18 JESS TAMBLYN
Wie ein Geschoss aus Wasser und Perlmutt raste Jess Tamblyns Schiff durch Gewitterwolken mit Wental-Essenz. Das Meer wogte und hatte die Farbe von geschmolzenem Blei. Im sterilen Ozean dieser primordialen Welt hatte seine lange Mission begonnen, die elementaren Wasserwesen ins Leben zurückzubringen. Seine Helfer hatten den Planeten Charybdis genannt, nach dem gefährlichen Strudel, dem Odysseus begegnet war.
Hier erwartete Jess von den Wentals, ihre Schuld zurückzuzahlen. Besorgt wiederholte er die Frage, die er im Lauf der vergangenen Tage tausendmal an Nikko gerichtet hatte. »Wie geht es Cesca?«
»Sie ist kalt und feucht. Ihre Haut sieht seltsam aus, und darunter haben sich dunkle Blutflecken gebildet. Mal ist sie bei Bewusstsein, mal nicht. Ich fürchte, es geht mit ihr zu Ende, Jess.«
»Die Wentals können ihr noch immer helfen.« Er versuchte, nicht zornig zu klingen.
Unten zeigte sich eine der wenigen Inseln dieses Planeten: Schwarze Felsen glänzten in der Gischt. Jess' Schiff verharrte über ihnen und schleuste die Aquarius aus, wie ein Insekt, das ein Ei auf die Oberfläche eines Blatts legte. Das kleine Roamer-Schiff ruhte nun auf dem kleinen Stück Land, lebendes Wasser an der wiederhergestellten Außenhülle. Im Innern des größeren Wental-Schiffes hatten kleine aquatische Geschöpfe Reparaturen vorgenommen. Mit Korallenmaterial und Metallen hatten die von den Wentals geleiteten Wesen schorfartige Wucherungen geschaffen, um die Löcher in der Hülle zu schließen und den Rumpf zu verstärken. Die Aquarius war jetzt eine Mischung aus Roamer-Technik und Wental-Phantasie. Das viel größere Wental-Schiff ging in der Nähe nieder.
Nikko sprang aus der Luke; Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Jess trug seine Kleidung aus weißen Fasern, als er durch die Hüllenmembran seines Schiffes trat. In der ozonreichen Luft fühlte er seine Kraft erneuert und spürte die große Macht, die sich gegen die Hydroger wenden würde. Einen Teil davon wollte er nutzen, um Cesca zu retten.
Jess wandte sich dem sturmgepeitschten Meer zu und fühlte die Wental-Essenz in der Luft. Die Wasserentitäten sprachen mit summender Stimme zu ihm. Du wünschst es dir so sehr, dass die Gefahr besteht, einen verdorbenen Wental zu schaffen. Du verstehst die Konsequenzen nicht. Sie betreffen nicht dich, auch nicht uns.
»Und wenn ich bereit bin, das Risiko einzugehen? Ihretwillen?« Jess dachte über die Worte der elementaren Wasserwesen nach. »Wie kann ein Wental verdorben sein? Ich habe einen einzelnen Wental aus dem Nebel destilliert und dir geholfen zu wachsen. Ich dachte, ihr seid alle das gleiche Wesen, eine große, an verschiedenen Orten präsente Entität.«
Wir sind eine einzelne Entität mit vielen Teilen. Und wie bei einem riesigen Körper können einige Teile infiziert sein. Erfahre dies.
Wortlose Erinnerungen und Konzepte strömten ihm entgegen, eine Flut aus Bildern. Mit Kopf und Herz verstand Jess Macht und Gefahr eines verdorbenen Wentals.
Die memorialen Bilder waren Jahrtausende alt und stammten aus der Zeit vor der Fast-Auslöschung der Wentals. Jess sah einen ildiranischen Kommandanten - er kannte den Rang nicht, vielleicht ein Septar? -, der auf einem fremden Planeten durch Zufall mit Wental-Gischt in Kontakt geriet.
Der Wental war beim Kampf gegen einen lodernden Faeros-Feuerball schwer verletzt worden. Der alte Krieg zwischen den Elementarentitäten hatte zahlreiche ildiranische Städte zerstört und Kontinente verwüstet. Ganze Planeten und Sonnen waren vernichtet worden. Der Septar wusste, dass sein Weiser Imperator nicht imstande war, die Ildiraner zu schützen - die Auslöschung des ildiranischen Volkes drohte. Der verzweifelte Septar stand in den qualmenden Ruinen einer einst prächtigen Stadt, als das Wasser des besiegten Wentals auf ihn fiel. Sein Wunsch, das ildiranische Reich zu retten, und die Schwäche des verwundeten Wasserwesens ermöglichten ihnen beiden die Verschmelzung, so wie bei Jess. Aus gutem Grund.
Im ildiranischen Septar wuchs eine von den anderen Wentals getrennte Kraft. Sein Körper konnte die Energie kaum im Zaum halten, aber er war auch nicht in der Lage, sie zu verteilen und damit den Wentals zu helfen. Irgendwie gelang es dem Septar, zu seinem Kriegsschiff zurückzukehren, doch an Bord entlud sich die Energie in ihm und brachte auf einen Schlag die ganze Crew um. Miteinander verbunden flogen Wental und Ildiraner in die Schlacht. Die Energie war so enorm, dass das Schiff auseinanderbrach, aber die Stärke des verdorbenen Wentals hielt die einzelnen Wrackteile zusammen - als eine Wolke der Zerstörung setzten sie den Flug fort.
Ein verdorbener Wental existiert nur, um Ordnung zu zerstören. Er zersetzt alles Feste, verstärkt die Entropie und macht das Universum ... flüssiger. Er ist ein lebender Motor des Chaos.
Der Septar-Wental griff die Faeros an, ließ aber auch ildiranische Schiffe zerbersten, vernichtete Städte und hohle Asteroiden, unterschied nicht zwischen Freund und Feind. Schließlich zog die vereinte Kraft von sechs Faeros-Feuerbällen den verdorbenen Wental in eine Sonne, wo sich die Entität in ihre Moleküle auflöste. Die übrigen Wasserentitäten konnten nicht einmal über den Verlust trauern.
Ein verdorbener Wental ist eine in fester Form gefangene Mutation, versuchten die Stimmen zu erklären. Aufgrund seiner besonderen Natur kann sich ein verdorbener Wental nicht vermehren und seine Energie nur in verheerenden Entladungen freisetzen. Er bleibt in sich selbst gefangen, ge trennt vom Rest des WentalBewusstseins. Und deshalb hasst er uns ebenso sehr wie jeden anderen Feind.
»Wie oft geschieht so etwas? Nur eine schlechte Erfahrung ...«
Jess unterbrach sich, als er einen neuen Bilderstrom empfing - diese Erinnerungen schienen noch älter zu sein. Er sah ein Geschöpf, das wie ein großer, aufrecht gehender Käfer wirkte, mit ledriger, graugrüner Haut - die Brüterin eines Klikiss-Schwarms, der gegen alle anderen Schwärme Krieg führte. Auf dem benachbarten Kontinent breitete sich ein neuer Stamm aus, dessen Sammler bereits ganze Heere aus Drohnen und Bauern verschlungen hatten. Wenn die Brüterin die Feinde nicht vernichtete, vor dem nächsten Schwärmen aufnahm und ihre chemischen Erinnerungen der eigenen Brut hinzufügte, so würde diese Schwarmlinie ein Ende finden.
Zu jener Zeit hatten die Wentals ihren Krieg gegen die Hydroger und Faeros gerade erst begonnen. Die Klikiss waren ein sonderbares neues Volk für die Elementenwesen, und das Wental-Bewusstsein dachte daran, die insektoiden Geschöpfe für den Krieg zu rekrutieren. Die Brüterin hatte ihre Bedürfnisse übermittelt, und die Wentals wussten nichts von den Konsequenzen der Einwilligung. Von der Wental-Kraft erfüllt verschlang die Brüterin ihre zehn Domaten, ohne auf ihre Lieder zu hören, öffnete dann den Rückenschild und ließ sich neue segmentierte Gliedmaßen wachsen, ohne eine Teilung und die Bildung eines neuen Schwarms. Mit der Energie eines verdorbenen Wentals zerschmetterte sie die Brüterrivalin und verwandelte alle neuen Klikiss-Türme in Staub. Ein Sturm der Vernichtung braute sich in ihr zusammen, und sie konnte sich ihm nicht widersetzen, verheerte den ganzen Kontinent.
Die anderen Wentals kämpften gegen den Verdorbenen und konnten kaum fassen, was für eine Monstrosität sie geschaffen hatten. Die unkontrollierten Entladungen von so viel Energie bewirkten im Planeten Risse, die bis zu seinem Kern reichten. Der verdorbene Wental wurde schließlich eliminiert, aber der Kampf verurteilte die Welt zum Untergang. Die Gravitation verlagerte sich, und große Landmassen versanken in Magmafluten. Alles Lebendige starb.
Das ist ein verdorbener Wental, Jess Tamblyn. So etwas könnte hier geschehen. Jess verstand noch immer nicht. »Warum? Nur weil ich es mir so sehr wünsche? Cesca ist eine gute Person, das Oberhaupt der Clans. Wie könnte sie etwas so Entsetzliches schaffen?«
Wir kennen nur die Gefahr.
Jess traf eine Entscheidung. »Genug! Ihr lenkt mich mit esoterischer und bedeutungsloser Philosophie ab, während Cesca stirbt. Ich akzeptiere das Risiko. Bringen Sie sie hierher, Nikko. Tragen Sie Cesca, wenn es sein muss.«
»Es wird ihr noch mehr Schmerzen bereiten, Jess ...« Er hatte ihr so viel Leid beschert. »Sie stirbt.«
Als der junge Mann Cesca berührte, begann sie sich zu bewegen. Nikko legte sich ihren Arm um die Schulter und stützte sie auf dem Weg nach draußen. Sie sah Jess und das Meer, klammerte sich irgendwie am Leben fest. Nikko ließ sie langsam auf die dunklen Felsen von Charybdis sinken.
Sie muss selbst zum Wasser kommen. Du kannst ihr nicht helfen.
Jess kniete neben Cesca, und es zerriss ihm fast das Herz. Wie sollte er ohne diese Frau leben? Er stand am Rand des Riffes, zwischen den glatten Steinen und dem rauschenden Meer, verfluchte die Wentals und ihre lächerlichen Regeln. »Ihr bringt sie um!«
Es muss ganz ihre Entscheidung sein, allein ihr Handeln.
»Cesca, wenn du mich liebst, so bitte ich dich um einen letzten Gefallen. Trink dieses Wasser und lebe. Nimm die Wentals auf und werde wie ich.«
Nur einen Meter entfernt beruhigte sich der Ozean. Wentals manifestierten sich in den Wellen, und es entstanden Finger aus Wasser, die sich Cesca entgegenstreckten. »Wenn nicht, stirbst du.«
»Aber dann ... bin ich wie ... du?«
Tausend Stimmen flüsterten im Wind um sie herum.
»Dein Körper wird voller Wental-Energie sein, so wie meiner.« Jess brachte es nicht fertig, Cesca anzulügen. »Es bedeutet, dass du nie wieder andere Menschen berühren kannst, ohne ihnen zu schaden. Du wirst so isoliert sein wie ich. Es ist schrecklich, Cesca, aber ich weiß nicht, wie ich dich sonst retten soll.«
»Kann ich... dich berühren?«, brachte Cesca mühsam hervor.
Er hatte nicht beabsichtigt, sie mit dieser verlockenden Vorstellung zu beeinflussen. »Wir wären zwei von einer Art, Cesca. Getrennt vom Rest der Menschheit.«
»Aber zusammen.« Jetzt zögerte Cesca nicht mehr. Jess wich beiseite, damit sie zum Wasser kriechen konnte. »Der Leitstern... ist klar.«
Er versuchte, sie zu ermutigen. Nur noch einige Sekunden. Ein letzter Meter. Er spürte die Sorge der Wentals.
Jess schloss die Augen und stellte sich Cesca so vor, wie er sie geliebt hatte. Deutlich erinnerte er sich daran, wie sehr sie beide gewünscht hatten, endlich zusammen zu sein. Wie konnte eine solche Frau zu einer Gefahr werden? Die memorialen Bilder verdorbener Wentals erschienen ihm fremd und unwirklich. Das wird mit ihr nicht geschehen.
Cesca schöpfte eine Handvoll Wasser. Wie Quecksilber schimmernde Tropfen rannen zwischen ihren Fingern. Vorsichtig hob sie die gewölbte Hand zum Mund und trank von dem Wasser. Unmittelbar darauf schnappte sie nach Luft und erbebte.
Mit einem letzten Ruck schob sie sich nach vorn und fiel ins Wasser - es war zur einen Hälfte wie eine Taufe und zur anderen wie Ertrinken. Cesca verschwand in den Fluten.