66 JESS TAMBLYN
Jess ballte die Fäuste, als wollte er auf diese Weise die elementaren Wasserwesen in sich behalten. Sie schienen nun so unkontrollierbar zu sein wie der verdorbene Wental in seiner Mutter. Er hörte nur noch das Dröhnen in seinem Kopf und das Krachen und Donnern der Zerstörung. Als Karla sprach, kamen die Worte von der Frau, die er so sehr vermisst hatte, aber ein fremder Klang untermalte die Stimme seiner Mutter. »Jess ... warum fürchtest du dich vor mir? Erinnerst du dich nicht?« Sie kam näher, und Dampf umwogte sie. Weit oben knackte es immer wieder in der Eisdecke. »Mein kleiner Junge.«
Die wieder belebte Frau schien sich immer mehr ans Sprechen zu gewöhnen, doch die Worte klangen monoton, ohne emotionalen Gehalt.
»Ich erinnere mich an den wattierten Pullover, den ich für dich gemacht habe, als du neun warst.« Ihr Haar bewegte sich jetzt nicht mehr so wild wie vorher, und das Gesicht wirkte friedlicher. Vielleicht halfen ihr die Erinnerungen dabei, Kontrolle über die dämonische Energie in ihr zu erringen. »Ich erinnere mich an deinen Kompi EA ... Du hast ihn Tasia gegeben, nicht wahr? Wo ist Tasia? Wo ist Ross? Meine Kinder ...«
Trotz des Chaos, das sie umgab, trotz der übers Eis kriechenden Nematoden und der Explosionen, entsann sich Jess an die Jahre, die seine Eltern zusammen verbracht hatten, an das Familienleben unter der Eiskruste von Plumas. Karla hatte Jess beigebracht, einen Oberflächenwagen zu fahren, als er erst zwölf gewesen war. Sie hatte ihm gezeigt, wie man mit den Pumpmaschinen umging, die Schläuche mit Roamer-Schiffen verband und ihre Tanks mit reinem Wasser füllte. Plötzlich begriff Jess, was geschehen sein musste. »All die Jahre war sie im Eis erstarrt. Vermutlich steckte noch ein Funken Leben in ihr. Eine Art Winterstarre. Als ich sie berührte und sie aufzutauen begann, muss ich irgendwie Energie auf sie übertragen haben. Und jetzt hat ein verdorbener Wental die Kontrolle über sie.«
Es ist kein Leben mehr in ihr. Sie war tot. Sie bleibt tot.
»Das glaube ich nicht. Ein Teil von ihr ist noch da!« Jess sah Karla an und setzte sich ihren Angriffen aus. »Mutter, hör mir zu. Bitte!«
Als Karla noch einen Schritt näher kam, summten die Wentals: Sie ist nicht wirklich deine Mutter. Sie lebt nicht.
»Aber sie erinnert sich an mich.«
Der verdorbene Wental greift auf chemische Signaturen im gefrorenen Hirngewebe zu. Deine Mutter existiert nicht mehr.
Erneut dachte Jess an die verdorbenen Wentals, die ihm die elementaren Wasserwesen gezeigt hatten: der ildiranische Septar, der bestrebt gewesen war, gegen den Weisen Imperator zu kämpfen, und die Klikiss-Brüterin, die andere Schwärme hatte erobern wollen. Ihm war es nur darum gegangen, seine Mutter aus ihrem eisigen Grab zurückzubrin gen; er hatte sie nicht wieder beleben wollen. Doch ein Teil seiner neuen Kraft hatte ihr dieses dämonische Leben eingehaucht.
Wir müssen ihr das verdorbene Wasser nehmen.
Die Wentals strömten aus ihm heraus und wurden zu einem Dunst aus kleinen Tropfen. Er wogte Karla entgegen, umgab sie und verdichtete sich. Jess erbebte, und seine Zähne klapperten.
»Bringt sie zurück! Rettet sie. Meine Mutter lebt noch irgendwo in ihr.«
Sie existiert nicht mehr. Lass dich nicht täuschen. Wir müssen jeden Tropfen zurückholen, jedes Molekül.
Jess konnte sich den Wentals nicht widersetzen. Sie benutzten ihn als eine Art Kanal, fluteten durch ihm Karla entgegen. Mit den Gedanken rief er nach seiner Mutter und forderte sie auf, die negativen Energien unter Kontrolle zu bringen.
Als er spürte, dass Karla ihn abzulenken versuchte, drehte er sich um und sah entsetzt, dass sich Dutzende von Nematoden um Cesca gewickelt hatten. Sie bewegte sich und versuchte, Widerstand zu leisten - sie lebte noch!
Aber als Jess ihr helfen wollte, konnte er sich nicht von der Stelle rühren. Die Wentals in ihm lenkten sein ganzes Handeln. So verzweifelt er auch sein mochte: Die Wasserwesen benutzten seinen Körper als Waffe. Als ihre Waffe.
»Rettet Cesca! Helft ihr beim Kampf!«, brachte Jess zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Der verdorbene Wental hat sich nicht in den Würmern ausgebreitet. Wenn Karla Tamblyn uns zu widerstehen versucht, lässt ihre Kontrolle über sie nach.
Jess schaffte es, die Hand auszustrecken, aber Karla kämpfte noch entschlossener und verlangte seine Aufmerksamkeit. »Cesca! Wehr dich weiter!«
Irgendwie gelang es Cesca, sich auf ihre eigene Wental-Energie zu besinnen. Sie setzte die Kraft in einer grellen Explosion frei, und die Nematoden um sie herum flogen fort.
Frei stand sie da, mit wehendem Haar, und ihre Augen brannten fast so wie die Karlas. Es schimmerte, als sie vortrat, ohne auf die Wurmfetzen auf dem Eis zu achten.
Als sie Jess' Hand ergriff, fühlte er sich von zusätzlicher Kraft durchströmt. Ein seltsames Geräusch kam von den vereinten Wentals. Cesca und er bewegten sich synchron, gelenkt von den Energien in ihrem Innern. Jess fühlte, wie etwas Essenzielles aus ihm floss, etwas, von dessen Existenz er bis dahin gar nichts gewusst hatte. Die Wentals nutzten es für ihren Kampf. Karla Tamblyn befand sich im Innern eines trocknenden Sturms, der immer heftiger wurde. Sie hob beide Hände, wehrte sich mit Blitzen, Wellen aus Kälte und Geysiren aus Wasser. Sie schickte Zerstörung in alle Richtungen und zerschmetterte, was zerschmettert werden konnte.
Die vereinten Wentals in Jess und Cesca begannen damit, Karla die verdorbene Flüssigkeit zu entziehen. Auf ihrer wächsernen Haut glänzte Feuchtigkeit, die aus den Poren kam und dann vom Wind fortgerissen wurde.
Jess sah, was geschah, und er versuchte, die Wentals zurückzuhalten. Er wollte sie dazu bringen, seine Mutter zu retten, anstatt sie zu vernichten. Der Kampf gegen den verdorbenen Wental in einer Klikiss-Brüterin hatte einen ganzen Planeten auseinanderbrechen lassen, und der besessene ildiranische Septar hatte ebenso starke Verheerungen angerichtet wie eine ganze Kampf flotte.
Die Wentals mussten Karla hier überwältigen, selbst wenn es die Zerstörung von Plumas bedeutete.
Der weiße Körper von Jess' Mutter erbebte immer wieder, als die vereinten Wentals ihr mehr und mehr Wasser entrissen und reinigten. Jess stöhnte, als die elementaren Was serwesen ihr Werk fortsetzten. Er konnte sie nicht daran hindern. Karlas Gesichtsausdruck änderte sich. Ihre Züge wurden sanfter, menschlicher ... mütterlich. Ein Trick? »Jess - du weißt, was du zu tun hast.« Sie hatte aufgehört, Blitze gegen die Wände und Decke der großen Eishöhle zu schleudern, hatte auch ihre Angriffe auf ihn und Cesca eingestellt. Sie schien in sich selbst zurückzuweichen und den verdorbe- nen Wental zu blockieren.
Jess wusste, dass Absicht dahintersteckte. Er glaubte, tatsächlich etwas von seiner Mutter zu sehen. Mit den letzten Schatten ihrer Erinnerungen kämpfte sie gegen die destruktive Präsenz in ihr an. Karla begriff, dass ein schreckliches Chaos von ihr ausging - und sie wollte damit Schluss ma- chen. Ja, das war seine Mutter. Jess glaubte fest daran.
Aber die Wentals behaupteten, dass es unmöglich war. Jess wusste, was er sah, erkannte das kurze Aufleuchten von Menschlichkeit in Karlas Augen.
Wie konnten sich die Wentals irren? Und wenn sie sich bei dieser Sache irrten, wie viele andere Fehler hatten sie dann gemacht? Der plötzliche Zweifel in seinem Herzen schien so schädigend zu sein wie ein verdorbener Wental.
Und deshalb vertrieb er ihn. Jess hatte seine Entscheidung bereits getroffen. Er hatte sich mit den elementaren Wasserwesen verbündet und den Verlust der eigenen Menschlichkeit akzeptiert, um zusammen mit ihnen zu kämpfen. Er sah, welchen Schaden diese destruktive Lebensform anrichtete, und er wusste, was verdorbene Wentals in der Vergangenheit angestellt hatten. Er wusste, dass Karla aufgehalten werden musste. Hier und jetzt.
Ohne den Blick von seiner Mutter abzuwenden, hörte Jess damit auf, den Bemühungen des Wentals in seinem Innern Widerstand zu leisten. Er warf seine ganze Kraft in den Kampf und bediente sich auch der Energie, die er von Cesca bekommen konnte. Er fühlte die Stärke von Cescas menschlichem Herz und die überirdische Kraft in ihr.
Der nächste Schlag, der Karla traf, war mächtiger als alle anderen zuvor, und sie empfing ihn mit einem erleichterten Lächeln. Ihre Haut veränderte sich, wurde ledrig und löste sich teilweise auf. Das Gesicht mumifizierte. Der übernatürliche Sturm wurde noch heftiger, bis Karlas Körper Risse bekam und aussah wie eine zerbröckelnde Statue. Jess beobachtete, wie sich seine Mutter auflöste, wie sie zu einer Staubwolke wurde, vom Wind der Wentals erfasst und herumgewirbelt.
Schließlich hörte der Wental-Sturm auf, und es blieb nichts von Karla Tamblyn übrig, weder der verdorbene Wental noch die Frau, die sie einst gewesen war.
Im Hintergrund hörte Jess das Zischen von entweichendem Dampf, das Knacken von Eis und das Rauschen von Wasser, aber all diese Geräusche waren nichts im Vergleich mit dem Orkan, der den verdorbenen Wental besiegt hatte. Ohne seinen Einfluss krochen die übrig gebliebenen Nema- toden zum eisengrauen Meer zurück und verschwanden in den kalten Tiefen.
Schließlich wagten sich überlebende Roamer aus ihren Verstecken. Verwundete stöhnten und baten um Hilfe. Jess' drei Onkel näherten sich.
»Ich verstehe nicht, was ich gerade gesehen habe«, sagte Caleb. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich Bescheid wissen möchte.«
Jess konnte nicht sprechen. Er hätte seine Mutter in ihrem eisigen Grab ruhen lassen sollen. Letztendlich trug er die Verantwortung für diese Katastrophe - weil er Karla Tamblyn aus dem Eis geholt hatte und nicht in der Lage gewesen war, die Wental-Energie in seinem Innern zu kon- trollieren.
»Es ist vorbei«, teilte Cesca den Roamern mit, als erinnerte sie sich an ihre Rolle als Sprecherin. Diese Roamer hat ten Cesca seit der Zerstörung von Rendezvous nicht mehr gesehen und wussten nicht, was mit ihr geschehen war. »Sie sind jetzt in Sicherheit und können damit beginnen, wieder Ordnung zu schaffen.«
Der alte Caleb ließ seinen Blick über das Chaos schweifen und blinzelte.
»Ordnung? Seit die Droger angreifen und die Große Gans mit der Jagd auf uns begonnen hat, ist nichts mehr in Ordnung.«