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Max hatte noch keine Idee, wie er es anfangen sollte. Seit über einer Stunde saß er nun auf der Bank gegenüber dem Vierfamilienhaus an der Osnabrücker Straße und überlegte, wie es am geschicktesten sei. Nun, Max hatte keine Eile. Eben hatte er probehalber einmal an der Klingel mit dem Namen Koslowski geschellt und dabei festgestellt, daß noch niemand zu Hause war. Max stand auf, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Es war gleich vier. Wenn Josef Koslowski irgendwann von der Arbeit nach Hause käme, wäre es schon gut, wenn Max nicht weitere zwei Stunden über ein Konzept nachdenken müßte. Schon zum dritten Mal im Laufe der letzten Stunde überquerte Max die Straße und näherte sich der Eingangstür. Koslowski stand auf der dritten Klingel von oben. Max öffnete den Briefschlitz mit der Hand und spähte hinein. Nur Werbung, soweit er erkennen konnte. Allerdings lag die Post ziemlich weit unten im Kasten. Max hätte sie eh nicht herausfischen können, jedenfalls nicht mit der bloßen Hand. Als sich plötzlich die Haustür öffnete, fuhr Max ein Schrecken durch die Glieder. Er fühlte sich ertappt. Im selben Augenblick stellte sich Erleichterung ein. Ein Handwerker im Blaumann trat aus der Tür, in der Linken einen metallenen Werkzeugkasten. Er nahm Max gar nicht zur Kenntnis, sondern steuerte sofort auf seinen Lieferwagen zu, der ein paar Meter weiter geparkt stand. Schwerfällig fiel hinter ihm die Haustür zu. Beinah! Im letzten Augenblick klemmte Max seinen Arm dazwischen. Die Tür quetschte ihm seinen Unterarm ab. Max drückte die Tür wieder auf und stand im Hausflur, allerdings mit einem schmerzenden Unterarm.

Das Haus war gut gepflegt, aber einfach in der Ausstattung. Ein grau gesprenkelter Fliesenboden, ein schmuckloses weißes Geländer. Max’ Schritte hallten durch das ganze Treppenhaus, als er langsam nach oben stieg. Schon im zweiten Stock wurde er fündig. An der Etagentür zu Koslowskis Wohnung war zunächst nichts Auffälliges. Akkurates Messingschild, Fußmatte mit der Aufschrift Herzlich willkommen und zwei kitschigen Enten darauf, in der Tür dann der obligatorische Türspäher. Doch etwas Auffälliges. Unten vor der Tür lag ein Paket, ein kleines, gut verklebtes Paket, adressiert an Herrn Josef Koslowski, Osnabrücker Straße 22 in Münster. Max betrachtete den Absender. Gabriele Sender aus Detmold. Das einzige, was über sie zu sagen war: Sie hatte eine fein säuberliche, mädchenhafte Handschrift.

Max wog das Paket in der Hand. Es war etwas kleiner als ein Schuhkarton und für seine Größe ungemein leicht. Auf keinen Fall waren Bücher darin. Wahrscheinlich hatte ein Nachbar das Paket für Koslowski angenommen und ihm dann vor die Tür gelegt. Vorsichtig schüttelte Max es in seiner Hand. Es war nichts Aufschlußreiches zu hören. Kein Rasseln, kein Rappeln, kein Klirren. Ganz plötzlich hörte Max unten die Haustür. Unwillkürlich fuhr ihm ein Schreck in die Glieder. Anstatt das Paket wieder abzustellen, behielt er es in der Hand und schlich damit ein Stockwerk höher. Von unten hörte er Schritte näherkommen. Er wagte es nicht, einen Blick über das Treppengeländer zu werfen, sondern tapste weiter lautlos nach oben. Endlich verstummten die Schritte. Ein Schlüssel war zu hören, eine Tür wurde auf – und dann wieder zugezogen. Jemand mußte in Koslowskis Wohnung verschwunden sein, ganz klar. Max überlegte einen Augenblick, was zu tun war. In der Hand hielt er immer noch das Paket. Endlich hatte er eine Idee. Er befand sich jetzt im Stockwerk direkt über Koslowski. Hier wohnte jemand mit dem Namen Pennkämper. Max nahm das Paket fester unter den Arm und ging zielstrebig die Stufen hinunter zu Koslowskis Tür.

Josef Koslowski öffnete nicht direkt, nachdem Max geklingelt hatte. Erst als Max gerade zum zweiten Mal drücken wollte, hörte er hinter der Tür ein Geräusch. Endlich steckte jemand den Kopf nach draußen.

»Herr Koslowski?« Der Mann nickte. »Ich hätte da ein Paket für Sie. Es ist abgegeben worden, als ich gerade oben zu Besuch in der Wohnung war. Jetzt dachte ich, ich bringe es Ihnen eben vorbei.«

Beim Sprechen bemerkte Max, daß es ein ziemlicher Nachteil war, nicht zu wissen, ob Pennkämpers eine Familie, eine alleinstehende Frau oder ein älterer Herr war.

»Bei Renate?«, sagte Koslowski und tat Max damit einen Riesengefallen.

»Genau, bei Renate«, meinte der und nickte heftig mit dem Kopf.

»Komisch, sonst geben sie es immer unten bei Frau Reinschmidt ab.«

»Die wird dann heute wohl nicht da gewesen sein«, sagte Max verbindlich.

»Na dann, schönen Dank«, Koslowski wollte gerade die Wohnungstür zuziehen.

»Ach, ich hätte da noch eine Bitte!« Jetzt oder nie, dachte Max. »Ich bin zum ersten Mal in Münster und bräuchte dringend einen Stadtplan. Renate hat ihren wohl verlegt, jedenfalls haben wir schon die ganze Wohnung abgesucht. Könnten Sie mir da vielleicht aushelfen?«

Koslowski runzelte einen Augenblick die Stirn, dann öffnete er die Tür. »Da muß ich mal nachschauen«, meinte er. »Kommen Sie ruhig einen Augenblick herein.«

Koslowski nahm das Paket mit ins Wohnzimmer und legte es dort auf eine Kommode. Erst jetzt konnte Max den Mann ausgiebig mustern. Er hatte einen mächtigen Kopf mit dunklen Haaren, die schon ein wenig gelichtet waren. Max schätzte den Mann auf um die Fünfzig. Dafür hatte er einen sehr durchtrainierten Körper, der unter seiner Jeans und einem Rollkragenpullover regelrecht spannte. Koslowskis Wohnung war ganz im Stil eines Junggesellen eingerichtet, schlicht und einfach, mit wenig Dekoration. Allerdings war es verhältnismäßig aufgeräumt.

»Ich hab den schon ewig nicht mehr gebraucht«, erklärte Koslowski, während er in einem Bücherregal herumsuchte.

»Sie wohnen also schon lange hier in Münster?«

»Das kann man wohl sagen. Ich bin hier praktisch groß geworden, zumindest ganz hier in der Nähe, in einem kleineren Dorf. Aber seitdem ich arbeite, bin ich hier in Münster, und es gefällt mir nach wie vor gut.«

»Hier kann man bestimmt gut alt werden«, schwafelte Max. »Die Stadt ist nicht zu groß und nicht zu klein. Eigentlich genau richtig.«

»Da haben Sie recht, allerdings weiß ich nicht, ob das klappt.« Koslowski wandte sich Max zu, lächelte aber in sich hinein. »Ich kenne da jemanden. Die versucht mit allen Mitteln, mich nach Detmold zu locken. Zum Beispiel mit selbst gestrickten Socken.« Koslowski machte eine Kopfbewegung, die auf etwas hindeuten sollte. Es dauerte einen Moment, bis Max kapierte, daß er das Paket meinte. Offensichtlich mit Socken bestückt.

»Und – lassen Sie sich locken?«

Koslowski drehte sich jetzt ganz um und unterbrach seine Suche kurzfristig. »Sie hat schon die besseren Argumente«, erklärte er dann. »Sie wohnt mit ihren Kindern in Detmold. Die will sie dort natürlich nicht rausreißen.«

»Das ist klar!« stimmte Max zu.

»Eigentlich ist die Sache in trockenen Tüchern. Wenn alles klappt, hab ich ab November eine Stelle in Detmold. Ich meine nur, falls Sie jemanden kennen, der kurzfristig eine Wohnung sucht.«

»Dann werd ich an Sie denken.«

Max stromerte ein wenig im Wohnzimmer herum. Auf einem Sideboard wurde er fündig.

»Na, wenn das keine Ähnlichkeit ist«, palaverte er. »Ihre Mutter nehme ich an.« Er hielt ein Foto hoch, das Josef Koslowski mit einer alten Dame zeigte. Koslowski nahm die Frau herzlich in den Arm. Die Frau wirkte dadurch wie eingeklemmt. Trotzdem zeigte das Bild eine große Herzlichkeit. »Ja, das ist meine Mutter«, bestätigte Koslowski mit einem Seitenblick. Inzwischen stöberte er auf einem anderen Regalbrett herum. Max hoffte, daß er noch eine Weile weitersuchen mußte.

»Wohnt sie auch hier in Münster?«

Koslowski ließ sich in seiner Suche nicht beirren. »Nein, sie lebt in einem Altenheim in Lüdinghausen. Das ist nicht allzu weit von hier.«

»Und Ihr Vater? Lebt der auch noch?«

»Mein Vater? Mein Vater lebt nicht mehr.«

»Ach, hier ist ja noch ein Bild von Ihrer Mutter«, Max versuchte, das Gespräch in Gang zu halten. »Sie wird sich sicher freuen, wenn sie jetzt ein paar Enkelkinder bekommt nicht wahr?«

Koslowski hielt in seiner Arbeit inne. Max dachte einen Augenblick lang, er sei in seinen Äußerungen zu weit gegangen. Doch dann antwortete Koslowski ohne Verärgerung.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie meine Mutter das aufnimmt mit den beiden Mädchen. Wissen Sie, sie ist eine ganz katholische Person. Eine geschiedene Frau ist nicht unbedingt das, was sie sich immer als Schwiegertochter gewünscht hat.«

»Vielleicht ändert sich das, wenn sie Ihre Freundin einmal kennengelernt hat.«

»Das kann ich nur hoffen, aber bisher bin ich mit der Wahrheit noch nicht rausgerückt. Ich hab’s immer wieder vor mir hergeschoben.«

Max überlegte, wie er wieder auf den Vater zu sprechen kommen konnte, ohne daß es aufgesetzt klang.

»Haben Sie zu den Töchtern Ihrer Freundin schon ein gutes Verhältnis?«

»Das kann man wohl sagen!« Koslowski strahlte jetzt »Zwölf und vierzehn sind die beiden. Ich muß sagen, es hat von Anfang an gut geklappt mit uns Dreien – mit uns Vieren, meine ich. Ich wollte mich nie aufdrängen, aber die Kinder haben mich von Anfang an dabeihaben wollen.«

»Das ist nicht selbstverständlich«, meinte Max, als habe er solche Situationen schon hundertmal am eigenen Leib erfahren. »Das kann auch ganz anders laufen.«

»Der Ex-Mann meiner Lebensgefährtin kümmert sich um nichts«, erzählte Koslowski jetzt ganz hemmungslos. »Der wohnt in Frankfurt und läßt kaum von sich hören.«

»Kaum vorstellbar.«

»Das finde ich auch. Die Mädchen sind so nett.«

»Nun, Vater ist nicht gleich Vater«, seufzte Max pathetisch. »Haben Sie gute Erfahrungen mit Ihrem Vater gemacht?« Max wußte, daß die Frage sehr direkt war, der Übergang zudem ziemlich brüchig. Trotzdem, Koslowski schluckte den Fisch.

»Fragen Sie mich nicht danach!« Koslowski kam langsam auf Max zu und nahm vorsichtig das Bild seiner Mutter in die Hand. »In meinem Leben gibt es gleich zwei davon. Einen, den ich nie gekannt habe, weil er meine Mutter gleich nach der Geburt verlassen hat, und einen guten, der immer für mich da war.« Koslowski sah Max mit einem ernsten Blick an. »Das war mein eigentlicher Vater, der Mann, der meine Mutter geheiratet hat, als sie schon in Umständen war. Er hängt hier vorne an der Wand, mein Vater.«

Max folgte Koslowski zu einem Portrait eines ernst dreinschauenden Mannes mit einer ausgeprägten Hakennase.

»Ein schönes Bild«, sagte Max. »Und Ihren eigentlich Vater, wollten Sie den niemals wiedersehen?«

»Warum?«, fragte Koslowski und stellte das Bild seiner Mutter wieder hin. »Er ist es nicht wert, finde ich. Das ist der richtige«, Koslowski zeigte noch einmal auf das Bild an der Wand. »Das ist mein richtiger Vater.«

Max fragte sich, ob Koslowski sich niemals gewundert hatte, warum seine so katholische Mutter vor der Ehe schwanger geworden war. Wahrscheinlich hatte er nicht sehen wollen, was beinahe unübersehbar war.

Max nickte nachdenklich. »Sie haben recht, Herr Koslowski. Sie haben absolut recht. Und in einem bin ich mir sicher. Sie selbst werden auch ein guter Vater, ganz bestimmt«

Hätte Max Franz Schulte-Vielhaber einmal kennengelernt, dann hätte er wohl in diesem Moment dessen Lächeln wiedererkannt.