19 RLINDA KETT

Unter der Eisdecke von Plumas nahmen Rlinda und BeBob an der Bestattung von Andrew Tamblyn teil. Zusammen mit ihren Freunden bereiteten die drei überlebenden Brüder ernst und verwirrt die Zeremonie vor. Die wieder belebte Frau aus dem Eis war zwar im Wasser verschwunden, aber Rlinda glaubte nicht eine Sekunde lang, dass damit die Normalität zurückkehrte.

Vielleicht spielte Karla Tamblyn bereits mit den Geschöpfen, die sie tief unten am Grund des Meeres gefunden hatte. Rlinda wusste inzwischen, dass exotische Geschöpfe in dem Wasser lebten, zum Beispiel singende Nematoden und glühende Quallen. Während der letzten drei Tage hatte ein Schatten über der Anlage der Roamer gelegen. Die Arbeiter schienen den Atem anzuhalten und darauf zu warten, dass irgendetwas geschah. Rlinda verfluchte die nervöse Wachsamkeit der Roamer, denn dadurch bekamen BeBob und sie keine Gelegenheit zur Flucht. Und zu versuchen, während eines Bestattungsrituals zu entkommen ... So was war schlechter Stil. Andererseits: Rlinda hatte es satt, die ganze Zeit über nur Däum chen zu drehen, und außerdem war es hier unten immerzu kalt. Kein Wunder, denn immerhin befand sich dieser Ort unter einem Himmel, der aus kilometerdickem Eis bestand, und am Rand eines eiskalten Meers. An Bord der Unersättlichen Neugier hatte Rlinda reichlich Decken und Heizgeräte, doch ihr geliebtes Schiff stand auf der Oberfläche dieser kleinen Welt, unerreichbar für sie ...

Caleb, Wynn und Tor in Tamblyn hatten Andrews Leiche in einen schwimmenden Sarg aus gepresster Zellulose gelegt und ihn mit getrocknetem Eistang umgeben. Caleb beugte sich über das Sargboot und goss eine dickflüssige, durchsichtige Flüssigkeit auf den Leichnam und das ihn umgebende brennbare Material. Rlinda nahm den stechenden chemischen Geruch von Brenngel wahr.

Wynn und Torin standen nebeneinander und konnten ihre Tränen kaum zurückhalten. Sie stießen sich an, forderten sich gegenseitig auf, als Erster zu sprechen. Schließlich sagte Caleb mit kratzender Stimme: »Dies ist die zweite Roamer-Bestattung für einen meiner Brüder. Andrew, und vor ihm Bram.«

»Und davor kamen wir alle hierher und trauerten um Ross«, fügte Wynn hinzu.

»Verdammte Hydroger«, brummte Torin.

In dem Punkt sind wir uns alle einig, dachte Rlinda. Die Roamer hatten guten Grund, sauer auf die Hanse zu sein -das verstand Rlinda durchaus -, aber es gab keinen Anlass für sie, es an ihr und BeBob auszulassen.

Jeder der drei Brüder sprach einige gedenkende Worte, bevor sie Zünder ins Boot warfen und den schwimmenden Sarg aufs Meer hinausstießen. Konvektionsströme trieben es von den Schollen fort. Die Zünder setzten das Gel in Brand, und Eistang und Zellulose gingen zusammen mit Andrews Leiche in Flammen auf. Ihr Schein spiegelte sich oben am Himmels aus Eis wider.

Rlinda und BeBob standen in der Kälte und hielten sich an der Hand. Der Atem kondensierte vor ihren Gesichtern. BeBob weinte sogar. Vielleicht wäre die Angelegenheit Rlinda mehr zu Herzen gegangen, wenn man sie nicht gegen ihren Willen auf Plumas festgehalten hätte. Sie fühlten sich beide wie Außenseiter, die einen sehr privaten Moment erlebten.

Als sich das Boot weiter von den Schollen entfernte, züngelten die Flammen höher, und die Zellulose brach auseinander. Caleb wandte sich ab und wirkte mehr verärgert als traurig. Torin schluchzte leise. Rlinda hätte ihn gern umarmt und getröstet, beherrschte sich aber. Mitgefühl war eine Sache, Realität eine ganz andere.

Die Roamer hielten den Blick gesenkt und warteten darauf, dass die Flammen ihr Werk vollendeten. Ernste, betroffene Stille herrschte. Doch das Meer schien die neue Gabe nicht zu wollen. Das Wasser beim auseinandergefallenen Boot begann wie in einem Kessel zu blubbern und zu schäumen. Dampf stieg auf und bildete eine Säule, wie bei einem Tornado. Das Brodeln wurde immer heftiger, und die Reste des schwimmenden Sargs verschwanden darin.

In der Mitte des Durcheinanders schob sich etwas Weißes und Spitzes, wie der Stoßzahn eines Elefanten, aus dem Meer. Ein Sockel aus Eis entstand und ragte empor. Wasser floss daran entlang und erstarrte wie Kerzenwachs.

Karla Tamblyn stand auf dem Sockel, mit glitzerndem Raureif auf der milchweißen Haut. Sie wirkte noch lebendiger als zuvor, sah aus wie eine zornige Göttin, die aus dem kalten Ozean gekommen war. Im Meer um sie herum erschienen hunderte sich hin und her windender Wesen: fleischige, scharlachrote Röhren, die pulsierten und sich aufblähten wie Blutsauger. Karla hob die Hände. Ihr dunkles Haar bewegte sich, und statische Elektrizität knisterte darin. Kaltes Feuer schien aus ihrem Mund zu kommen, als sie ihn öffnete und mit hohl klingender Stimme sagte: »Das Wasser fließt, wohin es will.« Karla krümmte die Finger und ballte die Hände zu Fäusten. Energie glühte unter ihrer Haut, doch die Augen blieben sonderbar leer. »Flüssigkeit hat keine Form.«

Dutzende von Tiefsee-Nematoden näherten sich der Frau wie Fußsoldaten.

Ihre runden Mäuler steckten voller diamantharter Zähne, mit denen sie sich durch Eis beißen konnten. Oder durch einen Menschen.

»Kann mich nicht ausbreiten. Sitze fest... bin hier drin gefangen.« Karla sah zur Eisdecke hoch, an der künstliche Sonnen schienen. »Wasser fließt, wohin es will!«, donnerte ihre Stimme.

Eine jähe Druckwelle ging von ihr aus. Unsichtbare Blitze zuckten durch die Luft und bohrten sich in die Eisdecke. Es knackte laut, und ein Regen aus Schmelzwasser begann. »Chaos und Zufälligkeit sind der natürliche Zustand. Ordnung ist anstößig.«

Die Kraft von Karlas Stimme genügte, um die Tamblyn-Brüder und alle anderen wanken zu lassen. Große Eisbrocken lösten sich aus der Decke und fielen ins Meer. Hohe Wellen umgaben Karla, als wäre sie die Verkörperung eines Taifuns. »Wasser fließt, wohin es will.«

Der Sockel aus Eis setzte sich in Bewegung und glitt den Schollen entgegen, auf denen die erschrockenen Menschen standen. Karla kam näher und brachte Zerstörung mit sich.