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Ich konnte es nicht fassen. Während ich den Berg in Richtung Wald hinaufschnaubte, gingen die Bilder mit mir durch. Das Entsetzen hatte mich so sehr gepackt, daß ich mir kurzerhand meine Joggingschuhe geschnappt hatte und losgelaufen war. Ich konnte einfach nicht glauben, was eben passiert war. Und vor allem hatte ich nicht den blassesten Schimmer, warum das alles. Ich ließ die letzten Häuser oberhalb des Krankenhauses hinter mir, als ich mich fragte, ob ich die Beziehung zu Alexa so falsch eingeschätzt hatte. Es klang vielleicht pathetisch, aber im Falle von Alexa hatte ich von Anfang an das Gefühl gehabt, sie sei die Frau fürs Leben – wenn es die überhaupt gab. Klar hatten Alexa und ich uns auch immer mal wieder gestritten – es hatte Verletzlichkeiten gegeben, wie die Sache mit Elmar, als wir den ganzen Sonntag nicht miteinander gesprochen hatten – aber nie hatte ich das Gefühl gehabt, daß unsere Beziehung wirklich gefährdet war. Wenn ich das Gefühl gehabt hätte, wäre es mir wahrscheinlich ähnlich schlecht gegangen wie jetzt.
Inzwischen war ich in den Wald hineingelaufen, natürlich war es viel zu spät. Es dämmerte schon, und im Wald würde schon bald völlige Dunkelheit einkehren, die beste Gelegenheit also, um über eine Wurzel zu stolpern und sich wer weiß was zu brechen. Ich mußte daran denken, daß ich an einem meiner ersten Tage im Sauerland fast dieselbe Strecke gejoggt war. Es war sogar der Tag gewesen, an dem ich mich zum ersten Mal mit Alexa verabredet hatte. Alexa hatte eingewilligt, obwohl sie mich zu diesem Zeitpunkt praktisch gar nicht gekannt hatte. Prompt hatte ich mich im Wald derartig verlaufen, daß ich die Verabredung verpaßt hatte. Alexa hatte eine ganze Weile stinksauer im Restaurant gesessen und auf mich gewartet. Als ich endlich völlig verschwitzt hereingedampft war, war sie bereits verschwunden. Am Ende hatte es dann doch noch geklappt mit uns beiden, zumindest bis zum heutigen Tag.
Inzwischen war ich ziemlich ins Schwitzen gekommen, dieser Anstieg direkt zu Beginn war nicht gerade läuferfreundlich. Aber wenn ich die Kapelle erstmal hinter mir gelassen hatte, wurde es vorübergehend besser. Wie oft war ich diese Strecke später mit Alexa zusammen gegangen, besonders in der Zeit, als sie ihren Hund noch hatte und regelmäßig lange Spaziergänge machen mußte. Ich war eigentlich nicht der typische Spaziergänger, aber zusammen mit Alexa hatte mir sogar das Spaß gemacht. Vielleicht war das eine der grundlegenden Dinge, die uns beide verbunden hatte – wir hatten uns stundenlang etwas zu erzählen gehabt, uns über alles mögliche ausgetauscht. Wir hatten soviel zusammen gelacht. Wir hatten – ich kam mir vor, als würde ich über eine Verstorbene reden.
Natürlich, ich konnte mir auch vormachen, daß diese Trennung nur vorübergehend wäre, eine kurzfristige Laune Alexas, die sie selber nicht beschreiben konnte. Aber ich war erfahren genug, um diese Situation richtig einschätzen zu können. Wenngleich ich keinen Schimmer hatte, wie Alexas Gefühle entstanden waren, so wußte ich doch sicher, daß sie von Dauer sein würden. War es nicht bei Angie genauso gewesen? Hatte nicht auch sie aus Rücksichtnahme zunächst nur von einer zeitlich begrenzten Trennung gesprochen und dabei schon längst einen anderen Mann gehabt? Ob das bei Alexa ähnlich war? Allein der Gedanke, daß Alexa jemand anderes kennengelernt haben könnte, schnürte mir die Kehle zu. Ich verdrängte den Gedanken und mußte prompt an Angie denken. Ihr Angebot, nach Köln zu gehen, sah ich plötzlich mit ganz anderen Augen. Vielleicht war es das Schicksal, das all diese Ereignisse hatte zusammenkommen lassen. Vielleicht sollte es so sein, daß ich nach meinem zweijährigen Ausflug ins Sauerland nach Köln zurückkehren würde. Unter Umständen war das meine Zukunft: in Köln leben, einen neuen Job beginnen, meinen alten Freundeskreis wieder aufnehmen und dort ins neue Millennium starten. Eine völlig neue Situation, mit der ich mich erst würde anfreunden müssen.
Inzwischen hatte ich das Gefälle am Kreuzweg hinter mich gebracht und mußte wieder eine Steigung nehmen. Ehrlich gesagt war diese Laufstrecke der reinste Horror: rauf, runter, rauf, runter – für die Gelenke das allerletzte. Nun ja, eventuell würde ich ja bald wieder um den Decksteiner Weiher laufen, ganz ohne Steigungen, im Pulk vieler dynamisch joggender Großstädter. Ich lief durch einen Haufen Laub, den der Wind an dieser Stelle angehäuft hatte, so daß die Blätter durcheinanderwirbelten. Alexa hatte das immer »Laubtreten« genannt. Es gab mir einen Stich, als ich an all das dachte. Mehr denn je wurde mir bewußt, daß ich insgeheim mein Leben ganz anders geplant hatte. Ich lief schneller und powerte mich total aus. Es muß geradezu verrückt ausgesehen haben, wie ich, klitschnaß geschwitzt, durch die Dämmerung des Waldes peste. Mein Atem war eine Mischung aus Hecheln und Weinen, das sich auf einem letzten Sprint auf dem Trimmpfad noch steigerte. Schließlich konnte ich nicht mehr. Kurz vor einem Kollaps hielt ich an und ließ mich langsam weinend ins Laub sinken. »Warum nur?«, wimmerte ich und hielt die Hände vors Gesicht, als hätte ich auch an diesem Ort noch Angst, entdeckt zu werden. »Warum warum warum nur?«
Erst eine Viertelstunde später stand ich auf und stellte fest, daß es inzwischen im Wald völlig dunkel geworden war. Ich wischte mir durchs Gesicht und schmeckte eine salzige Mischung aus Schweiß und Tränen auf meinen Lippen. Nach wie vor saß die Verzweiflung in meinem Bauch und schien sich immer weiter in meinen Körper hineinzufressen. Trotzdem hatte ich einen Entschluß gefaßt einen kleinen, aber wichtigen Entschluß. Ich wollte mich nicht hängen lassen. Ich mußte etwas tun in den nächsten Tagen. Ich würde jetzt nach Hause gehen und meine Arbeiten zu Ende korrigieren, zur Not bis spät in den Morgen hinein. Außerdem würde ich meine Stunden vorbereiten. Oh nein, ich würde mich nicht hängen lassen. Und morgen würde ich noch mehr tun. Ich würde nach Renkhausen fahren und diesen Fall lösen. Zumindest würde ich den offenen Fragen nachgehen. Ich konnte selbst nicht erklären, was mich dazu trieb, mich weiter in diese Sache hineinzubegeben. Vielleicht war es das Bedürfnis, die Dinge abzuschließen. Die Dinge abzuschließen, bevor ich das Sauerland verließ.