15
»Ich freue mich immer über Besuch«, sagte der Herr Geistliche Rat Rohberg, als Alexa eintrat. Der »Herr Geistliche Rat«, so hatte ihr die Frau an der Pforte höflich Auskunft gegeben, wohnte im zweiten Stock des gepflegten Seniorenheims für kirchliche Funktionsträger, das ganz nebenbei den Charme eines katholischen Provinzkrankenhauses hatte. Alexa hatte sich gefragt, ob sie ihren Gesprächspartner tatsächlich mit diesem ungelenken Titel anreden mußte. Als sie den alten Herrn mit weißem Haar und lustig blinkenden Augen im Sessel sitzen sah, entschied sie sich dagegen. Er sah nicht so aus, als ob er auf formale Äußerlichkeiten großen Wert legte.
»Es ist sehr nett, daß Sie mich empfangen, Herr Rohberg«, begann Alexa. »Mein Name ist Alexa Schnittler und ich stamme aus der Pfarrgemeinde, die Sie nach dem Krieg betreut haben.«
»Schnittler? Schnittler? Der Name sagt mir etwas«, sagte Rohberg mit zusammengekniffenen Augen.
»Der Name ist in der Gegend nicht gerade selten. Aber vielleicht kennen Sie ja noch meine Eltern«, versuchte es Alexa.
»Ich war nicht lange in Renkhausen«, erklärte Ronberg, weiterhin mit gerunzelter Stirn, »aber irgendwo in meinem Gedächtnis sitzt der Name.«
»Eigentlich geht es auch gar nicht um mich«, begann Alexa, »sondern um ein Ereignis im Dorf, das sich vor vielen Jahren, nämlich zu Ihrer Zeit, abgespielt hat.«
»Vielleicht setzen Sie sich erstmal. Es spricht sich dann besser.«
»Sagt Ihnen der Name Schulte-Vielhaber etwas?« Alexa hatte sich mittlerweile auf einem Stuhl niedergelassen. Ihr Blick fiel auf ein modernes metallenes Kreuz, das ihr gegenüber an der Wand hing.
»Natürlich! Schulte-Vielhaber ist in Renkhausen der erste Bauer gewesen.«
»Der erste Bauer?«
»Ja, der mit dem größten Hof.«
»Auf dem Hof Schulte-Vielhaber hat sich ein tragisches Unglück ereignet«, schilderte Alexa. »Der ältere Landwirt, Franz Schulte-Vielhaber, ist bei einem Sturz von der Leiter ums Leben gekommen. Nun sind die Umstände seines Todes nicht ganz klar. Ich will sagen –«
»Es könnte Fremdeinwirkung im Spiel sein.« Rohbergs direkte Äußerung verblüffte Alexa.
»Genau. Der Jungbauer, Elmar mit Namen und der Neffe von Franz Schulte-Vielhaber, wird nun des Mordes verdächtigt, weil er zugegebenermaßen am meisten Nutzen vom Tod seines Onkels hätte. Und genau das ist das Problem. Ich kenne Elmar, er ist ein alter Freund, und ich bin felsenfest von seiner Unschuld überzeugt. Deshalb habe ich mich im Dorf ein wenig umgehört. Ich habe gehofft, daß ich, wenn ich ein wenig mehr über den Toten weiß, vielleicht eine ganz andere Spur entdecke.«
»Und dabei sind Sie auf eine Geschichte gestoßen!« Rohberg lehnte sich zurück und legte konzentriert die Fingerspitzen beider Hände aneinander. Alexa beobachtete den alten Mann in seinem schwarzen, ziemlich aufgetragenen Wollpullover, unter dem ein weißes Hemd seinen spitzen Kragen hervorstreckte. Sie war überzeugt, daß Rohberg wußte, worauf sie hinauswollte.
»Ich bin auf die Geschichte mit der Magd gestoßen«, setzte Alexa vorsichtig nach.
»Auf die Geschichte mit der Magd«, wiederholte er und saß weiter versunken da. Alexa überlegte, ob sie weiter vorstoßen sollte, doch plötzlich hob Rohberg den Kopf und sah Alexa unverwandt an. »Die Geschichte ist ziemlich alt. Meinen Sie nicht, ein wenig zu alt für einen taufrischen Mordfall?«
»Vielleicht haben Sie recht!« gab Alexa zu. »Höchstwahrscheinlich sogar. Aber ich möchte nichts unversucht lassen, um Elmar zu helfen.«
»Erstaunlich«, sagte Rohberg und legte seinen Kopf ein wenig auf die Seite. »Die meisten Frauen, die ich kenne, geben sich sehr schnell mit Gegebenheiten zufrieden, ohne sie großartig zu hinterfragen.«
»Vielleicht kennen Sie die falschen Frauen.«
»Vielleicht – wahrscheinlich sogar!« Rohberg lachte. »Soweit ich überhaupt welche kenne.«
»Auch in der Kirche gibt es angeblich Frauen, die ihre Meinung sagen.« Alexa wußte, daß sie sich vom Thema ablenken ließ, aber es war mindestens genauso wichtig, eine Beziehung zu Rohberg herzustellen, welcher Art auch immer.
»Das stimmt. Leider werden die Frauen in der Kirche wenig gehört.« Rohberg rieb sich die Nase und wechselte die Stellung seiner Beine.
»Ihre Einstellung zu diesem Thema freut mich«, sagte Alexa und versuchte, den Bogen zurück zum Ausgangspunkt zu schlagen. »In meiner Geschichte haben Sie sich um eine Frau gekümmert, die Hilfe brauchte. Eine Frau, die, in welcher Form auch immer, unter Franz Schulte-Vielhaber gelitten hat.«
»Ich weiß, worum es geht«, versicherte Rohberg, »aber ich glaube beim besten Willen nicht, daß die Sache Sie weiterbringen kann.«
»Würden Sie mir trotzdem davon erzählen?«
Rohberg sah Alexa noch einmal fest in die Augen. »Ich werde Ihnen die Geschichte erzählen«, sagte er dann nach einer kurzen Pause, »wenn Sie mir versprechen, daß Sie das Gehörte nicht gegen einen der Beteiligten verwenden, weder gegen die Frau, um die es geht, noch gegen die Nachkommen des Bauern. Ich verlasse mich auf Sie.«
»Ich verspreche es«, meinte Alexa ohne Zögern. »Ich verspreche, daß ich die Geschichte nur im Zusammenhang mit diesem Mordfall untersuchen werde. Ansonsten werde ich kein unnötiges Wort darüber verlieren.«
»Gut!« Der alte Priester lehnte sich jetzt ein wenig nach vorne, als müsse er sich mit aller Macht konzentrieren, um die Erinnerung lebendig werden zu lassen.
»Ich war noch gar nicht lange da«, begann er zu erzählen, »als Maria Scholenski zu mir kam. Sie war eine Polin, die als Zwangsarbeiterin ins Sauerland gekommen war. Sie hatte zwei Jahre in einem Kalkwerk in der Nähe gearbeitet. Als der Krieg zu Ende war, ging sie nicht wie ihre Landsleute zurück. Sie hätte nicht gewußt wohin, erzählte sie mir später. Ihre Eltern waren im Krieg umgekommen, ein Bruder vermißt. Maria Scholenski, die übrigens höchstens vierundzwanzig war, als ich sie kennenlernte, muß irgendwie Kontakt in der Bevölkerung geknüpft haben, denn anders war es gar nicht zu erklären, daß sie als Magd auf dem Hof Schulte-Vielhaber unterkam. Überall herrschte das Chaos in den Jahren, jeder suchte Arbeit oder irgendeine Möglichkeit, um an Lebensmittel zu kommen. Die Stelle als Magd auf einem reichen Hof war für die junge Frau ein Glücksfall – zumindest wäre sie das gewesen, wenn dann nicht diese Geschichte passiert wäre.« Rohberg machte eine kleine Pause und sammelte sich für das, was jetzt kam. »Wie gesagt, ich war noch gar nicht lange da. Nach dem Krieg konnte ich sofort meine Priesterausbildung beenden, die ich schon vor dem Krieg begonnen hatte. Danach sollte ich meine erste Vikarstelle antreten. Und die war eben in Renkhausen. Ich war selbst noch ein schrecklich unsicherer Mensch, wußte kaum, wie ich meine Sache anpacken sollte. Auf der anderen Seite waren die Leute voller Hunger, nicht nur nach Essen, das waren sie natürlich auch. Nein, ich meine etwas anderes. Die Leute hungerten nach Beistand, nach Hoffnung, nach Frieden. Und all das sollte ich ihnen vermitteln, als junger Spund, der nicht ein Bruchteil von dem gesehen hatte, was viele im Krieg erlebt hatten. Gleichzeitig war es eine große Herausforderung. Ich fühlte einen Auftrag, und wenn ich auch oft unsicher war, so hatte ich doch das Gefühl, an einer guten Sache zu arbeiten, den Menschen helfen zu können.«
»In dieser Zeit kam Maria Scholenski zu Ihnen?«
»Ja, sie kam zu mir. Ich kannte sie schon aus dem Gottesdienst. Sie kam jeden Sonntag in die Frühmesse, ein ganz stilles Geschöpf, aber trotzdem wußte ich in einem so kleinen Ort schon bald, wer sie war – nämlich eine Magd vom Hof Schulte-Vielhaber. Ich habe keine Ahnung, wie viel sie in der Messe wirklich verstanden hat. Sie sprach damals nur sehr gebrochen deutsch, aber letztlich ist es ja auch egal, in welcher Sprache man den Gottesdienst verfolgt. Sie wird sich trotzdem zu Hause gefühlt haben. Sie ist sehr religiös erzogen worden in ihrer Heimat, wie wohl die meisten Polen.«
Alexa saß angespannt da und wartete, daß Rohberg endlich auf den Punkt kam.
»An einem regnerischen Abend stand Maria Scholenski auf einmal vor meiner Tür. Ich habe sie zunächst gar nicht erkannt. Es war stockdunkel, fast Mitternacht, da stand plötzlich diese klitschnasse Frau weinend vor der Tür. Sie konnte kaum sprechen vor lauter Verzweiflung. Deshalb habe ich sie erstmal ins Haus geholt.«
»Was hat sie erzählt?«
»Wie ich schon sagte, sie konnte nicht sehr gut deutsch. Trotzdem war ziemlich schnell klar, was passiert war. Der Bauer hatte sie vergewaltigt, und das schon zum zweiten Mal. Beim ersten Mal, ein paar Wochen zuvor, hatte sie nicht gewagt, sich an jemanden zu wenden. Sie hatte wohl gehofft, daß es nie wieder passieren würde. Beim zweiten Mal war ihr klar, daß sie dem Bauern ausgeliefert war, daß er es immer wieder tun würde.«
»Und dann? Was haben Sie getan?«
»Maria Scholenski wollte nicht zur Polizei gehen, auch nicht mit mir zusammen. Sie war völlig verängstigt und hatte nur einen Wunsch: daß sie nicht mehr zurück auf den Hof mußte.«
»Aber Sie müssen doch irgend etwas unternommen haben!«
»Ich habe dafür gesorgt, daß Maria Scholenski tatsächlich nicht mehr auf den Hof zurückkehren mußte. In der Nacht selbst habe ich sie zu meiner Küsterin gebracht – eine herzensgute Frau, die nicht weit entfernt wohnte. Sie hat sich um das Mädchen gekümmert, sie gebadet und zu Bett gebracht. Am nächsten Tag haben wir dann überlegt, was zu tun sei. Es erschien uns sinnlos, auf irgendwelche behördliche Hilfe zu warten. Daher haben wir uns selbst gekümmert. Meine Küsterin hat dann über ihre Schwester eine Adresse herausgefunden von einem anderen großen Hof im Münsterland. Dort konnte sie Maria unterbringen, wieder als Magd, aber weit weg von ihrem Peiniger. Das war das Wichtigste für sie.«
»Was ist mit Schulte-Vielhaber passiert? Wie ging es weiter?«
»Maria hat ihn nicht angezeigt, ohne ihre Aussage hätte auch ich nichts ausrichten können. Daher hatte er polizeilich nichts zu befürchten. Sie dürfen auch nicht denken, daß die Zeiten so wie heute waren. Heute ist man sehr sensibel für dieses Thema, damals ist es ein ums andere mal unter den Teppich gekehrt worden. Wie bitter das jetzt auch klingen mag:
Fälle wie Maria Scholenski hat es mit Sicherheit auf dem Lande sehr häufig gegeben. Nur leider hat niemals jemand von den Opfern erfahren.«
»Und Sie? Haben Sie selbst nie mit dem Bauern gesprochen?«
»Natürlich habe ich das. Gleich am nächsten Tag, als ich Marias Sachen geholt habe. Er hat alles abgestritten, man solle ihm erstmal was beweisen, hat er gebrüllt. Diese Magd habe es vielmehr auf ihn abgesehen, doch habe er immer widerstanden. Ich habe ihm sogar die Beichte angeboten, aber auch das hat er kategorisch abgelehnt. Hätte er gebeichtet, hätte ich Ihnen diese Geschichte auch gar nicht erzählen dürfen.«
»Maria kam also auf einen anderen Hof und die Sache war vergessen.«
»Im Grunde ja. Natürlich haben einige Leute im Dorf etwas mitbekommen. Aber viel geredet wurde darüber nicht. So groß der Hang zum Tratsch auf dem Lande auch ist, bei bestimmten Themen hält man sich raus und will nichts Falsches sagen.«
»Was ist aus Maria geworden? Haben Sie später noch von ihr gehört?«
»Sie ist auf dem Hof geblieben und hat es auch gut dort gehabt. Soviel hat meine Küsterin gelegentlich in Erfahrung bringen können. Ich selbst habe erst Jahre später von ihr einen Brief erhalten. Sie wollte sich bedanken.«
»Wann ist der Brief gekommen? Haben Sie ihn noch?«
»Die ganze Sache ist 1946 passiert, etwa acht Jahre später kam der Brief, so ganz genau kann ich das leider nicht mehr sagen. Zeigen kann ich Ihnen den Brief auch nicht. Ich mußte mich von den meisten Dingen trennen, als ich hier eingezogen bin. Allzu viel Platz ist ja hier nun mal nicht.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo Maria Scholenski jetzt sein könnte? Oder wissen Sie, wer mir helfen könnte, sie zu suchen?«
»Meine Küsterin ist lange tot, ihre Schwester vermutlich auch. Ich habe keine Ahnung, ob jemand aus dem Dorf noch weiß, wo sie heute wohnt. Aber selbst wenn jemand wußte, wo sie hingekommen ist, zum Beispiel eine von den Domscheidt-Schwestern, die mit meiner Küsterin sehr viel Kontakt hatten, so ist ja nicht sicher, daß sie nicht längst – Sie war damals Anfang, Mitte zwanzig, wie ich schon sagte. Vielleicht lebt sie schon nicht mehr.«
Alexa sackte resigniert zusammen.
»Und wenn sie lebt, meinen Sie, eine Fünfundsiebzigjährige zieht zum Ende ihres Lebens los, um sich zu rächen?«
»Keine Ahnung! Aber auszuschließen ist es nicht!«
»Sie sind sehr beharrlich!« Der Herr Geistliche Rat Rohberg blickte auf die Wanduhr und erhob sich vorsichtig aus seinem Sessel. Er bewegte sich unsicher auf den Beinen.
»Arthrose«, sagte er, »da kann man nichts machen. Wenn Sie mögen, können Sie mich gern zum Essen begleiten. Es ist natürlich keine sehr charmante Einladung,« Rohberg zwinkerte bei dieser Bemerkung, »aber wie Sie wissen, kenne ich mich mit Frauen nicht so gut aus.«