17
Als Alexa am Samstag um zwei Uhr kam, war ich noch mitten in den Korrekturen, obwohl ich mich tatsächlich schon am Abend zuvor drangesetzt hatte. Alexa beschloß, daß es gut für mich sei, eine Denkpause zu machen, und so saß ich kurze Zeit später neben ihr auf dem Weg zu Elmar und Co. Ich war wenig gesprächig auf der Fahrt. Noch steckte mein Kopf in der Arbeit. Ich schreckte daher beinahe hoch, als wir plötzlich auf dem Schulte-Vielhaber’schen Hof vorfuhren. Neben Elmars Auto stand ein aufgemotzter BMW.
»Was hab ich damit zu tun? Die fragen überall rum. Hier sind sie auch dauernd.« Elmars Stimme schallte über den ganzen Hof. Ich blickte Alexa fragend an. Sie zeigte auf die Maschinenhalle, aus der die Geräusche offensichtlich kamen.
»Erzähl mir doch nichts! Du willst doch nur von dir ablenken und hast deshalb die Typen auf mich gehetzt.« Die Männerstimme war mir unbekannt, auch Alexa runzelte die Stirn. Wir blieben am Auto stehen. Kurz und gut: Wir lauschten.
»Ich habe überhaupt niemanden auf dich gehetzt. Meinst du, die Polizei findet deine Adresse nicht heraus? Mich würde viel mehr interessieren, warum du eine solche Panik hast. Du hast doch sonst immer so eine saubere Weste! Hast du diesmal etwas zu verbergen? Wo warst du denn, als Onkel Franz von der Leiter fiel – doch nicht etwa hier in der Nähe?«
»Es geht niemanden etwas an, wo ich mich wann aufhalte, die Polizei nicht und dich schon mal erst recht nicht. Du warst mir ja immer schon ein guter Vetter. Du hättest mich am liebsten schon mit zehn Jahren aus dem Haus gejagt, um dir den Hof zu sichern. Ständig hast du rumgeschleimt bei meinem Vater: Kann ich dies noch tun? Soll ich nicht morgen aufs Feld fahren? Das kotzt mich heute noch an.«
»Für dich ist es eben ein unerträglicher Gedanke, daß jemand gerne arbeitet. Stell dir vor: ich habe tatsächlich schon als Junge gerne hier auf dem Hof gearbeitet, und ich tue es heute noch gern. Auch wenn es dir nicht paßt.«
»Du hattest es auf den Hof abgesehen, gib es doch zu! Und dann sollte dein ganzer Traum auf einmal in die Hose gehen. Dieser Polizeikommissar hat mir alles brühwarm erzählt: Mein Vater wollte sein Testament ändern – zu meinen Gunsten, und da hast du die Panik gekriegt. Du hast ihn vom Dach gestürzt, du hast –«
»Halt dich zurück, sonst –«
»Elmar?« Es war weibliche Intuition, daß Alexa jetzt einschritt. »Elmar?« Alexa rief noch einmal über den Hof und ging langsam auf die Scheune zu. Elmar und Frank kamen fast gleichzeitig heraus.
»Alexa!« Elmar wirkte völlig fahrig.
»Kommen wir ungelegen?« Alexa hatte so eine phantastische Gabe, die unpassendsten Sachen im passenden Tonfall zu sagen.
»Wir kennen uns!«, sagte Alexa und gab Frank die Hand. »Obwohl ich dich kaum wiedererkannt hätte.«
Der junge Mann an Elmars Seite sah aus, wie ich mir einen windigen Versicherungsvertreter vorstellte. Ein schlaksiger Typ mit dünnem, geföntem Haar, einem etwas zu knappen Jacket und glänzenden Slippern. Zusammen mit Elmar wirkte das Pärchen wie Landjunge und Stadtjunge.
»Ich kann mich nur noch schwach erinnern. Andrea?«
»Nicht ganz. Alexa. Das ist mein Freund Vincent«
Netterweise wurde mir gleich die Rolle des Anhängsels zugeteilt.
»Vielleicht sehen wir uns später noch. Ich hab zu tun.« Frank hob beim Weggehen nochmal lässig die Hand und ging auf sein Auto zu.
Elmar rieb sich die Stirn. »Der fehlte mir noch«, murmelte er.
»Will er länger bleiben?«
»Er hat von der Sache mit dem Testament gehört. Vermutlich will er es jetzt anfechten. Jedenfalls glaube ich nicht, daß er gekommen ist, um sich in Ruhe auf die Beerdigung vorzubereiten.«
»Und jetzt wohnt er ganz selbstverständlich bei euch im Haus?«
»Ja, wo denn sonst?« Für Elmar schien das die normalste Sache der Welt zu sein, auch wenn sie sich jetzt übers Wochenende die Köpfe einschlugen. »Irgendwie ist es doch auch sein Zuhause. Trotzdem regen Mama und ich uns auf, daß er sich benimmt wie Graf Koks. Er inspiziert unseren Haushalt, als wolle er demnächst einen Teil davon verscherbeln.«
»Wie lange war er denn jetzt schon nicht mehr da?«, fragte Alexa.
»Was weiß ich? Zwei Jahre, eineinhalb, keine Ahnung. Trotzdem hat Mama ihm sofort sein Zimmer fertiggemacht«
»Meinst du, er hat etwas mit dem Tod deines Onkels zu tun?« Meine Frage kam für Elmar völlig überraschend.
»Der Frank? Ob der den Onkel Franz umgebracht hat? Aber warum sollte er denn?«
»Ja genau, warum sollte er?« Alexa blickte mich fragend an. »Er hätte doch keinen Vorteil davon gehabt. Wenn er wußte, daß er im Testament nicht über die Maßen berücksichtigt war, warum sollte er dann nachhelfen?«
»Warum wollte dein Onkel denn überhaupt sein Testament ändern? Klar, ihr habt euch gestritten, aber ihr habt euch doch dauernd gestritten, ohne daß er sein Testament geändert hätte«, erklärte ich. »Vielleicht hat Frank seinen Vater bedroht. Vielleicht war er es, der ihn erst zu der Testamentsänderung gedrängt hat. Er hat deinen Onkel unter Druck gesetzt, so daß der sich einen Termin beim Anwalt besorgt hat Einmal konnte er ihn verschieben, vielleicht wollte er ihn nun wieder verschieben. Daraufhin ist Frank angereist. Es kam zum Streit, und Frank hat ihn von der Leiter geholt.«
»Ohne daß ihn vorher jemand auf dem Hof gesehen hat?« Alexa schaute ungläubig.
»Er kann vom Feld gekommen sein. Danach sieht es ja sowieso aus.«
»Warum sollte er sich vom Feld heranschleichen, wenn er nur mit Franz sprechen wollte?«
»Genau!« Alexa unterstützte Elmar. »Wenn der Mörder wirklich vom Feld her kam, war es geplant. Aber am Tod seines Vaters konnte Frank ja gar kein Interesse haben.«
»Gut, ich gebe mich geschlagen.« Zum Zeichen meiner Aufgabe hob ich die Hände. »Es ist nicht gerade eine meiner gewitztesten Theorien gewesen. Aber wenigstens hätten wir es dann mit einer männlichen Stimme zu tun gehabt.«
»Leider habe ich auch keine bessere Idee«, seufzte Alexa und lehnte sich an einen Anhänger, der an einen Trecker gekoppelt war. Im vorderen Teil der Scheune stand ein Gerät, das aussah wie eine Egge. Jedenfalls hatte es enorm viele besorgniserregende Spitzen, mit denen man getrost jemanden hätte umbringen können. Wahrscheinlich viel besser als durch einen Sturz von der Leiter.
»Wir können uns auch in den Garten setzen«, bot Elmar an, als er sah, daß Alexa nach einer Sitzgelegenheit suchte. »Ich könnte euch einen Kaffee machen.«
Ich nickte zustimmend, aber leider guckte Elmar gerade zu Alexa hin.
»Mach dir keine Mühe«, sagte die ganz selbstverständlich. »Du willst bestimmt gleich wieder an die Arbeit. Wir bleiben nicht lange.«
Elmar selbst stellte seinen Fuß auf eine Holzkiste und verschaffte sich so eine bequemere Haltung. »Ich hoffe, nach der Beerdigung wird hier alles wieder ruhiger«, sagte er dann.
»Wie war es denn mit Anne?«
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Elmar in meiner Anwesenheit zu diesem Thema etwas sagen wollte. Elmar strubbelte sich mit der Hand durch die Haare.
»Mit Anne? Ich weiß nicht. Es ist natürlich schwierig jetzt.« So ähnlich hätte ich das an seiner Stelle auch formuliert. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich mich unter einem Vorwand davonmachen sollte. Andererseits war Alexa selber schuld. Sie hatte mich ja unbedingt dabeihaben wollen.
»Ich glaube, wir brauchen beide Zeit, um die neue Situation zu verarbeiten. Auf der einen Seite ist kein Onkel mehr da, der uns das Leben zur Hölle macht, auf der anderen Seite sind da diese Beschuldigungen. Ich für meinen Teil weiß noch nicht, was ich wirklich will. Die Tatsache, daß es Menschen gibt, die glauben, daß ich meinen Onkel umgebracht hätte, um den Hof endlich alleine fuhren zu können, schockiert mich natürlich. Ich weiß gar nicht, ob ich unter diesen Bedingungen noch hierbleiben will.«
»Hat Anne für den Todestag ein Alibi«, fragte ich. »Ich meine, Steinschulte wird das doch sicherlich gefragt haben?«
»Klar hat er das. Ja, Anne war an der Nordsee, in Veere, einem Örtchen auf der holländischen Halbinsel Walcheren. Sie hatte sich dort in einer Pension eingemietet. Ich glaube, für Steinschulte ist sie damit aus dem Schneider. Als Motiv ist sie allerdings immer noch denkbar.«
Alexa und ich schauten Elmar gleichermaßen verdutzt an.
»Steinschulte glaubt, ich hätte Onkel Franz umgebracht, um mit Anne freie Bahn zu haben. Jedenfalls hackt er darauf ständig herum.« Elmar nahm wieder seinen trotzigen Gesichtsausdruck an.
»Du mußt noch etwas Geduld haben«, meinte Alexa tröstend. »Es wird sich sicher bald alles aufklären.«
Aber als ich ihre Augen sah, sagten die mir etwas ganz anderes.