62 NIRA

Nira empfand es als beunruhigend, auf ihr eigenes Grab zu blicken. Udru'h hatte ihren »Tod« verkündet, und alle hatten ihm geglaubt. Kein Ildiraner würde das Wort eines Designierten in Zweifel ziehen, und die Menschen hatten keinen Grund gehabt, eine Lüge für möglich zu halten.

Die traditionelle Gedenktafel bestand aus einem geometrisch geschnittenen Stein mit einem kleinen Sonnenenergiewandler, der ein Hologramm ihres Gesichts erzeugte. Das Bild stammte aus den Zuchtaufzeichnungen, und Nira betrachtete es. Vom ersten Augenblick auf Dobro an hatte sie alt und ausgezehrt ausgesehen.

Die neben ihr stehende Osira'h schwieg, als Nira in die Hocke ging und das trockene Gras an den Beinen spürte. Sie strich mit den Fingern über den Boden, wie auf der Suche nach ihrem eigenen verlorenen Leben im Grab.

»Ich bin meinem Vater zum ersten Mal am Hang dieses Hügels begegnet«, sagte Osira'h ernst. »Der Weise Imperator kam, um dein Grab zu sehen - ich glaube, deshalb stellte der Designierte Udru'h diesen Stein auf. Die meisten Menschen bekommen keine solche Gedenkstätte.«

Niras Kehle war trocken, als sie sich die Szene vorstellte. Welche Gedanken waren Jora'h dabei durch den Kopf gegangen? »Du hast ihn hier gesehen?« Der Gesichtsausdruck des Mädchens zeigte eine sonderbare Distanziertheit. »Zwar hast du mir alle deine Erinnerungen gegeben, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen. Ich war nicht sicher, auf welcher Seite er steht. Ich wusste, was mit dir geschehen war, was er zugelassen hatte.« Nira musterte ihre Tochter. Jora'h war hier gewesen, so nahe, aber auch er hatte Udru'hs Lüge über ihren Tod geglaubt. »Er wusste nichts davon! Er kann nichts davon gewusst haben. Gerade du solltest wissen, wie sehr mich dein Vater geliebt hat.«

Osira'h erwiderte ihren Blick. »Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast. Aber wie uns der Designierte Udru'h gezeigt hat: Die Ildiraner sind Meister der Täuschung.«

Nira sah zur Seite. »Jora'h hat mich geliebt. Und ich bin sicher, dass er mich noch immer liebt. Ich werde es wissen, sobald ich ihn sehe.« Wenn der Designierte Udru'h keinen »Unfall« arrangierte, bevor sie zu Jora'h zurückkehren konnte. Was hatte Udru'h zu gewinnen, wenn er sie jetzt freiließ? Sie musste sehr vorsichtig sein.

Erneut musterte sie Osira'h und fühlte sich schuldig, weil sie all die schrecklichen Erinnerungen auf ein so junges und leicht zu beeindruckendes Bewusstsein übertragen hatte.

»Warum siehst du mich so an, Mutter?«

Nira rang sich ein bittersüßes Lächeln ab. »Ich sehe ein kleines Mädchen, aber wenn du sprichst, erstaunen mich deine Worte. Für ein Kind bist du verblüffend klug.«

»Ich bin nie nur ein Kind gewesen. Das war mir nicht ver gönnt.« Nira fühlte immense Trauer, obgleich Osira'h freundlich lächelte.

»Aber ich hatte eine Kindheit, Mutter. Deine. Ich erinnere mich an das Leben mit deinen Eltern und Geschwistern in einer kleinen Behausung. Du warst das einzige Mitglied deiner Familie, das sich für Geschichten interessierte. Ich erinnere mich daran, wie wir zum ersten Mal ins hohe Blätterdach emporgeklettert sind, unmittelbar nachdem du zur Akolythin geworden warst. Oh, der Ausblick! Die Blattwedel waren wie ein Ozean, der sich so weit erstreckte wie der Blick reichte! Eine große smaragdgrüne Kondorfliege summte vorbei.«

Nira erinnerte sich ebenfalls. »Ich erschrak so sehr, dass ich fast vom Ast gefallen wäre ...«

»Aber ein grüner Priester war in der Nähe und hielt uns fest. Beneto, nicht wahr?«

»Und wir sahen stundenlang über den Weltwald hinweg, ließen uns vom Wind streicheln und hörten, wie die Akolythen den Bäumen Geschichten vorlasen.« Nira sah in die Augen ihrer Tochter und stellte fest, dass sie sich tatsächlich an alle Details erinnerte. Ich habe ihr also auch angenehme Erinnerungen gegeben...

»Ich kann mir nicht vorstellen, ohne das Geschenk zu leben, das du mir gegeben hast.« Osira'h drehte sich um und lächelte erfreut, als sich einige kleine Gestalten näherten. »Da kommen meine Brüder und Schwestern. Sie wollen dich kennenlernen.«

Nira wandte sich von ihrem Grab ab und beobachtete die Mischlingskinder. Jedes von ihnen war das Ergebnis von Vergewaltigung und Leid, Teil eines genetischen Entwicklungsplans. Sie glaubte zu spüren, wie sich eine kalte Hand um ihr Herz schloss.

Osira'h blieb ruhig, obwohl sie die Furcht und das Widerstreben ihrer Mutter fühlte. »Ich weiß genau, was du von ihren Vätern hältst. Ich teile deine Erinnerungen daran, wie sie gezeugt, geboren und dir dann weggenommen wurden.« Sie drückte Niras grüne Hand. »Für dich war ihre Abstammung ein Fluch. Du hast sehr gelitten, aber das ist jetzt alles Vergangenheit. Diese Kinder trifft keine Schuld. Sie sind nicht deine Feinde, sondern einfach nur Kinder, Mutter. Wie ich. Komm, ich stelle sie dir vor.« Sie nahm Niras Hand, und gemeinsam traten sie den vier Kindern entgegen. Mit weichen Knien blickte Nira in die jungen Gesichter und zwang sich, sie wirklich zu sehen.

»Dies ist Rod'h, der älteste deiner Söhne.« Der Junge lächelte, und in seinen Augen zeigte sich ein sternförmiger Glanz. In seinem scharf geschnittenen Gesicht bemerkte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Jora'h. Es musste Udru'hs Sohn sein.

Niras Herz klopfte schneller, und sie nahm ihre ganze innere Kraft zusammen. Zögernd streckte sie die Hand aus. »Auf diese Weise begrüßen sich Menschen.« Rod'h ergriff ihre Hand und drückte erstaunlich fest zu.

»Du bist meine Mutter? Ich hätte nie gedacht, einmal meiner Mutter zu begegnen.«

Nira versuchte ihren Argwohn zu überwinden. Dieser Junge war ihr Sohn, trotz seines väterlichen Erbes. Wie sehr sie Udru'h auch hasste: Rod'h war auch ihr Kind.

»Und dies ist Gale'nh.«

Nira sah den kleineren Jungen an und erkannte seine starken, stolzen Züge. »Ich ... erinnere mich an Adar Kori'nh.«

Der Knabe wirkte sehr zufrieden. »Mein Vater war ein Held. Und du auch, Mutter. Man lehrte uns, das Reich zu retten.«

Nira schluckte. »Das glauben einige Ildiraner.«

Die beiden anderen Töchter, die jüngsten von fünf Kindern, hießen Tamo'l und Muree'n. Obwohl sie die Jüngste war, überragte Muree'n schon zwei ihrer älteren Geschwister und offenbarte dadurch ihre Abstammung vom Wächter-Geschlecht. Die Kinder drängten nach vorn und wollten ihrer Mutter möglichst nahe sein. Nira spürte ihre Neugier, ihre Unschuld, und daraufhin begriff sie, dass sie diese Jungen und Mädchen nicht hassen konnte. Sie durfte ihnen die Umstände ihrer Geburt nicht zur Last legen.

»Ich habe ihnen die Wahrheit gesagt, Mutter. Wir helfen dir dabei, diesen Ort zu verändern.«

»Es freut mich, euch alle kennenzulernen. Und ich danke dir, Osira'h.« Tränen glänzten in Niras Augen, und sie berührte ihre Tochter an der Wange. »Dafür, dass du mir gezeigt hast, was richtig ist, obwohl ich mich davor gefürchtet habe.«