Dienstmädchen Bithy kam lautlos herein. Sie stellte einen Teller mit Pasteten und Kuchen auf den Tisch und lächelte Sulla schüchtern zu. Dann sah sie die beiden Satteltaschen hinter der Kleidertruhe. Sie durchquerte das Zimmer und wollte die Taschen auspacken.

Sulla bewegte sich so schnell, daß Nikopolis nicht einmal merkte, was vor sich ging. Eben noch hatte er sich bequem in seinem Stuhl zurückgelehnt, im nächsten Moment schob er das Mädchen sanft von der Kleidertruhe weg. Sulla lächelte Bithy zu, zwickte sie leicht in die Wange und schob sie zur Tür hinaus.

Nikopolis starrte ihn überrascht an. »Meine Güte«, sagte sie, »du paßt aber gut auf deine Taschen auf! Was ist denn da drin? Du bewachst sie ja wie ein Hund seinen Knochen! «

»Schenke mir Wein ein«, sagte er und ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder. Er nahm ein Stück Fleischpastete aus der Schale.

Nikopolis schenkte ihm Wein ein und schob ihm den Becher hin. Sie ließ sich aber nicht ablenken. »Komm schon, Lucius Cornelius, was ist so Geheimnisvolles in den Taschen drin?«

Sulla zog die Mundwinkel herunter und hob die Arme in gespielter Verzweiflung. »Was glaubst du denn? Ich habe meine beiden Mädchen fast vier Monate nicht gesehen! Ich gebe zu, daß ich nicht immer an euch gedacht habe, aber manchmal habe ich doch an euch gedacht! «

Nikopolis’ Gesicht wurde sanft. Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß Sulla ihr oder Clitumna jemals auch nur ein einziges billiges Geschenk gemacht hatte.

»Oh, Lucius Cornelius!« rief sie strahlend. »Wirklich? Wann kann ich es sehen?«

»Wenn es mir paßt«, sagte er, drehte sich auf seinem Stuhl um und blickte aus dem Fenster. »Wie spät ist es?«

»Ich weiß es nicht - es geht auf die achte Stunde zu, glaube ich. Jedenfalls gibt es noch nichts zu essen.«

Sulla stand auf, holte die Satteltaschen hinter der Kleidertruhe hervor und warf sie sich über die Schulter. »Ich bin rechtzeitig zum Abendessen zurück.«

Nikopolis sah ihm mit offenem Mund nach, als er zur Tür ging. »Sulla! Du bist das abscheulichste Geschöpf auf der Welt, so wahr ich lebe! Kaum bist du zurück, gehst du schon wieder.« Die Satteltaschen ließen ihr keine Ruhe. »Du hast also nicht einmal so viel Vertrauen zu mir, daß du die Taschen daläßt?«

»Ich bin doch nicht verrückt«, sagte Sulla und ging.

Weibliche Neugier. Ein Narr war er, daß er das vergessen hatte. Er ging zum Großen Markt und gab den Rest seiner tausend Denare aus. Weiber! Neugierige Schnüfflerinnen! Warum hatte er nicht daran gedacht?

Als die Satteltaschen mit Schals und Armreifen, frivolen orientalischen Pantöffelchen und Haarspangen vollgestopft waren, kehrte er nach Hause zurück. Ein Diener sagte ihm, daß die Damen und der junge Stichus im Eßzimmer auf ihn warteten.

»Sag ihnen, ich komme gleich«, antwortete Sulla und betrat Nikopolis’ Zimmer.

Dort schloß er die Fensterläden und verriegelte die Tür. Die hastig eingekauften Geschenke häufte er auf den Tisch, ebenso ein paar neue Schriftrollen. Die linke Satteltasche beachtete er nicht, aus der rechten Tasche nahm er die obenauf liegenden Kleider und regte sie auf das Bett. Dann griff er tief in die Tasche und zog zwei Paar zusammengerollte Socken hervor, in die er zwei kleine Fläschchen mit dick versiegelten Korken eingewickelt hatte. Auch ein einfaches Holzkästchen kam zum Vorschein, so klein, daß es in seiner Hand Platz fand. Wie unter einem Zwang öffnete er den Deckel, der dicht abschloß. Der Inhalt bestand aus ein paar Unzen eines weißlichen Pulvers. Sulla drückte den Deckel wieder herunter und sah sich mit gerunzelter Stirn im Zimmer um: Wohin damit?

Auf einem langen, schmalen Wandtischchen standen mehrere altersschwache Holzschreine, die aussahen wie Tempelmodelle. Es handelte sich um die letzten Überreste der Einrichtung von Sullas Elternhaus. Sein Vater hatte die Kästchen nicht gegen Wein tauschen können, weil niemand sie haben wollte, und so waren sie Sullas ganzes Erbe geworden. Es waren fünf würfelförmige Schreine, von denen jeder etwa zwei Fuß lang, breit und hoch war. Auf der Vorderseite der Schreine befanden sich Säulen, dazwischen stand ein bemaltes, hölzernes Türchen. Die Giebel waren an der Spitze und an den Seiten mit geschnitzten Tempelfiguren verziert, auf dem einfachen Gesims unterhalb des Giebels war auf jedem Schrein ein Männername aus dem Patriziergeschlecht der Cornelier eingraviert. Der Name des ersten Schreins gehörte dem Urvater der sieben Zweige des Geschlechts. Der zweite lautete Publius Cornelius Rufinus, der vor mehr als zweihundert Jahren Konsul und Diktator gewesen war. Auf ihn folgte sein Sohn, der während der Kriege gegen die Samniten zweimal Konsul und einmal Diktator gewesen, dann aber aus dem Senat verstoßen worden war, weil er Silbergeschirr gehortet hatte. Sodann kam der erste Rufinus, der den Namen Sulla getragen hatte. Er war ein Priester des Jupiter gewesen. Der letzte Name schließlich, Publius Cornelius Sulla Rufinus, hatte dem Sohn des Priesters gehört, der Prätor gewesen und durch die Gründung der Spiele zu Ehren Apollos berühmt geworden war.

Sulla öffnete den Schrein des ersten Sulla. Er ging sehr sorgfältig zu Werk, denn das Holz war brüchig. Eines Tages wollte er die Ahnenschreine restaurieren lassen und sie in seinem Haus in einem eindrucksvollen Atrium aufstellen. Im Augenblick jedoch schien der Schrein der richtige Ort, um die beiden Fläschchen und das Kästchen mit dem Pulver zu verstecken - der Schrein des Sulla, der zu seiner Zeit der heiligste Mann in Rom, der Diener des Jupiter Optimus Maximus gewesen war.

Im Innern des Schreins befand sich eine Wachsmaske mit einer Perücke. Die Maske war lebensgroß und wirkte durch ihre sorgfältige Bemalung außerordentlich lebensecht. Stechende Augen sahen Sulla an, blau im Unterschied zu seinen eigenen blaßgrauen Augen. Die Haut des Ahnen war hell, aber nicht so hell wie die Sullas, das dichte und lockige Haar war karottenrot, während Sullas Haar goldrot glänzte. Die Maske war auf einem hölzernen Block befestigt und zuletzt bei der Beerdigung seines Vaters herausgenommen worden. Das Geld für die Beerdigung hatte Sulla durch eine Reihe demütigender Begegnungen mit einem ihm verhaßten Mann verdienen müssen.

Liebevoll schloß Sulla die Tür, dann tasteten seine Finger suchend über die Treppe, die zu dem Holztürchen hinaufführte. Die Stufen waren glatt und nichts deutete darauf hin, daß in ihnen eine kleine Schublade verborgen war. Doch wie bei einem echten Tempel war das Podium des Ahnentempelchens hohl. Sullas Finger fanden die richtige Stelle und zogen die Schublade aus der Treppe. Die Schublade war nicht als Geheimfach gedacht, sondern in ihr wurden das Testament des Verstorbenen sowie eine detaillierte Beschreibung seiner körperlichen Erscheinung, seiner Größe, seines Ganges, seiner Gewohnheiten und seiner sonstigen Körpermerkmale aufbewahrt. Wann immer ein Cornelius Sulla starb, wurde ein Schauspieler engagiert, der die Maske aufsetzte und den toten Vorfahr so täuschend ähnlich spielte, daß man glauben konnte, er sei zurückgekehrt, um einen weiteren Sproß seines Geschlechtes aus dieser Welt zu geleiten.

Neben den Dokumenten über den Priester Publius Cornelius Sulla Rufinus war in der Schublade genügend Platz für die beiden Fläschchen und das Kästchen mit dem Pulver. Sulla legte alles hinein, schob die Schublade wieder zurück und vergewisserte sich, daß sie ganz geschlossen war. Sein Geheimnis war bei Rufinus sicher aufgehoben.

Erleichtert richtete er sich auf, öffnete die Fensterläden und schob den Riegel an der Tür zurück. Er nahm den Flitterkram vom Tisch und griff mit einem boshaften Grinsen nach einer der Schriftrollen, die gleichfalls dort lagen.

Dann ging er ins Eßzimmer, in dem neben Clitumna und Nikopolis Lucius Gavius Stichus lag, natürlich auf dem Platz des Hausherrn. Auch Clitumna und Nikopolis lagen auf einem Sofa, statt auf Stühlen zu sitzen, wie es sich für Frauen ziemte. Die beiden Frauen gaben nicht viel auf Traditionen.

»Da seid ihr ja, Mädchen«, sagte Sulla. Zwei anbetende Augenpaare folgten ihm durch den Raum. Sulla warf den Frauen die Geschenke in den Schoß. Er hatte gut gewählt, die Sachen hätten tatsächlich von Märkten außerhalb Roms stammen können, und keine der Frauen würde sich schämen, sie zu tragen.

Stichus warf er die Schriftrolle hin.

»Dir habe ich auch eine Kleinigkeit mitgebracht, Stichus«, sagte er.

Verwirrt sah Stichus Sulla an, und während dieser sich zwischen den beiden kichernden und schnurrenden Frauen auf dem Sofa niederließ und es sich bequem machte, band er das Buch auf und rollte es auseinander. Zwei scharlachrote Flecken flammten auf seinen pickeligen Wangen auf, als er mit hervorquellenden Augen die realistisch gezeichneten Männerfiguren mit erigierten Penissen anstarrte, die auf dem unschuldigen Papyrus alle möglichen athletischen Taten miteinander vollführten. Mit zitternden Händen rollte er das Ding wieder zusammen und band es zu. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und blickte seinen Wohltäter an. Sullas furchteinflößende Augen glitzerten ihn über Clitumnas Kopf voller Verachtung an.

»Ich danke dir, Lucius Cornelius«, stammelte er.

»Gern geschehen, Lucius Gavius«, erwiderte Sulla kalt.

In diesem Augenblick wurde der gustus hereingetragen, das Vorgericht, das man, wie Sulla vermutete, anläßlich seiner Rückkehr in aller Eile erweitert hatte, denn neben den üblichen Oliven, Salaten und hartgekochten Eiern gab es heute auch ein paar Fasanenwürstchen und Thunfisch in Öl. Sulla stürzte sich hungrig auf das Essen. Dazwischen beobachtete er Stichus, der allein auf seinem Sofa saß und mitansehen mußte, wie seine Tante sich mit ihrem ganzen Körper gegen Sulla lehnte und Nikopolis’ Hände hemmungslos Sullas Lenden liebkosten.

»Na, was gibt es Neues zu Hause?« fragte Sulla, als der erste Gang beendet war.

»Nicht viel«, antwortete Nikopolis, die sich mehr für das interessierte, was sich unter ihren Händen abspielte.

»Das glaube ich nicht.« Sulla hob Clitumnas Hand an seinen Mund und begann, ihre Fingerspitzen zu küssen. Als er Stichus angeekelten Blick sah, ging er dazu über, wollüstig an Clitumnas Fingern zu lutschen. »Komm, Schatz« - Clitumnas kleiner Finger verschwand in seinem Mund - »das glaube ich euch nicht« - der Ringfinger folgte - »daß gar nichts passiert ist.« Nacheinander verschwanden Mittelfinger, Zeigefinger, Daumen in Sullas Mund.

Glücklicherweise wurde in diesem Augenblick das ferculum, das Hauptgericht, hereingetragen. Clitumna zog ihre Hand zurück und streckte sie gierig nach dem Lammbraten in Thymiansoße aus.

»Unsere Nachbarn hatten viel Aufregung«, sagte sie kauend, »während es bei uns ruhig zuging.« Sie seufzte. »Titus Pomponius’ Frau hat im Februar einen kleinen Jungen geboren.«

»Oh ihr Götter! Noch so ein langweiliger Geldsack!« meinte Sulla. »Und bei den Juliern?« Er dachte an die reizende Julilla und die Krone aus Gras.

»Dort gab es große Neuigkeiten!« Clitumna schleckte ihre Finger ab. »Ein ganz großes gesellschaftliches Ereignis - eine Hochzeit! «

Sulla glaubte zu fühlen, daß ihm das Herz wie ein Stein in den Magen fiel und dort inmitten der Speisen heftig schlagend liegenblieb. Ein seltsames Gefühl.

»Wirklich?« sagte er betont gleichgültig.

»Ja! Caesars älteste Tochter hat Gaius Marius geheiratet! Stell dir vor!«

»Gaius Marius?«

»Kennst du ihn nicht?«

»Ich glaube nicht. Marius? Er muß ein homo novus sein.«

»Richtig. Vor fünf Jahren war er Prätor, aber er hat es natürlich nicht zum Konsul gebracht. Er war Statthalter in Hispania Ulterior und hat dort ein Vermögen gemacht. Minen und so weiter.«

Sulla erinnerte sich plötzlich an den Mann mit dem Adlergesicht, der an der Amtseinführung der neuen Konsuln teilgenommen hatte. Er hatte eine purpurgeränderte Toga getragen. »Wie sieht er aus?«

»Grotesk, mein Lieber! Riesige Augenbrauen! Wie haarige Raupen.« Clitumna nahm sich von dem gedünsteten Broccoli. »Er ist mindestens dreißig Jahre älter als Julia, das arme Kind.«

»Das ist doch fast schon normal«, mischte sich Stichus ein, der endlich auch einmal zu Wort kommen wollte. »Mindestens die Hälfte aller römischen Mädchen heiratet Männer, die ihre Väter sein könnten. Ekelhaft!«

»So ein Unsinn!« Nikopolis richtete sich auf und funkelte Stichus böse an. »Laß dir sagen, du Schlappschwanz, daß ältere Männer für junge Mädchen sehr attraktiv sind! Ältere Männer sind wenigstens mitfühlend und vernünftig. Meine schlimmsten Liebhaber waren alle unter fünfundzwanzig. Tun so, als ob sie alles wüßten, dabei wissen sie gar nichts. Pfui! Als ob man von einem Bullen gestoßen würde! Vorbei, bevor es angefangen hat.«

Stichus, der dreiundzwanzig Jahre alt war, konnte das nicht auf sich sitzen lassen. »Du glaubst wohl, du weißt alles?« höhnte er.

Nikopolis sah ihn kalt an. »Ich weiß jedenfalls mehr als du, Schlappschwanz!«

»Jetzt kommt schon, heute wollen wir uns vertragen«, rief Clitumna. »Wo doch unser lieber Lucius Cornelius zurückgekommen ist.«

Prompt warf der so angesprochene Heimkehrer seine Stiefmutter auf den Rücken und kitzelte sie am Bauch, so daß sie schrill aufschrie und mit den Beinen in der Luft herumstrampelte. Daraufhin begann Nikopolis, Sulla zu kitzeln, und auf dem Sofa entstand ein wüstes Durcheinander.

Das war zuviel für Stichus. Er packte seine Schriftrolle und stolzierte aus dem Raum. Gegen Sulla war kein Kraut gewachsen. Tante Clitumna mußte den Verstand verloren haben! Nicht einmal während Sullas Abwesenheit hatte sie sich überreden lassen, Sulla aus dem Haus zu werfen. Sie hatte immer nur geheult, wie schade es sei, daß ihre beiden lieben Jungen sich nicht vertragen würden.

Daß er nichts gegessen hatte, war Stichus egal. In seinem Arbeitszimmer bewahrte er eine stattliche Sammlung von Eßbarem auf: ein Glas mit in Sirup eingelegten Feigen, ein kleines Tablett, das der Koch ständig mit süßem Honiggebäck versorgen mußte, eine Schachtel mit saftigen Rosinen, ferner Honigkuchen und Honigwein. Er konnte es ohne Lammbraten und Broccoli aushalten, für ihn zählten nur Süßigkeiten.

Eine fünfeckige Lampe verscheuchte die einbrechende Dunkelheit, als Stichus, das Kinn in die Hand gestützt und süße Feigen kauend, aufmerksam die Zeichnungen der Schriftrolle studierte, die Sulla ihm geschenkt hatte, und dazu die griechische Beschreibung las. Ah! Ooooh! Unter seiner Tunika regte sich etwas! Und Stichus’ Hand. fiel vom Kinn in den Schoß, verstohlen, obwohl nur ein Glas Feigen ihm zusah.

Einem Impuls folgend, für den er sich zugleich verachtete, ging Lucius Cornelius Sulla am nächsten Morgen über den Palatin zu jener Stelle, wo er vor Wochen Julilla begegnet war. Inzwischen war es Spätfrühling, und überall blühten Blumen - Narzissen und Ameronen, Hyazinthen, Veilchen und hier und da sogar eine frühe Rose. Der Felsbrocken, auf dem er im Januar gesessen hatte, war jetzt fast ganz unter saftiggrünem Gras verschwunden.

Julilla war da. Sie wirkte dünner, auch ihre Honigfarbe schien blässer, und eine Sklavin war bei ihr. Als Julilla Sulla sah, schoß eine wilde, triumphierende Freude in ihre Augen und verwandelte ihr Gesicht - sie war wunderschön. Sulla blieb abrupt stehen, ein Schauer überlief ihn. Venus. Sie war Venus, die Herrscherin über Leben und Tod. Denn war Leben nicht Zeugungstrieb und Tod sein Erlöschen? Alles andere waren Fabeln, die die Menschen erfunden hatten, um Leben und Tod eine tiefere Bedeutung zu geben.

Sie war Venus. War er Mars, ihr gleich an Göttlichkeit? Nein, er war nicht Mars. Wut packte ihn, Enttäuschung und Haß. Gift schoß durch seine Adern, und er verspürte einen überwältigenden Drang, sie zu verletzen und zu demütigen, bis aus Venus wieder Julilla geworden war.

»Ich habe gehört, daß du gestern zurückgekommen bist«, sagte sie.

»Du hast wohl überall Spione?« fragte er.

»In unserer Straße braucht man keine Spione, Lucius Cornelius. Die Diener wissen alles.«

»Nun, hoffentlich glaubst du nicht, daß ich hier nach dir gesucht habe. Ich wollte nur ein wenig Ruhe.«

Sie war schöner geworden in der Zwischenzeit. Mein Liebling, dachte er. Julilla. Der Name ging wie Honig über die Lippen.

»Willst du damit sagen, daß ich deine Ruhe störe?« Trotz ihrer Jugend war sie erstaunlich selbstsicher.

Er lachte und sagte so herablassend wie möglich: »Oh ihr Götter! Kleines Mädchen, du mußt noch lange warten, bis du groß bist! « Er lachte noch einmal. »Ich habe gesagt, daß ich hierher kam, weil ich Ruhe brauche. Also habe ich angenommen, daß ich hier Ruhe finde, oder? Die logische Schlußfolgerung lautet, daß du meine Ruhe nicht im geringsten störst.«

Julilla gab sich nicht geschlagen. »Keineswegs! Die Folgerung könnte auch lauten, daß du nicht erwartet hast, mir hier zu begegnen.«

»Weil es mir absolut gleichgültig war«, sagte er.

Es war ein ungleicher Kampf. Der Glanz in Julillas Augen erlosch, und aus der Unsterblichen wurde die Sterbliche. Julillas Gesicht zuckte, aber sie unterdrückte den Drang zu weinen und starrte Sulla nur verwirrt an. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck und seine Worte nicht mit ihren tiefsten Herzensinstinkten in Einklang bringen, die ihr sagten, daß sie ihn eingefangen hatte.

»Ich liebe dich!« sagte sie, als ob damit alles erklärt sei.

Er lachte wieder. »Fünfzehn! Was weißt du schon von Liebe?«

»Ich bin sechzehn!« erwiderte sie.

»Jetzt hör mir mal zu, Kleine«, sagte Sulla schneidend. »Laß mich in Ruhe! Deine Reden sind mir nicht nur lästig, sondern langsam auch peinlich.« Er wandte sich um und ging weg.

Julilla brach nicht in Tränen aus. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie in Tränen ausgebrochen wäre. So aber ging sie zu ihrer Sklavin, die so tat, als genieße sie die Aussicht auf den menschenleeren Circus Maximus.

»Früher oder später kriege ich ihn, Chryseis.«

»Ich glaube nicht, daß er dich will«, sagte Chryseis.

»Natürlich will er mich! « rief Julilla. »Und wie er mich will! «

Chryseis wußte aus langjähriger Erfahrung mit Julilla, wann es besser war, den Mund zu halten. Sie widersprach nicht, sondern seufzte nur und zuckte mit den Schultern. »Mach, was du willst.«

»Das tue ich sowieso.«

Schweigend machten sich die beiden Mädchen auf den Rückweg. Als sie den großen Tempel der Magna Mater erreicht hatten, brach Julilla das Schweigen. Ihre Stimme klang entschlossen.

»Von jetzt an werde ich nichts mehr essen«, sagte sie.

Chryseis blieb erschrocken stehen. »Und was willst du damit erreichen?«

»Im Januar hat er gesagt, daß ich dick bin. Und er hat recht.«

»Julilla, du bist nicht dick!«

»Doch. Deshalb habe ich seit Januar keine Süßigkeiten mehr gegessen. Jetzt bin ich ein wenig schlanker, aber noch nicht schlank genug. Er mag schlanke Frauen. Schau dir nur Nikopolis an. Ihre Arme sind dünn wie Strohhalme.«

»Aber sie ist alt!« rief Chryseis. »Was dir steht, würde an ihr furchtbar aussehen. Außerdem werden sich deine Eltern Sorgen machen, wenn du nichts mehr ißt - sie werden glauben, daß du krank bist! «

»Sollen sie«, sagte Julilla. »Wenn sie glauben, daß ich krank bin, glaubt Lucius Cornelius das auch. Und dann wird er sich furchtbare Sorgen um mich machen.«

Vier Tage nach Sullas Rückkehr erkrankte Lucius Gavius Stichus in Clitumnas Haus an einer Verdauungsstörung und mußte das Bett hüten. Besorgt ließ Clitumna ein halbes Dutzend der angesehensten Ärzte des Viertels kommen, die übereinstimmend Lebensmittelvergiftung diagnostizierten.

»Aber er hat nichts anderes gegessen als wir anderen!« wandte Clitumna ein. »Er ißt sogar viel weniger.«

»Ah, domina, da irrst du dich aber«, lispelte der Arzt Athenodorus Siculus, ein Grieche aus Sizilien, der sich neugierig im ganzen Haus umgesehen hatte. »Du weißt doch bestimmt, daß Lucius Gavius im Arbeitszimmer einen halben Süßwarenladen aufbewahrt?«

»Unfug!« rief Clitumna. »Einen halben Süßwarenladen? Ein paar Feigen und etwas Gebäck, das ist alles.«

Die sechs Ärzte sahen einander an. » Domina, er ißt diese Süßigkeiten den ganzen Tag und die halbe Nacht, das haben mir deine Diener erzählt«, sagte Athenodorus. »Ich rate dir: Nimm ihm die Süßigkeiten weg. Dann wird sich nicht nur die Magenverstimmung bessern, sondern sein ganzer Gesundheitszustand.«

Lucius Gavius Stichus lag leichenblaß daneben, vom heftigen Durchfall so geschwächt, daß er sich nicht verteidigen konnte. Unruhig wanderten seine hervorstehenden Augen von einem Sprecher zum anderen.

»Er hat überall Pickel, und seine Haut hat eine schlechte Farbe«, sagte ein anderer griechischer Arzt, der aus Athen stammte. »Treibt er Sport?«

»Er braucht keinen Sport«, sagte Clitumna. Zum ersten Mal lag ein leicht zweifelnder Ton in ihrer Stimme. »Er ist geschäftlich dauernd unterwegs und reist von Ort zu Ort. Das hält ihn auf Trab, glaube mir!«

»Was hast du für einen Beruf, Lucius Gavius?« fragte ein spanischer Arzt.

»Ich bin Sklavenhändler«, sagte Stichus.

Außer Publius Popillius, einem Römer, waren alle anwesenden Ärzte als Sklaven nach Rom gekommen, und die Ablehnung in ihren Blicken war deutlich zu sehen. Sie erklärten die Untersuchung für beendet und zogen sich zurück.

»Wenn er nach Süßigkeiten verlangt, soll er Wein mit Honig trinken«, sagte Publius Popillius. »Ein oder zwei Tage lang darf er keine feste Nahrung zu sich nehmen. Wenn er sich dann hungrig fühlt, soll er ein normales Essen bekommen. Normales Essen, domina! Keine Süßigkeiten.«

Stichus’ Zustand besserte sich in der folgenden Woche, er wurde jedoch nicht völlig gesund. Zwar aß er nur nahrhafte und gesunde Speisen, aber er litt in regelmäßigen Abständen unter Schwindelanfällen, Erbrechen, Schmerzen und Durchfall. Er verlor an Gewicht, allerdings so allmählich, daß es niemand im Haus auffiel.

Als der Sommer zu Ende ging, konnte er sich nicht einmal mehr in sein Arbeitszimmer am Porticus Metelli schleppen. Die Tage, an denen er danach verlangte, auf dem Sofa in der Sonne zu liegen, wurden immer seltener, das illustrierte Buch, das Sulla ihm geschenkt hatte, interessierte ihn nicht mehr, und Essen war eine Tortur. Er konnte nur noch den Honigwein ertragen und manchmal nicht einmal mehr den.

Bis September hatte Clitumna jeden Arzt in Rom zu Rat gezogen. Die Ärzte gaben viele verschiedene Diagnosen ab, von den Behandlungsvorschlägen ganz zu schweigen.

»Er darf essen, was er will.«

»Er darf nichts essen. Fasten ist am besten.«

»Er darf nur noch Bohnen essen.«

»Tröstet euch«, sagte der Grieche Athenodorus Siculus, »was immer er hat, ansteckend ist es offenbar nicht. Ich glaube, er hat eine bösartige Geschwulst in den oberen Eingeweiden. Trotzdem solltest du dafür sorgen, daß alle sich gründlich die Hände waschen, die mit ihm in Kontakt gekommen sind oder seinen Nachttopf ausleeren müssen.«

Zwei Tage später starb Lucius Gavius Stichus. Clitumna war außer sich vor Trauer. Sie wollte nicht länger in Rom bleiben, und Sulla brachte sie zu ihrem Landhaus nach Circei.

Als Sulla aus Circei zurückkehrte, gab er Nikopolis einen Kuß, dann zog er aus ihren Räumen aus.

»Ich übernehme wieder das Arbeitszimmer und mein eigenes Schlafzimmer«, sagte er. »Schließlich bin ich jetzt, wo der klebrige Stichus tot ist, der nächste Verwandte Clitumnas.« Die üppig illustrierten Buchrollen verbrannte er in einem Eimer. Nikopolis sah ihm von der Tür des Arbeitszimmers aus zu.

Die Karaffe mit dem Honigwein stand auf einer kostbaren Konsole aus Zitronenholz. Als Sulla das Gefäß hochhob, sah er Feuchtigkeitsringe, die sich unauslöschbar in die feine Holzmaserung gefressen hatten. Verächtlich zog er den Atem durch die Zähne.

»So eine Kakerlake! Leb wohl, du süße Feige!«

Er warf die Karaffe durch das offene Fenster in den Garten des Peristyls, wo sie auf der Fußplatte des Standbilds von Apollo und Daphne in tausend Scherben zerbarst. Der Honigwein bildete auf dem glatten Stein einen große Lache und tropfte in dünnen Rinnsalen auf den Boden.

»Du hast recht«, kicherte Nikopolis, »er war wirklich eine süße Feige.« Sie rief nach ihrer Magd Bithy und befahl ihr, die Lache aufzuwischen.

Niemand bemerkte die Spuren eines weißen Pulvers auf dem Marmor. Bithy wischte sie unbeachtet weg.

»Ich bin froh, daß du nicht die Statuen getroffen hast«, sagte Nikopolis. Sie saß auf Sullas Knien.

»Mir tut es leid«, sagte Sulla. Er sah sehr zufrieden aus.

»Leid? Aber Lucius Cornelius, sie sind doch so schön angemalt! Die ganze Farbe wäre ruiniert gewesen.«

Sulla kräuselte verächtlich die Oberlippe, so daß seine Zähne zu sehen waren. »Warum muß ich es immer mit Narren zu tun haben, die nicht wissen, was Kunst ist?« Er schob Nikopolis von seinen Knien.

Die Lache war verschwunden. Bithy wrang den Lappen aus und leerte den Wassereimer in das Blumenbeet.

»Bithy!« rief Sulla. »Wasch dir die Hände, und zwar gründlich! Du weißt nicht, woran Stichus gestorben ist, und er hat ja dauernd von dem Honigwein getrunken.«

Bithy strahlte, weil er so besorgt um sie war.

»Ich habe heute einen sehr interessanten jungen Mann entdeckt«, sagte Gaius Marius zu Publius Rutilius Rufus.

Die beiden Männer saßen in der Einfriedung des Tellus-Tempels gleich neben Rutilius Rufus’ Haus, in die an diesem windigen Herbsttag die Sonne schien. »In mein Peristyl fällt kein einziger Sonnenstrahl«, hatte Rutilius Rufus erklärt und deshalb seinen Besucher zu einer Holzbank in der Nähe des großen, aber halbverfallenen Tempels geführt. »Unsere alten Götter werden heutzutage vernachlässigt, ganz besonders meine gute alte Nachbarin Tellus. Alle verneigen sich vor der Magna Mater von Asien und vergessen, daß Rom mit seiner eigenen Erdgöttin besser gedient wäre!«

Gaius Marius hatte die Begegnung mit dem interessanten jungen Mann nur erwähnt, um der drohenden Predigt über die ältesten und geheimnisvollsten Götter Roms zu entgehen. Der kleine Trick funktionierte. Rutilius Rufus konnte interessanten Menschen jeden Alters und Geschlechts nicht widerstehen.

»Von was für einem jungen Mann redest du?« fragte er und wandte sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zu.

»Er heißt Marcus Livius Drusus und ist wahrscheinlich nicht älter als - nun, siebzehn oder achtzehn Jahre.«

»Mein Neffe Drusus?«

Marius sah ihn überrascht an. »Er ist dein Neffe?«

»Ja, wenn du den Sohn des Marcus Livius Drusus meinst, der im Januar seinen Triumph gefeiert hat und sich für das kommende Jahr zum Zensor wählen lassen will.«

Marius lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, wie peinlich! Warum kann ich mir solche Dinge nie merken?«

»Wahrscheinlich deshalb«, sagte Rutilius Rufus trocken, »weil meine Frau Livia jetzt schon seit vielen Jahren tot ist, nie an den Gelagen in meinem Haus teilnahm und auch nie außer Haus ging. Um dein bäurisches Gedächtnis aufzufrischen: Livia war die Schwester des Vaters deines interessanten jungen Mannes. Ich habe meine Frau sehr gemocht. Sie hat mir zwei prächtige Kinder geschenkt und nie mit mir gestritten.«

»Ich weiß«, sagte Marius unangenehm berührt. Würde er diese Familienbeziehungen denn niemals auseinanderhalten können? »Du solltest wieder heiraten«, sagte er dann. Seine eigene Ehe machte ihn sehr glücklich.

»Nein danke! Ich kann meine Leidenschaften beim Briefeschreiben abreagieren.« Rutilius Rufus öffnete ein Auge und sah Marius an. »Und warum hältst du soviel von meinem Neffen Drusus?«

»In den letzten Wochen haben mich mehrere Abordnungen unserer italischen Bundesgenossen aufgesucht«, sagte Marius langsam. »Alle beschwerten sich bitter, daß Rom ihre Soldaten mißbraucht. Meiner Meinung nach haben sie gute Gründe für ihre Beschwerde, denn fast alle Konsuln sind in den letzten zehn Jahren oder länger leichtfertig mit dem Leben der Soldaten umgegangen - als ob die Männer Stare oder Spatzen wären! Und als erste mußten immer die Soldaten der italischen Bundesgenossen dran glauben, denn es ist üblich geworden, sie in gefährlichen Situationen vor unseren eigenen einzusetzen.«

Rutilius Rufus kannte Marius gut genug, um zu wissen, daß diese scheinbare Abschweifung zuletzt doch noch zu seinem Neffen Drusus führen würde. Deshalb ging er bereitwillig auf sie ein. »Rom hat die italischen Bundesgenossen unter seinen Schutz genommen, um die ganze Halbinsel besser verteidigen zu können. Die italischen Völker stellen uns Soldaten zur Verfügung, dafür wurde ihnen ein Sonderstatus als Bundesgenossen Roms zugestanden. Sie stellen uns Truppen, damit wir gemeinsam für eine gemeinsame Sache kämpfen können. Wäre es nicht so, würden sich die Völker der Halbinsel noch immer gegenseitig bekriegen - und dabei mehr Männer verlieren, als irgendein römischer Konsul jemals verloren hat.«

»Darüber kann man geteilter Meinung sein«, sagte Marius. »Sie hätten sich auch ohne Rom miteinander verbünden können! «

»Aber sie sind nun einmal mit Rom verbündet, und das seit zwei- oder dreihundert Jahren. Mein lieber Gaius Marius, ich verstehe nicht, worauf du eigentlich hinauswillst.«

»Die Bundesgenossen behaupten, daß Rom ihre Truppen in fernen Kriegen einsetzt, von denen keinerlei Nutzen für Italien zu erwarten ist«, erklärte Marius geduldig. »Dafür haben wir ihnen einmal das römische Bürgerrecht in Aussicht gestellt, aber seit fast achtzig Jahren hat keine italische oder latinische Gemeinde mehr das Bürgerrecht erhalten. Es mußte erst zur Revolte von Fregellae kommen, bis der Senat zu Zugeständnissen bereit war! «

»Das ist eine sehr vereinfachte Darstellung«, sagte Rutilius Rufus. »Wir haben den italischen Bundesgenossen nicht pauschal das Bürgerrecht versprochen. Wir haben ihnen angeboten, stufenweise die Bürgerrechte zu erwerben, und zwar im Austausch für fortgesetzte Treue - zuerst die latinischen Rechte.«

»Latinische Rechte bedeuten sehr wenig, Publius Rutilius! Bestenfalls ein zweitklassiges Bürgerrecht.«

»Nun ja, aber du wirst zugeben, daß wir in den fünfzehn Jahren seit dem Aufstand von Fregellae viel verbessert haben«, beharrte Rutilius Rufus. »Jeder, der in einer Bürgergemeinde ein Amt innehat, erhält jetzt automatisch das volle römische Bürgerrecht für sich und seine Familie.«

»Ich weiß, ich weiß. Das Gesetz verschafft Rom genau die richtigen neuen Bürger - Männer mit Vermögen und Einfluß.«

Rutilius Rufus zog die Augenbrauen hoch. »Und was ist falsch daran?«

»Du denkst zwar oft aufgeschlossen und fortschrittlich, Publius Rutilius, aber in deinem Herzen bist du ein genauso spießiger römischer Adliger wie Gnaeus Domitius Ahenobarbus!« Marius war gereizt, versuchte jedoch, sich zu beherrschen. »Warum begreifst du denn nicht, daß Rom und Italien gleichberechtigt in eine Union zusammengehören?«

»Weil sie eben nicht zusammengehören!« Auch Rutilius Rufus war ungeduldig geworden. »Wirklich, Gaius Marius! Wie kannst du hier in Roms Mauern für politische Gleichberechtigung von Römern und Italikern eintreten? Rom ist nicht zufällig die erste Macht in der Welt geworden! Rom ist anders.«

»Rom ist etwas Besseres, willst du sagen.«

»Richtig!« Rutilius Rufus richtete sich auf. »Rom ist Rom, die Römer sind den anderen Völkern überlegen! «

»Hast du eigentlich nie darüber nachgedacht, Publius Rutilius, daß Rom noch größer wäre, wenn ganz Italien - auch das italische Gallien - zu seinem Herrschaftsbereich gehören würde?«

»Unsinn! Rom wäre dann nicht mehr Rom«, antwortete Rutilius.

»Und damit weniger?«

»Natürlich!«

»Aber die heutige Situation ist doch eine Posse«, beharrte Marius. »Italien ist ein Flickenteppich! Einige Gegenden haben das volle Bürgerrecht, andere das latinische Recht, wieder andere nur den Status von Bundesgenossen, alles wild durcheinander. Wie kann da ein Gefühl der Einheit, der Verbundenheit mit Rom entstehen?«

»Völker, die das Bürgerrecht oder das latinische Recht haben, verraten uns nicht. Es würde sich für sie nicht auszahlen, uns zu verraten, besonders dann nicht, wenn sie die Alternative in Betracht ziehen.«

»Damit meinst du vermutlich einen Krieg gegen Rom?«

»Na ja, so weit würde ich nicht gehen - ich meine mehr den Verlust von Privilegien, der für die römischen und latinischen Gemeinden unannehmbar wäre, ganz zu schweigen von dem Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung und Anerkennung.«

» Dignitas über alles«, sagte Marius.

»Genau.«

»Du glaubst also, die Anführer dieser römischen und latinischen Gemeinden könnten verhindern, daß die italischen Völker eines Tages auf die Idee kommen, sich gegen Rom zusammenzuschließen?«

Rutilius Rufus war schockiert. »Gaius Marius, von was redest du da? Du bist doch kein Gaius Gracchus und ganz bestimmt kein Reformer!«

Marius erhob sich und ging mehrere Male vor der Bank auf und ab. Dann wandte er sich plötzlich Rutilius zu und sah ihn mit einem wilden Blick an. »Du hast recht, ich bin kein Reformer, aber ich bin ein praktisch denkender Mensch, und ich habe, wie ich mir selbst schmeichle, mehr als nur meinen gerechten Anteil an Intelligenz mitbekommen. Außerdem bin ich kein echter Römer - wie mir die echten Römer immer wieder deutlich zu verstehen geben. Vielleicht ist es meiner Herkunft aus der Provinz zuzuschreiben, daß ich Rom aus einer Distanz sehen kann, wie das vermutlich kein echter Römer kann. Und ich sehe voraus, daß wir Probleme mit unseren Bundesgenossen bekommen werden. Vor ein paar Tagen habe ich gehört, was die italischen Bundesgenossen zu sagen hatten. Veränderungen liegen in der Luft.«

Rutilius Rufus sah Marius, der sich vor ihm aufgebaut hatte, gereizt an. »Setz dich bitte wieder! Ich bekomme sonst noch Nackenschmerzen.«

Marius setzte sich wieder auf die Bank und streckte die Beine aus.

»Du suchst dir Klienten unter den Italikern«, sagte Rutilius Rufus.

»Richtig. Aber nicht ich allein, Publius Rutilius. Gnaeus Domitius Ahenobarbus zählt inzwischen ganze Ortschaften zu seinen Klienten. Auch Marcus Aemilus Scaurus ist sich nicht zu schade, norditalische Klienten an sich zu binden.«

»Aber wenigstens tut er etwas für seine Klienten - er läßt Sümpfe trockenlegen oder eine neue Versammlungshalle bauen.« Rutilius Rufus gehörte zu Scaurus’ Anhängern.

»Zugegeben. Aber vergiß nicht die Meteller in Etrurien. Auch sie werben eifrig Klienten.«

Rutilius Rufus seufzte tief. »Gaius Marius, wann erfahre ich endlich, was du mir auf diese umständliche Weise sagen willst?«

»Das weiß ich selbst noch nicht genau«, sagte Marius. »Ich spüre nur so etwas wie eine Grundströmung. Den großen römischen Geschlechtern wird langsam bewußt, wie wichtig die italischen Bundesgenossen sind. Sie - wie soll ich es ausdrücken - folgen einem Instinkt, den sie selbst noch nicht verstehen.«

»Ich zweifle nicht an deinem Instinkt«, sagte Rutilius Rufus. »Du bist ein bemerkenswert kluger Mensch, Gaius Marius. Oberflächlich betrachtet, ist ein Klient nicht viel wert. Er ist viel mehr auf seinen Patron angewiesen als umgekehrt. Mit Ausnahme von Wahlen vielleicht, oder wenn eine Katastrophe droht. Vielleicht kann der Klient seinem Patron nur dadurch helfen, daß er sich weigert, jemanden gegen die Interessen seines Patrons zu unterstützen. Aber Instinkte sind wichtig, darin stimme ich dir zu. Sie machen auf verborgene Tatsachen aufmerksam, noch lange ehe der nüchterne Verstand sie entdeckt. Vielleicht hast du recht mit deiner Grundströmung. Und vielleicht ist es der einzige Weg aus der Gefahr, daß die großen römischen Familien die italischen Bundesgenossen als Klienten gewinnen. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Ich weiß es auch nicht«, sagte Marius. »Aber ich werbe Klienten an.«

»Aber zurück zum Ausgangspunkt«, lächelte Rutilius Rufus. »Wir wollten über meinen Neffen Drusus sprechen, wenn ich mich richtig erinnere.«

Marius sprang auf. »Stimmt! Komm mit, Publius Rutilius, vielleicht sind wir noch nicht zu spät dran. Ich will dir ein Beispiel für die neue Einstellung der großen Familien gegenüber den italischen Bundesgenossen zeigen!«

Rutilius erhob sich ebenfalls. »Ich komme ja schon! Aber wohin?«

»Zum Forum natürlich!« Marius ging bereits den Abhang des Tempelbezirks zur Straße hinunter. »Dort findet gerade ein Prozeß statt, und wenn wir Glück haben, ist er noch nicht vorbei.«

»Es überrascht mich, daß du davon weißt«, sagte Rutilius Rufus trocken. »Du kümmerst dich doch sonst nicht um die Vorgänge auf dem Forum.«

»Und mich überrascht, daß du nicht seit heute morgen auf dem Forum bist«, entgegnete Marius. »Schließlich ist es der erste Auftritt deines Neffen Drusus als Advokat.«

»Nein! Seinen ersten Auftritt hatte er schon vor Monaten. Damals vertrat er die Anklage gegen den obersten Finanztribunen.«

»Ach so.« Marius zuckte die Schultern und beschleunigte den Schritt. »Dann kann ich dir natürlich kein Versäumnis vorwerfen. Aber auf jeden Fall solltest du die Karriere des jungen Drusus genau beobachten, Publius Rutilius. Dann würdest du nämlich auch meine Ausführungen über die italischen Bundesgenossen besser verstehen.«

»Bitte kläre mich auf.« Rutilius Rufus’ Atem ging schwer. Marius vergaß immer, daß sein Freund kürzere Beine hatte als er.

»Ich hörte heute auf dem Forum jemanden in schönstem Latein und mit einer schönen Stimme reden. Ein neuer Redner, dachte ich und blieb stehen. Es war dein junger Neffe Drusus!«

»In welchem Fall vertritt er diesmal die Anklage?«

»Das ist ja gerade das Interessante: Er tritt diesmal nicht als Ankläger auf, sondern als Verteidiger. Noch dazu vor dem Fremdenprätor! Es ist ein wichtiger Fall, denn es werden sogar Geschworene berufen.«

»Mord an einem römischen Bürger?«

»Nein. Bankrott.«

»Das ist ungewöhnlich«, schnaufte Rutilius Rufus.

»Wie ich die Sache verstanden habe, handelt es sich um eine Art Präzedenzfall«, fuhr Marius fort, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Kläger ist der Geldhändler Gaius Oppius, Beklagter ein marsischer Geschäftsmann namens Lucius Fraucus aus Marruvium. Wie mir ein Informant erzählt hat, hatte Oppius die Außenstände auf seinen italischen Konten satt. Deshalb beschloß er, einen Italiker hier in Rom vor Gericht zu bringen, um ein Exempel zu statuieren. Er will den Italikern solche Angst einjagen, daß sie ihre - vermutlich exorbitanten - Schuldzinsen pünktlich zahlen.«

»Die Zinsen«, keuchte Rutilius Rufus, »liegen bei zehn Prozent.«

»Nur wenn du Römer bist«, erwiderte Marius.

»Wenn du so weiterredest, wirst du wie die Gracchen enden, nämlich mausetot.«

»Unsinn!«

Rutilius Rufus verlangsamte seinen Schritt. »Ich möchte lieber nach Hause. Ich weiß wirklich nicht, warum wir zum Forum gehen.«

»Weil dein Neffe immer noch spricht. Als ich das Forum verließ, hatte er noch gute zweieinhalb Stunden für sein Plädoyer«, antwortete Marius. »Der Prozeß ist sozusagen ein Experiment. Hat irgendwas mit den neuen Prozeßregeln zu tun, die sie einführen wollen. Zuerst kamen die Zeugen dran, dann erhielt die Anklage zweieinhalb Stunden für die Zusammenfassung, dann die Verteidigung drei Stunden für das Plädoyer. Danach bittet der Fremdenprätor die Geschworenen um ihr Urteil.«

Sie schritten den Clivus Sacer hinunter, und der untere Teil des Forum Romanum lag jetzt direkt vor ihnen.

»Gut! Wir kommen gerade rechtzeitig zum Schlußplädoyer«, sagte Marius.

Marcus Livius Drusus sprach immer noch, und immer noch hörten ihm die Anwesenden gebannt zu. Der neue Advokat war deutlich unter zwanzig Jahre alt, von mittlerer Größe und gedrungener Gestalt, und er hatte schwarze Haare und eine dunkle Haut: kaum ein Advokat, der durch seine physische Erscheinung zu bannen vermochte, obwohl sein Gesicht nicht unattraktiv war.

»Ist er nicht erstaunlich?« fragte Marius leise. »Man fühlt sich persönlich angesprochen und glaubt sich geradezu allein mit ihm.«

Marius und Rutilius standen am hinteren Rand einer großen Menge, aber sogar auf diese Entfernung hatten sie den Eindruck, als seien Drusus’ dunkle Augen allein auf sie gerichtet.

»Nirgends steht geschrieben, daß sich ein Mann nur deshalb im Recht befindet, weil er Römer ist«, sagte der junge Mann gerade. »Ich spreche nicht für den Beklagten Lucius Fraucus, ich spreche für Rom! Für Ehre, Integrität und Gerechtigkeit! Nicht für jene Art vordergründiger Gerechtigkeit, die nur die Buchstaben des Gesetzes versteht, sondern für die Gerechtigkeit, die den Sinn hinter dem Wortlaut begreift. Das Gesetz darf kein Felsbrocken sein, der auf einen Menschen herabfällt und ihn gleichmacht mit allen anderen Menschen, denn die Menschen sind nicht gleich. Das Gesetz soll ein weiches Tuch sein, das den Menschen umhüllt und dennoch seine Konturen erkennen läßt, auch wenn das Tuch für alle Menschen gleich ist. Wir dürfen nie vergessen, daß wir, als Bürger Roms, dem Rest der Welt ein Beispiel geben müssen, vor allem, was unsere Gesetze und Gerichte angeht.«

Drusus unterstrich seine Worte mit beredten Gesten. Die kleinste Fingerbewegung, die weit ausholenden Bewegungen des rechten Arms, die Kopfbewegungen und das Mienenspiel - alles beherrschte er perfekt.

»Lucius Fraucus, Italiker aus Marruvium, ist ein Opfer, kein Täter. Niemand - auch Lucius Fraucus nicht - bestreitet die Tatsache, daß der große Geldbetrag, den Gaius Oppius als Kredit gegeben hat, verschwunden ist. Es bestreitet auch niemand, daß das Geld Gaius Oppius zurückerstattet werden muß, und zwar einschließlich der aufgelaufenen Zinsen. Lucius Fraucus ist bereit, notfalls seine Häuser zu verkaufen, seine Ländereien, seine Geschäftsbeteiligungen, seine Sklaven, seine Möbel - seinen gesamten Besitz! «

Drusus trat vor die Geschworenen und musterte sie eindringlich. »Ihr habt die Zeugen gehört. Ihr habt die Anklage gehört. Lucius Fraucus hat das Geld geliehen, aber er hat es nicht gestohlen. Deshalb behaupte ich, daß Lucius Fraucus das eigentliche Opfer ist, nicht der Geldhändler Gaius Oppius. Wenn ihr, die Geschworenen, Lucius Fraucus verurteilt, unterwerft ihr ihn dem vollen Strafmaß des Gesetzes, das für Menschen gilt, die nicht Bürger dieser großen Stadt sind und auch nicht die latinischen Rechte besitzen. Das gesamte Hab und Gut des Lucius Fraucus wird versteigert werden. Ihr wißt, was das bedeutet. Es wird nicht annähernd soviel Geld einbringen, wie es wert ist, vielleicht nicht einmal genug, um die geborgte Summe zurückzuerstatten.« Bei dieser letzten Bemerkung warf Drusus einen vielsagenden Blick auf den Geldhändler Gaius Oppius.

»Nun denn! Wenn Lucius Fraucus seine Schulden deshalb nicht bezahlen kann, wird er in Schuldknechtschaft verkauft werden, bis die Differenz zwischen der geforderten Summe und dem Erlös aus der Versteigerung gedeckt ist. Nun mag Lucius Fraucus zwar ein schlechter Menschenkenner sein, wenn es um die Auswahl seiner wichtigsten Angestellten geht, doch er ist ein geschickter und erfolgreicher Geschäftsmann. Aber wie soll er jemals seine Schulden zurückzahlen, wenn er - arm und entehrt - in Schuldknechtschaft lebt?«

Drusus konzentrierte sich nun ganz auf den römischen Geldhändler, einen milde aussehenden, etwa fünfzigjährigen Mann, der Drusus gleichfalls gebannt lauschte.

»Wird ein Mensch, der kein römischer Bürger ist, eines Verbrechens für schuldig befunden, so folgt eines unausweichlich: Er wird ausgepeitscht. Er wird mit einer Peitsche geschlagen, die mit Widerhaken versehen ist. Er wird gepeitscht, bis von seiner Haut und seinen Muskeln nichts mehr übrig ist, bis er für den Rest seines Lebens verunstaltet ist und schlimmere Narben davonträgt als ein Minensklave.«

Marius’ Nackenhaare sträubten sich: Hatte der junge Mann ihn bei diesen Worten direkt angeblickt oder hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Denn Marius war einer der größten Minenbesitzer Roms. Doch wie hätte der junge Drusus einen verspäteten Zuhörer am hinteren Rand einer so großen Menschenmenge entdecken sollen?

»Wir sind Römer! « rief er. »Italien und seine Bürger stehen unter unserem Schutz. Wollen wir uns wirklich wie Minenbesitzer gegenüber Menschen verhalten, die uns als Vorbild ansehen? Wollen wir einen Unschuldigen wegen einer Formsache verurteilen - nur weil ein Schuldschein seine Unterschrift trägt? Wollen wir seine Bereitschaft ignorieren, volle Wiedergutmachung zu leisten? Wollen wir ihm weniger Gerechtigkeit widerfahren lassen, als wir einem römischen Bürger zubilligen würden? Wollen wir einen Mann auspeitschen lassen, dem man eher eine Narrenmütze aufsetzen sollte, weil er einem Dieb vertraut hat? Wollen wir seine Frau zur Witwe machen? Wollen wir seinen Kindern den liebevollen Vater nehmen und sie zu Waisen machen? Sicherlich nicht, verehrte Geschworene! Denn wir sind Römer. Wir sind besser als andere Menschen! «

Der Redner wandte sich abrupt von dem Geldhändler ab. Eine kleine Pause entstand. Alle Augen waren wie gebannt auf Drusus gerichtet, fast alle Augen - mit Ausnahme der Augen einiger Geschworener in der vordersten Reihe, die sich ansonsten von den übrigen Mitgliedern der Jury nicht unterschieden. Auch Gaius Marius und Publius Rutilius Rufus sahen den Redner nicht an. Einer der Geschworenen starrte Oppius durchdringend an und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle, als ob er sich dort kratzen wollte. Die Antwort folgte sofort: ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln des großen Bankiers. Gaius Marius lächelte.

»Ich danke dir, praetor peregrinus«, sagte der junge Mann und verbeugte sich vor dem Fremdenprätor. Plötzlich wirkte er steif und schüchtern.

»Ich danke dir, Marcus Livius«, antwortete der Fremdenprätor und richtete seinen Blick auf die Geschworenen. »Bürger Roms, schreibt euren Spruch auf die Tafeln und übergebt sie dem Gericht.«

Die Geschworenen zogen kleine graue Tontafeln und Kohlestifte hervor, doch sie schrieben nicht. Statt dessen starrten sie auf die Hinterköpfe der Geschworenen, die in der Mitte der ersten Reihe saßen. Der Mann, der Oppius eine stumme Frage gestellt hatte, nahm seinen Stift und zeichnete einen Buchstaben auf seine Tontafel. Dann gähnte er ausgiebig und reckte dabei die Arme hoch über den Kopf. Die Tafel hielt er noch immer in der linken Hand. Die übrigen Geschworenen begannen nun eifrig zu schreiben und überreichten dann ihre Tafeln den Liktoren, die sie einsammelten.

Der Fremdenprätor zählte die Stimmen selbst aus. Atemlos warteten alle auf das Urteil. Der Prätor blickte erst auf, als er alle einundfünfzig Tafeln gezählt hatte.

»Freispruch«, sagte er. »Dreiundvierzig dafür, acht dagegen. Lucius Fraucus von Marruvium, Angehöriger des mit Rom verbündeten Volkes der Marser, du wirst von diesem Gericht hiermit freigesprochen, aber nur unter der Bedingung, daß du die versprochene volle Wiedergutmachtung leistest. Du wirst noch heute die Einzelheiten mit deinem Gläubiger Gaius Oppius klären.«

Damit war der Prozeß beendet. Marius und Rutilius Rufus warteten, bis die versammelten Menschen dem jungen Marcus Livius Drusus ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten.

»Ich gratuliere dir, Marcus Livius«, sagte Marius und reichte ihm die Hand.

»Danke, Gaius Marius.«

»Gut gemacht«, sagte Rutilius Rufus.

Gemeinsam verließen sie das Forum.

Rutilius Rufus beteiligte sich nicht an dem Gespräch zwischen Marius und Drusus. Er freute sich, daß sein Neffe seine Sache so gut gemacht hatte, aber er kannte auch die Schwächen in dessen Charakter. Der junge Drusus war ein ziemlich humorloser Mensch, brillant, aber zugleich seltsam starrsinnig, ernst, zäh, ehrgeizig und unfähig, eine Sache aufzugeben, in die er sich verbissen hatte, selbst wenn er sich dadurch selbst schädigte. Er würde es einmal nicht leicht haben. Trotzdem war er ein ehrenwerter Kerl.

»Es wäre schlecht für Rom gewesen, wenn dein italischer Klient verurteilt worden wäre«, sagte Marius gerade.

»Sehr schlecht«, stimmte Drusus zu. »Fraucus ist einer der einflußreichsten Männer in Marruvium, er gehört dem marsischen Ältestenrat an.«

Sie waren am Ausgang des Forums angekommen. »Geht ihr den Palatin hinauf?« fragte Drusus.

»Nein.« Publius Rutilius Rufus war aus seinen Gedanken wieder erwacht. »Gaius Marius wird bei mir speisen, Neffe.«

Drusus verbeugte sich und ging in Richtung Clivus Palatinus weiter. Hinter Marius und Rutilius Rufus tauchte die wenig einnehmende Gestalt des jungen Quintus Servilius Caepio auf. Caepio war Drusus’ bester Freund, und er beeilte sich, Drusus einzuholen.

»Diese Freundschaft gefällt mir nicht.« Rutilius Rufus sah den beiden jungen Männern nach.

»Warum nicht?«

»Die Familie Servillus Caepio ist sehr vornehm und sagenhaft reich, aber bei ihnen paart sich ein kleiner Verstand mit einer großen Einbildung. Meinem Neffen scheinen die Unterwürfigkeit und die Schmeicheleien des jungen Caepio mehr zu bedeuten als die Freundschaft seiner anderen Altersgenossen. Schade. Denn ich fürchte, Gaius Marius, daß der junge Drusus sich überschätzt, wenn er sich nur an Caepios Ergebenheit orientiert.«