8
Altenschlade war ein so kleiner Ort, daß er nicht einmal über Straßennamen verfügte. Die Häuser waren schlichtweg durchgezählt. Als Alexa in dem winzigen Dörfchen das Haus mit der Nummer 8 suchte, eröffnete sich ihr eine scheinbare Idylle. Drei Frauen hatten sich mit einem Besen bewaffnet, um die Straße von heruntergefallenem Laub zu befreien, waren darüber allerdings in ein Schwätzchen verfallen. Als Alexas Auto sich dem Trüppchen näherte, hielten die drei in ihrem Gespräch inne und starrten das Fahrzeug samt Inhalt unverwandt an. Man hätte den Eindruck gewinnen können, daß hier nur alle paar Wochen ein fremdes Auto vorfuhr. Ungeniert folgten die Blicke der Frauen Alexas Wagen, besonders als kurz drauf am Straßenrand anhielt.
»Einen guten Tag zusammen«, sagte Alexa fröhlich und hoffte, damit das geballte Mißtrauen einzuschmelzen, das ihr in den Gesichtern der Frauen entgegenschwappte. »Sie haben bestimmt jeden Tag gut mit dem Fegen zu tun, bei diesen vielen Bäumen hier.«
Die Frauen nickten, murmelten auch etwas, was ein wenig wie »Guten Tag« klang, und schauten Alexa ansonsten weiter an, als käme sie vom Mars.
»Suchen Sie wen?«, fragte schließlich eine von den dreien, als benötigte man eine Legitimation, um diese Straße zu befahren.
»Genau. Deshalb bin ich hier. Frau Behrend wohnt ja hier in der Nummer 8. Ich weiß, daß sie in Kur ist, und dort würde ich sie gerne besuchen. Leider habe ich den Zettel verloren mit ihrer Anschrift drauf und da wollte ich Sie als Nachbarinnen mal fragen.«
Die drei starrten Alexa jetzt an, als hätte die gerade zugegeben, daß sie in das leer stehende Haus ein wenig einbrechen wolle und zu diesem Zwecke von den Nachbarn den Schlüssel verlange.
»Woher kennen Sie denn die Frau Behrend?«, wollte schließlich diejenige der Frauen wissen, die eben schon die Frage gestellt hatte. Wahrscheinlich war sie insgeheim die Gruppensprecherin.
»Ich bin eine gute Freundin von ihrer Tochter Anne«, log Alexa ohne Zögern. »Wir kennen uns aus unserer gemeinsamen Schulzeit. Anne ist ja leider im Urlaub, sonst hätte ich mir die Adresse natürlich von ihr geholt. Um ehrlich zu sein«, Alexa wandte sich jetzt ganz vertrauensvoll an die Dorffrauen, »Anne hat mich gebeten, ein wenig nach ihrer Mutter zu sehen. So ganz viele Freunde hat sie ja nicht.« Das war aus der Hüfte geschossen, ganz klar, aber man konnte es ja mal versuchen.
»Die Frau Behrend hat mir tatsächlich ihre Telefonnummer hiergelassen«, sagte die Gruppensprecherin jetzt zögerlich, »für den Fall, daß mit dem Haus etwas ist.«
Dann rück sie endlich raus, dachte Alexa genervt Laut sagte sie: »Na wunderbar, dann kann ich Annes Mutter ja anrufen und nach dem Kurort fragen. Ich bin Ihnen ja so dankbar für Ihre Hilfe.«
Endlich sah auch die Gruppensprecherin ein, daß sie die Hilfe jetzt nicht mehr verweigern konnte. Sie stellte umständlich ihren Besen an den Jägerzaun, der den Gehsteig von ihrem Grundstück abgrenzte, und ging schwerfällig auf ihr Haus zu. Unterwegs drehte sie sich noch einmal nach Alexa um, als wolle sie sich vergewissern, daß sie auch wirklich vertrauenswürdig sei. Alexa lächelte extrafreundlich. Die anderen beiden Frauen fingen demonstrativ an zu fegen, um bloß kein weiteres Gespräch aufgedrängt zu bekommen. Nach etlichen Minuten kam die Nachbarin wieder heraus.
»Das ist die Nummer. Sehen Sie nur zu, daß sie nicht in fremde Hände gerät.«
Was dachte diese Frau eigentlich? Daß man mit dem Wissen um eine Telefonnummer aus der Ferne einen ganzen Kurort mit einem Fluch belegen könnte? Alexa riß sich zusammen.
»Um Gottes willen«, sagte sie verschwörerisch. »Ich werde die Nummer auf keinen Fall weitergeben. Ich werde nur kurz anrufen und den Zettel danach sofort vernichten.«
Die Gruppensprecherin bemerkte die Ironie nicht im geringsten.
»Nochmals meinen herzlichsten Dank«, Alexa ging schleunigst zu ihrem Auto und winkte ein letztes Mal mit der Nummer. »Und fröhliches Fegen.«
Alexa wendete mit Karacho und machte sich aus dem Staub. War das eine Prozedur gewesen! Ob die Menschen in diesem Kuhkaff so mißtrauisch waren, weil sie von Fremden in der Vergangenheit nichts als Bedrohung zu erwarten gehabt hatten? Verteidigte man sich früher gegen räuberische Eindringlinge, so mußte man sich heute doch wohl eher vor dumm schwatzenden Anlageberatern in acht nehmen. Alexa hielt an einer Bushaltestelle. Immerhin ein Kontakt zur Außenwelt, dachte sie, während sie die hart umkämpfte Telefonnummer in ihr Handy hämmerte. Am anderen Ende meldete sich ein Sanatorium in Bad Neuenahr. Alexa fragte nach Frau Behrend und bekam als Antwort eine metallische Version von »Pour Elise« ins Ohr geschremmelt. Zwischendurch leierte eine Frauenstimme: »Bitte warten! Bitte warten!« Endlich meldete sich jemand, leider nicht Frau Behrend, sondern eine Frau Sommer.
»Ich möchte gerne Frau Behrend sprechen, bin ich da richtig?«
»Frau Behrend ist meine Zimmernachbarin, einen Moment bitte.« Offensichtlich wurde das Telefon durch die Gegend gereicht, es knackte und grummelte, und Alexa dachte schon, das Gespräch sei weg, als sich endlich eine tiefe Stimme mit »Behrend« meldete.
»Hier ist Alexa Schnittler«, erklärte Alexa, »eine Freundin von Elmar Schulte-Vielhaber. Es klingt vielleicht ungewöhnlich, daß ich mich bei Ihnen melde, aber es ist für uns die einzige Möglichkeit, um mit Ihrer Tochter Anne Kontakt aufzunehmen. Es ist nämlich so, daß Elmar ziemlich in Schwierigkeiten steckt, weil sein Onkel von der Leiter gestürzt ist und er selbst deshalb-. Auf jeden Fall wäre es gut, wenn Anne sich mal bei Elmar melden würde. Haben Sie Annes Adresse?«
In der Leitung trat Stille ein. Offensichtlich mußte Frau Behrend erstmal Alexas Sermon verarbeiten.
»Ich habe Annes Adresse nicht und auch keine Nummer«, sagte Frau Behrend schließlich. Alexa rutschte das Herz in die Hose. Alle Mühe umsonst!
»Aber Anne wird sich heute Abend bei mir melden. Ich werde ihr dann ausrichten, was Sie mir gesagt haben.«
»Großartig!« Also doch nicht umsonst.
»Ich danke Ihnen sehr für Ihren Anruf!«
»Ich habe zu danken und gute Erholung!« Alexa atmete tief durch. Das hatte schon mal geklappt. Jetzt konnte es weitergehen. Als Alexa losfuhr, kam ihr ein weißer Golf entgegen. Wenn sie nicht alles täuschte, saß Christoph Steinschulte auf dem Beifahrersitz. Alexa grinste in sich hinein. Wenn jetzt noch ein waschechter Polizeibeamter nach Frau Behrends Adresse fragte, dann würden die drei Fegerinnen mit Sicherheit davon ausgehen, das gesamte menschliche Unheil sei über ihr kleines Altenschlade hereingebrochen.