10
Als Alexa ihren dritten Besuch antrat, war sie bereits ziemlich erschöpft. Das Gespräch mit Gertrud Wiegand ging ihr nach. Der Auftritt bei Gustav Reineke war zwar sehr viel weniger spektakulär gewesen, hatte Alexa aber anfangs mehr Überwindung gekostet, weil sie den Mann nicht kannte. Er wohnte ebenfalls am Rande des Dorfes, allerdings am anderen Ende, dort wo es nach Hesperde, der nächsten Kleinstadt, ging. Gegenüber der Neubausiedlung, von der aus man einen phantastischen Blick über die Wiesen und Felder oberhalb des Tales hatte, standen einige ältere Häuser, von denen Gustav Reineke vor kurzer Zeit eines gekauft hatte. Soweit Alexa sich erinnern konnte, hatte hier vorher ebenfalls ein alter Mann allein gewohnt. Vermutlich war er gestorben, und die Erben hatten kein Interesse an dem Haus gehabt. Als Alexa sich dem Haus näherte, sah sie, daß es sehr nett hergerichtet war. Es hatte einen neuen Anstrich erhalten, außerdem hatte sich im Eingangsbereich etwas verändert. Ein kleines hölzernes Vordach war angebracht worden, das dem Haus Pfiff verlieh. Als Alexa auf einem gepflasterten Weg zur Haustür ging, hatte sie bereits das Gefühl, daß niemand zu Hause war. Augenblicklich stellte sich Erleichterung ein. Die ganze Zeit über hatte sie an Formulierungen gebastelt, die erklärten, warum sie sich erlaubte, bei diesem Fremden Untersuchungen anzustellen. Bislang war ihr nichts wirklich Passendes in den Sinn gekommen. Alexa klingelte daher nur noch aus reinem Pflichtgefühl. Sie war sich sicher, daß niemand öffnen würde. Sie wartete nur einen kurzen Moment, dann machte sie sich auf den Rückweg. Etwa auf der Hälfte des Weges wich die Erleichterung. Ein Mann, den Alexa auf Mitte sechzig schätzte, war mit einem Fahrrad herangefahren und hielt direkt vor der Einfahrt zur Garage. Er hatte graues, welliges Haar, das wohl einmal schwarz gewesen war. Auffällig waren seine buschigen Augenbrauen, unter denen sich fröhliche braune Augen verbargen. Der Mann lächelte freundlich, als Alexa auf ihn zuging.
»Wollten Sie zu mir?«
»Wenn Sie Herr Reineke sind?«
»Der bin ich. Was kann ich für Sie tun?« Wieder lächelte der Herr sein aufgeschlossenes Lächeln. Er war Alexa sofort sympathisch.
»Mein Name ist Alexa Schnittler. Ich bin mit Elmar Schulte-Vielhaber befreundet, dessen Onkel vor ein paar Tagen ums Leben gekommen ist. Es wird Ihnen vielleicht seltsam erscheinen, aber ich versuche aus rein privaten Motiven, etwas Licht in die Geschehnisse des Todestages zu bringen, und dabei bin ich auf Ihren Namen gestoßen.«
»Ich verstehe.« Wenn Gustav Reineke Alexas Anliegen verwunderlich fand, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bringe ich nur gerade das Fahrrad in den Schuppen.« Reineke machte sich sogleich ans Werk. Der Schuppen war die alte Garage, die sich linker Hand an das Wohnhaus anschloß. Nachdem er sein Fahrrad durch eine Tür im Garagentor hineingeschoben hatte, kam er zu Alexa zurück.
»Kommen Sie doch mit herein!«, forderte er Alexa auf, während er den Haustürschlüssel aus der Jacke kramte. »Aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß ich Ihnen nicht allzu viel helfen kann, fürchte ich.«
Eigentlich hatte Alexa genau das erwartet, trotzdem folgte sie dem Hausbesitzer dankbar hinein. Das Innere war um einiges moderner eingerichtet als Gertrud Wiegands Haus. Außerdem wirkte alles frisch renoviert Gustav Reineke hatte sich viel Mühe mit seinem neuen Zuhause gegeben.
»Wohnte früher nicht Herr Droste hier?«, fragte Alexa, als sie dem Gastgeber ins Eßzimmer folgte. »Ist er gestorben?«
»Herr Droste wohnt jetzt im Altenheim in Hesperde«, erklärte Reineke, während er sich die Jacke auszog. »Er hat das Haus verkauft, um sich die Unterbringung dort leisten zu können.«
»Hatte er keine Kinder, die das Haus wollten?« Alexa fragte sich im selben Moment, ob ihre Frage Herrn Reineke treffen konnte. Es hörte sich fast so an, als würde sie ihm das Haus nicht gönnen. Ihr Gegenüber reagierte keineswegs peinlich berührt.
»Im Gegenteil!«, antwortete er. »Der einzige Sohn war froh, als die Immobilie endlich verkauft war. Ansonsten hätte er selbst nämlich die Heimkosten tragen müssen.«
Alexa trat ans Fenster und genoß den Blick auf den schönen Garten. Auch hier hatte Gustav Reineke Wunder gewirkt. »Ich besuche Herrn Droste gelegentlich«, sagte Reineke zu Alexas Verwunderung. »Er fühlt sich nicht sehr wohl im Heim. Kein Wunder, wenn man vorher einen so schönen Garten hatte.«
»Ich nehme an, Sie haben ihn erst zu dem gemacht, was er jetzt ist« Alexa lächelte. Herr Reineke zog sich einen Stuhl heran, bevor er antwortete. »Ein schöner Garten entwickelt sich von selbst, finden Sie nicht? Dieser Garten lebt von seinen alten Bäumen und Sträuchern, von seinen Wegen und Gräsern. Ich pflege ihn zwar, aber seine Schönheit kommt von selbst.«
»Sind Sie eigentlich zum Philosophieren hier aufs Land gezogen?«
Gustav Reineke lachte. Alexa fand, daß er einen ungemeinen Charme hatte.
»Gar nicht so falsch«, schmunzelte er. »Ich habe in der Tat für meinen Altersruhesitz etwas Ruhiges gesucht.«
»Darf ich fragen, wo Sie ursprünglich herkommen?« Alexa wandte sich um und nahm auf einem der Eßtischstühle Platz.
»Fragen dürfen Sie schon«, sagte Herr Reineke. »Aber es ist nicht so leicht zu beantworten. Ich habe fast mein ganzes Leben im Ruhrgebiet gewohnt, in Bochum genauer gesagt. Dort war ich Ingenieur beim Straßenbauamt. Geboren bin ich jedoch in Schlesien.«
»Und nun sind Sie im Sauerland gelandet!«, stellte Alexa trocken fest.
»Genau!«, antwortete Gustav Reineke augenzwinkernd. »Sie kommen doch selbst von hier. Folglich können Sie mich zu meinem Schicksal beglückwünschen.« Nun lachte Alexa.
»Zufällig ist mein Freund Vincent Rheinländer. Der tut sich manchmal ganz schön schwer mit dieser Gegend. Er hält uns wohl nicht gerade für aufgeschlossen.«
»Nun, ein sauerländisches Dorf hat natürlich ganz feste, eingefahrene Strukturen. Als Fremder kommt man nicht so ganz leicht dazwischen«, gab Reineke zu. »Aber für meine Bedürfnisse reicht‘ s. Ich habe das Gefühl, die Leute akzeptieren mich.«
»Doch was hat Sie bewogen, sich gerade hier ein Haus zu suchen? Haben Sie mit einem Dartpfeil auf die Landkarte gezielt?«
Reineke lachte wieder, laut und herzlich. »Ganz so war es nicht. Ich kenne die Gegend noch von früher. Aus Zeiten, als Sie noch gar nicht geboren waren. Von daher weiß ich die Landschaft zu schätzen. Ich liebe die Natur. Und die Menschen sind doch überall gleich. Es gibt gute und schlechte, meinen Sie nicht?«
»Natürlich haben Sie recht!« Alexa grinste. »Ich versuche täglich meinen Freund davon zu überzeugen, daß die guten sich vorwiegend im Sauerland aufhalten.« Plötzlich wurde Alexa ernst. »Eigentlich bin ich ja wegen etwas ganz anderem gekommen – wegen Franz Schulte-Vielhaber.«
»Ich habe es nicht vergessen.«
»Elmar Schulte-Vielhaber hat mir erzählt, Sie seien ebenfalls auf dem Hof gewesen, kurze Zeit, bevor das Unglück geschah.«
»Ja, danach hat mich die Kriminalpolizei auch schon gefragt. Leider muß ich Ihnen dasselbe berichten wie der Polizei: Mir ist nichts Verdächtiges aufgefallen.«
»Sie haben, wie auch Frau Wiegand, Eier geholt, nehme ich an?«
»Genau! Das ist der einzige Grund, warum ich gelegentlich dort auf den Hof fahre. Ich kaufe dort meine Eier.«
»Wissen Sie, wann genau das war?«
»Da ich mit dem Fahrrad unterwegs war, kann ich es nicht genau sagen. Es wird so gegen drei Uhr gewesen sein.«
»Und als Sie kamen und gingen, haben Sie niemanden gesehen?«
»Natürlich habe ich Frau Schulte-Vielhaber gesehen, die Bäuerin. Sie hat mir schließlich die Eier verkauft. Na ja, und dann war da auch noch der Bauer selbst, der später verunglückt ist. Er stand auf einer Leiter und handwerkte am Dach herum. Den jungen Mann habe ich nicht gesehen – leider nicht, ich finde ihn sehr sympathisch.«
»Ja, das ist er.«
»Ach ja, als ich ins Haus ging, um mir die Eier zu holen, habe ich noch ein Auto wegfahren sehen, einen Ford mit einem jungen Mann darin. Aber das habe ich der Polizei auch schon erzählt.« Alexa vermutete, daß es sich um Elmars Freund Hannes handelte, der nach Elmars Angaben einen Akkubohrer zurückgebracht hatte. Da mußte sie auch noch hin.
Alexa wandte sich wieder an Herrn Reineke. »Das ist alles?«
»Das ist alles.« Gustav Reineke schaute bedauernd. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann.«
»Vielen Dank für Ihre Mühen.« Alexa stand auf und warf noch einen Blick aus dem Fenster. Als sie draußen vor ihrem Auto stand, hatte sie das Gefühl, nicht viel Neues erfahren, aber einen netten Menschen kennengelernt zu haben. Jetzt auf dem Weg zur Nummer drei ihrer Zeugenliste war sie sehr unsicher, was ihre Befragungen bringen sollten. Offensichtlich hatte die Polizei, genauer Christoph Steinschulte, die Leute ausführlich befragt. Was erhoffte sie eigentlich, zusätzlich zu erfahren? Natürlich, der Besuch bei Gertrud Wiegand hatte ihr das Gefühl vermittelt, Franz Schulte-Vielhabers Tod könnte doch kein tragischer Unfall, sondern ein brutaler Mord gewesen sein. Aber die daraus resultierende Ermittlungsarbeit konnten andere bestimmt viel besser bewerkstelligen als sie selbst, oder?
Es war nicht zuletzt Vincent zu verdanken, daß sie jetzt trotzdem aus dem Auto stieg. Schließlich hatte sie ihm versprochen, die Sache durchzuziehen. Wie sollte sie ihm erklären, sie hätte plötzlich keine Lust mehr gehabt, ohne völlig jämmerlich dazustehen?
Alexas Entschlossenheit wurde gebremst, als sich niemand auf ihr Klingeln meldete. Sie schaute auf die Uhr. Gerade vier. Es wäre ein Wunder gewesen, einen arbeitenden Menschen wochentags um diese Uhrzeit anzutreffen. Alexa warf einen Blick auf die andere Klingel. Hannes wohnte noch bei seinen Eltern, hatte aber eine eigene Klingel. Vielleicht hielt er sich gerade bei den Eltern auf. Alexa klingelte, nun bei Johannes Schröder sen. Erst nach dem zweiten Klingeln öffnete eine Frau die Tür. Sie trug eine ziemlich grelle Küchenschürze. In diesem Teil des Dorfes kannte Alexa sich nicht so gut aus. Aber alles sprach dafür, daß sie Hannes Schröders Mutter war.
»Guten Tag, Alexa Schnittler ist mein Name«, stellte sie sich vor. »Ich hätte gerne mit Hannes gesprochen. Ist er vielleicht bei Ihnen?«
Die Frau sah sie nachdenklich an. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie Alexa kannte.
»Noch auf der Arbeit«, sagte sie dann. »Er kommt immer erst gegen fünf nach Hause. Soll ich was bestellen?«
»Ich müßte schon mit ihm selbst sprechen. Aber vielleicht können Sie ihm meine Telefonnummer geben. Dann kann er mich zurückrufen.«
»In Ordnung!« Alexa und Frau Schröder standen sich gegenüber, ohne daß etwas passierte. Einen Moment lang dachte Alexa, ob sie vielleicht zum Auto gehen und dort die Nummer aufschreiben sollte, dann besann sie sich eines Besseren.
»Wenn Sie vielleicht etwas zu schreiben hätten, könnte ich die Nummer eben notieren.«
»Natürlich, Entschuldigung!« Hannes’ Mutter holte einen Notizblock und einen Bleistift. Beides hatte sicher fein geordnet neben dem Telefon gelegen. Alexa schrieb ihre Handynummer auf und gab das Blöckchen zurück.
»Vielen Dank dann auch!« Alexa versuchte ein Lächeln.
»Nichts zu danken!« Hannes Mutter lächelte schwach zurück. Endlich sagte sie, was sie die ganze Zeit beschäftigte. »Sind Sie eine von Schnittlers Hans?«
»Genau davon bin ich eine«, sagte Alexa, »und dem Papa wie aus dem Gesicht geschnitten, nicht wahr?«
Alexa mußte grinsen, als sie Hannes’ Mutter eifrig nicken sah.