81 ANTON COLICOS

Anton und Vao'sh besuchten den müden Designierten Ridek'h im Zitadellenpalast, um ihm von einer der neuen Geschichten zu berichten, die sie in den Archiven von Hyrillka gefunden hatten. Sie hatten bereits eine Auswahl der besten, aufregendsten Geschichten getroffen, aber leider noch immer keine Lösung für die Probleme des Weisen Imperators gefunden.

Die Augen des jungen Designierten waren blutunterlaufen, und er wirkte sehr erschöpft. Doch Anton fand, dass er entschlossener und zuversichtlicher aussah als noch an Bord des Kriegsschiffs. Mit Yazra'hs und Tal O'nhs Hilfe beaufsichtigte Ridek'h so viele Wiederaufbauprojekte, dass ihm einfach nicht mehr genug Zeit blieb, an sich selbst zu zweifeln.

Yazra'h nahm an der Begegnung in den privaten Gemächern des Designierten teil, denn sie war neugierig auf die Entdeckungen der Historiker. Die schöne Kriegerin setzte sich neben Anton, obwohl er ihr kaum Platz gelassen hatte. Sie roch sauber, nach einem frischen Bad, war aber nicht parfümiert. Die Isix-Katzen wanderten zweimal durch den Raum, legte sich dann vor Antons Füßen auf den Boden.

Ridek'h richtete einen erwartungsvollen Blick auf den alten Erinnerer. »Ist es eine gute Geschichte? Über Hyrillka?« Er saß in einem Sessel, der viel zu groß für ihn zu sein schien.

»Dies ist die Geschichte der Schattenflotte, der Reisenden in Dunkelheit, die für immer jenseits des Lichts gefangen waren.« Anton hatte die Erzählungen ebenfalls gelesen, aber entschieden, Vao'sh davon berichten zu lassen. Sein Freund und Kollege war ein meisterhafter Erzähler.

»Orryx ... ein Name, an den man sich kaum mehr erinnert, ein Ort, den man nicht mehr besucht. Es war die erste unserer Splitter-Kolonien, die dem schwarzen Schatten der Shana Rei zum Opfer fielen.« Die Stimme des alten Historikers wurde kräftiger, und seine Hautlappen zeigten unter- schiedliche Farben. »Shana Rei. Die Geschöpfe der Finsternis kamen aus ihren schwarzen Nebeln und verschlangen unsere Forschungsflotte. Von ihren Crews blieben nur blasse Geister übrig, getötet durch die völlige Abwesenheit von Licht!« Vao'sh schnappte nach Luft und erschreckte damit den jungen Designierten.

»Doch die Ildiraner kannten noch nicht das Wesen ihres schrecklichen neuen Feinds. Die Shana Rei kamen aus den dunklen Nebeln: lebende Schatten, die Licht und Leben fraßen. Orryx war die erste Welt auf ihrem Pfad der Finsternis, ein Ort der Blumen und Felder, der Familien und Lieder. Die Bewohner ahnten nichts, bis die Shana Rei Dunkelheit über das Land legten, wie eine Decke, die das ganze Licht auf- nahm, den armen Leuten Augen und Herzen verband.«

Draußen war Hyrillkas primäre Sonne untergegangen, und die zweite, orangefarbene Sonne gab dem Licht die Farbe von verbranntem Kupfer. Als der Erinnerer seine Erzählung fortsetzte, schien es im Zimmer düster zu werden.

Vao'sh hob einen Finger. »Der Weise Imperator fühlte die Not seiner Untertanen auf Orryx und schickte eine Septa, um ihnen zu helfen. Sieben Kriegsschiffe mit unseren besten Waffen und den tapfersten Soldaten an Bord. Sie alle verschwanden in der Dunkelheit.

Der Weise Imperator spürte die Echos des Entsetzens im Thism und wies seine Techniker und Wissenschaftler an, neue Waffen aus der Lichtquelle zu entwickeln. Es dauerte nicht lange, bis der wackere Tal Bria'nh mit einer Kohorte zur sterbenden Kolonie flog. Er brachte hundert neue Son- nenbomben - Satelliten, die ebenso viel reinigende Helligkeit produzieren konnten wie ein Stern. Tal Bria'nh und seine Soldaten kamen voller Zuversicht und mit der Absicht, sich für den grundlosen Angriff zu rächen. Als die Sonnenbomben gezündet wurden, verbrannte ihr Licht die Shana Rei wie Säure. Ein Blitz und ein Regenbogen, helles Licht, um Ildiranern Freude zu bringen - und den Kreaturen der Dunkelheit den Tod. Die schwarze Decke der Shana Rei begann sich aufzulösen, doch schließlich schwand das Licht der hundert Sonnenbomben. Und dann griffen die Shana Rei erneut an, ohne Gnade. Tal Bria'nh sah sich einer neuen Barriere aus Dunkelheit gegenüber und wusste, dass er nicht siegen konnte. Er schickte Kurierschiffe mit Berichten über den Angriff nach Ildira und blieb selbst an Bord seines Flaggschiffs. Hilfe konnte unmöglich rechtzeitig eintreffen.«

Vao'sh atmete tief durch und legte eine wohlüberlegte Pause ein. Eine der Isix-Katzen bewegte sich und berührte Antons Fuß. »Als schließlich Verstärkung kam, sah Orryx aus, als hätte jemand den ganzen Planeten schwarz angestrichen. Die Shana Rei waren erfolgreich gewesen und hatten das gesamte Leben jener Welt ausgelöscht. Bis zum heutigen Tag wächst dort nichts.«

Vao'sh sah den jungen Designierten an. »Und wissen Sie, was mit den Kriegsschiffen des tapferen Tal Bria'nh passiert ist?« Als Ridek'h den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Sie befanden sich noch im Orbit, aber jedes von ihnen war in einen für Licht absolut undurchlässigen Kokon aus Finsternis gehüllt. Tal Bria'nh und seine Soldaten waren regelrecht in Dunkelheit erstickt!«

Anton stellte sich vor, wie jemand einen schwarzen Sack um die Kriegsschiffe stülpte.

»Die Rettungsmannschaften schnitten mit Lasern durch die Schwärze und suchten an Bord der Kriegsschiffe nach Überlebenden. Aber alle waren tot. Wie hätten sie auch überleben können, in dem Wissen, dass es kein Licht mehr gab, keine Wärme?« Vao'sh schauderte, und Anton glaubte nicht, dass diese Reaktion Teil der Vorstellung war. »Ihre letzten Momente müssen schrecklich gewesen sein.«

»Wie konnten die Shana Rei jemals besiegt werden?«, fragte Ridek'h. »In den Geschichten, meine ich.«

Vao'sh lächelte. »Ich weiß nur, dass der Weise Imperator ein neues Bündnis schuf und >ein Großes Licht hervorbrachten Aus den Aufzeichnungen, die wir hier gefunden haben, geht hervor, dass das Große Licht personifiziertes Feuer war. Damit wurden die Geschöpfe der Finsternis vertrieben: Feuer gegen Nacht.«

»Das klingt nach den Faeros«, sagte Yazra'h.

»Vielleicht haben uns die Faeros schon einmal geholfen!«, stieß Ridek'h aufgeregt hervor. »So etwas solltet ihr für den Weisen Imperator finden, nicht wahr?«

Plötzlich sprangen die Isix-Katzen auf, und Yazra'h reagierte nur einen Sekundenbruchteil später. Anton blickte zur Tür und sah, wie der einäugige Tal O'nh atemlos hereinkam.

»Designierter, drei Kugelschiffe der Hydroger sind nach Hyrillka unterwegs.«

»Hydroger! Was machen wir jetzt?« Ridek'h riss die Augen auf und wandte sich an Yazra'h. »Kämpfen wir? Uns stehen Kriegsschiffe zur Verfügung ...« Tal O'nh berührte das prismatische Lichtquellen-Medaillon an seiner Brust und sprach in einem ruhigen, sachlichen Ton. »Meine Kriegsschiffe können die Hydroger-Kugeln rammen. Zum Glück sind sie fast leer, denn die meisten Besatzungsmitglieder befinden sich auf dem Planeten. Aber ich hoffe, dass solche Maßnahmen nicht notwendig werden. Vor einiger Zeit kamen hunderte von Kugelschiffen nach Ildira und flogen wieder fort, ohne anzugreifen. Vielleicht geschieht das auch hier.«

»Wir sollten den Hydrogern die Initiative überlassen, Designierter«, sagte Yazra'h.

Sie eilten zum offenen Balkon und blickten zum orangefarbenen Abendhimmel von Hyrillka empor. Mithilfe der Kommunikationsspange am Kragen empfing O'nh knappe Berichte von seinen Schiffen im Orbit. Anton sah nach oben. Yazra'h stand dicht neben ihm, und seltsamerweise fühlte er sich in ihrer Nähe sicherer.

Sie entdeckte die Hydroger zuerst und hob den Arm. Drei wie Diamanten funkelnde Kugelschiffe näherten sich und flogen über Hyrillkas Landschaft hinweg, als wollten die Fremden einen Eindruck von den Schäden gewinnen. Schließlich verharrten sie direkt über dem Zitadellenpalast. Die Hydroger schickten weder Warnungen noch ein Ultimatum, aber ihre Präsenz war Drohung genug.

»Soll ich den Palast verlassen?« Ridek'h sah erst den einäugigen Offizier an, dann Yazra'h. »Tal O'nh, wäre ich an Bord eines Ihrer Kriegsschiffe sicherer?«

Yazra'h musterte ihren jungen Neffen und runzelte die Stirn. »Der Designierte muss hier bleiben. Wenn du sterben musst, so musst du sterben - aber stirb nicht als Feigling. Dein Vater blieb tapfer, als ihn Rusa'hs Anhänger erstachen. Du bist jetzt für Hyrillka verantwortlich. Zeig den Bewohnern dieser Welt, wie sich ein Designierter benimmt. Vielleicht haben sie das nach den jüngsten Ereignissen vergessen.«

Ridek'h nahm erneut allen Mut zusammen und befolgte Yazra'hs Rat. Anton sah zum Himmel hoch und hoffte, dass er selbst nicht in das Epos eingehen würde.