21
»Wo warst du gestern Abend?« Alexas Frage, als sie mir die Tür öffnete, war ein einziger Vorwurf. Hinzu kam, daß sie blaß und krank aussah, was mein Gewissen nicht gerade erleichterte.
»Noch kurz in der Stadt«, murmelte ich, ohne Alexa anzublicken.
»Hattest du die Korrekturen denn fertig?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich hatte einen Hänger und brauchte etwas Abstand.« Natürlich haßte ich mich für meine Lügen.
»Dann hättest du ja auch mitkommen können«, maulte Alexa.
»Bist du krank?« Ich hoffte, daß ich mit einem anderen Gesprächsthema besser zurechtkam.
»Ach, ich weiß auch nicht, mir geht’s einfach nicht gut.« Und dann erzählte Alexa von ihrem Besuch bei Maria Scholenski, die jetzt Koslowski hieß, von ihrer Herumschleicherei im Altenheim St. Marien und von der Pflegerin, die sie am Ende erwischt hatte.
»Wenn die Pflegerin nicht selbst so ein ungutes Gefühl gehabt hätte, weil der Eingangsbereich unbeaufsichtigt gewesen war, dann hätte sie mit Sicherheit die Polizei gerufen.«
»Was hast du ihr denn erzählt?«
»Ich hätte gerufen, aber niemand sei da gewesen. In meiner Hilflosigkeit hätte ich mich dann selbstständig auf die Suche nach Frau Koslowski gemacht«
»Armes Kind.«
»Selbstverständlich habe ich ihr noch die Möglichkeit gegeben, meinen Personalausweis einzusehen, nur damit sie weiß, an wen sie sich wenden kann, falls im Laufe der Nacht alle Zimmer ausgeraubt würden.«
»Und der ganze Aufwand für nichts«, murmelte ich nachdenklich.
»Vielleicht ja nicht.« Und dann rückte Alexa mit der Geschichte von dem Foto heraus. »Es gibt also einen Sohn, dessen Alter ich leider nicht weiß. Aber theoretisch könnte er ein Sohn von unserem Mordopfer sein. Doch der Gipfel kommt noch: Er habe an diesem Sonntag eine gute Neuigkeit für seine Mutter, hat der Sohn schon vor einer Woche gesagt. Das stinkt doch zum Himmel oder nicht?«
»Sehr vage«, warf ich ein. »Vielleicht tritt er eine neue Arbeitsstelle an.«
»Und warum hat er das nicht bereits letzten Sonntag kundgetan?«
»Herrgott, es kann irgend etwas sein, das erst diese Woche in trockene Tücher gekommen ist.« Ich reagierte unwilliger, als mir lieb war. Ich war gereizt, ganz ohne Zweifel, aber die Letzte, die daran schuld war, war Alexa.
»Warum bist du überhaupt gekommen, wenn du so schlechte Laune hast? Ich kann auch nichts dafür, wenn du mit deinen dämlichen Klassenarbeiten nicht weiterkommst.«
Alexa war den Tränen nahe. Sie warf ihre rotbraunen Haare in den Nacken und wischte sich unwillig durchs Gesicht. »Es tut mir leid, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.« In Wirklichkeit wußte ich sehr wohl, was mit mir los war. Der Besuch von Angie hatte mich total aus der Bahn geworfen. Dieser Vorschlag, den sie mir unterbreitet hatte, beschäftigte mich fortwährend. Es war mir klar, daß ich in kurzer Zeit eine Entscheidung treffen mußte, die über meine Zukunft entscheiden würde. Angie konnte mir eine Stelle anbieten, als festangestellter Redakteur. Eine Stelle in Köln. Zudem eine gut bezahlte und hochinteressante Stelle. Sozusagen ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte. Angie war fast pikiert gewesen, daß ich nicht sofort zugesagt, sondern mir eine Bedenkzeit auserbeten hatte. Drei Tage, hatte ich gesagt. Drei Tage brauchte ich, um diese Entscheidung treffen zu können. Trotzdem hatte Angie schon mal auf das Angebot feiern wollen. So waren wir nach dem Italiener noch einen trinken gegangen. Angie hatte sich nicht den Teufel darum geschert, daß sie noch fahren mußte. Nach einer Stunde wußte ich auch, warum. Sie wollte gar nicht zurückfahren. Sie wollte bei mir übernachten. Das teilte sie mir nach einer Flasche Sekt mit. Damit kam ich erst recht in einen Gewissenskonflikt. Nicht, daß ich irgend etwas von Angie gewollt hätte. Aber allein die Tatsache, daß sie in meiner Wohnung übernachten wollte, ohne daß ich mit Alexa darüber gesprochen hatte, war ziemlich kompliziert Angie erriet meine Gedanken sofort »Mußt du da erst deine Freundin um Erlaubnis fragen, wenn du einer alten Bekannten in deiner Wohnung zwei Quadratmeter für die Nacht überläßt?« hatte sie mich schnippisch gefragt. Damit hatte sie mich sofort erwischt. »Natürlich nicht«, hatte ich großkotzig geantwortet, »wie kommst du denn darauf?«
Innerlich mußte ich gestehen, daß es für Alexa wohl nicht unwichtig wäre, wie weit Angies Quadratmeter von meinen eigenen zwei Quadratmetern entfernt lägen.
Im Laufe des Abends trank Angie noch einiges mehr an Sekt und anderem Zeug, und so war sie ziemlich abgefüllt, als wir schließlich in meiner Wohnung ankamen. In gewisser Weise erleichterte das die Sache. Ich packte sie in mein Bett, und sie war innerhalb von zehn Sekunden eingeschlafen. Ich selbst verbrachte die Nacht auf der Couch oder wandelte umher, in Gedanken bei meiner Zukunft, die sich entweder hier im Sauerland oder in Köln abspielen sollte.
Am nächsten Morgen war Angie ziemlich verkatert wieder abgereist. »Das ist deine Chance, Vinz«, hatte sie beim Abschied eindringlich zu mir gesagt. »Ich hoffe, dir ist klar, daß du eine solche Gelegenheit nie wieder bekommen wirst. Du willst doch nicht etwa hier versauern, oder? Ich verlaß mich auf dich.«
Natürlich wäre jetzt die Gelegenheit gewesen, die ganze Sache mit Alexa durchzusprechen. Vielleicht war sie ja geradezu begeistert von der Idee, nach Köln zu gehen. Vielleicht suchte sie nur einen Anlaß, um endlich ihre Stelle zu wechseln, und würde diesen nun endlich bekommen. Andererseits mußte ich ja auch selbst erstmal wissen, was ich wollte. Auf jeden Fall sagte ich weiter nichts und mimte weiter den griesgrämigen, nachdenklichen Überlasteten.
»Ich finde es toll, daß du trotz deiner Arbeit mit zum Erntedankfest kommst«, sagte Alexa, als wir schließlich im Auto saßen, und dieser Satz versetzte mir einen weiteren Stich. Mit einem schlechten Gewissen griff ich nach Alexas Hand und lächelte schwach.
»Bald sind Ferien, dann wird sowieso alles besser«, murmelte ich. Und im selben Augenblick fiel mir ein, daß das meine letzten Schulferien wären, wenn ich den Lehrerberuf aufgab.
In Renkhausen angekommen, stellte sich heraus, daß das ganze Dorf schon in heller Aufregung war. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, um uns Alexas Vater und Ommma anzuschließen, die sich just auf den Weg zur Hauptstraße des Dorfes machten. Dort sollte der Festzug in wenigen Minuten vorbeimarschieren, wie Ommma uns in leichter Aufregung versicherte. Alexas Mutter war schon längst losgegangen. Sie würde in der Fußgruppe des Frauengesangvereins mitlaufen.
Am Straßenrand herrschte fröhliches Treiben, die Leute standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich ausgelassen. Herr Schnittler wurde sofort von einer Gruppe von Männern begrüßt. Ommma Schnittler nutzte die Gelegenheit, um einer Nachbarin von ihrem Knieleiden zu berichten. Ich hörte nur so lange zu, bis ich sicher war, daß Ommma die Nachbarin über mich aufgeklärt hatte, ohne meine Verdienste um Ommmas und Tante Mias Wohlergehen zu erwähnen. Wahrscheinlich war Ommma die Sache mit dem Likör selbst ein wenig peinlich, und sie schwieg lieber darüber. Alexa nickte hier und da jemandem zu, schien aber nur noch ein Anhängsel, kein fester Bestandteil der Dorfgemeinschaft zu sein. Nach einer Viertelstunde Rumsteherei war endlich Musik zu hören. Kurze Zeit später näherte sich dann der Festzug mit dem Musikverein an der Spitze, der die klassischen Schützenfestohrwürmer spielte. Dahinter kamen Unmengen von Kindern, die sich als verschiedene Obstsorten verkleidet hatten. Die einzelnen Schuljahre gingen jeweils als Zitrone in Gelb mit einem Spitzenhütchen auf dem Kopf, als Erdbeeren, Kirschen oder Pflaumen. Aufgeregt und stolz winkten die Kinder ständig ihren Eltern zu.
Hinter ihnen fuhr der erste Wagen. Ein Trecker zog einen grünen Anhänger, an dem seitlich eine große Aufschrift angebracht war.
Die Milch schmeckt fad und macht nicht munter,
drum kippen wir ein Bierchen runter.
»Das hat mein Papa den Leuten fertiggemacht«, sagte Alexa lapidar. Auf dem Wagen saß eine Gruppe junger Männer und trank Bier. Offensichtlich waren sie schon eine Weile dabei, wenn man von ihrer Gesichtsfarbe Rückschlüsse ziehen durfte. Hinten am Wagen stand auf einem weiteren Schild, um welchen Verein es sich handelte: SV Renkhausen.
»Der Fußballclub«, sagte Alexa.
An der nächsten Gruppe waren wir verwandtschaftlich beteiligt »Hallo!« rief Alexas Mutter fröhlich und winkte mit einer aus Krepppapier gebastelten Sonnenblume. Die Damen des Frauengesangvereins hatten sich als eine Art Blumenmädchen zurechtgemacht Sie trugen bunte Kleider und einen Strohhut mit Blumenschmuck darauf. In der Hand hielten sie Körbe mit weiteren Blumen oder eben die selbst gebastelten Sonnenblumen. Noch eine Dame winkte uns zu.
»Das ist Ursel Sauer«, erklärte Alexa. »Du weißt schon, die mit der ich lange über den Mordfall gesprochen habe, die mir aber verschwiegen hat, daß sie selbst mal Interesse an Franz Schulte-Vielhaber hatte.«
»Wenn das stimmt, was uns die Freundin der Küsterin erzählt hat«, warf ich ein.
»Genau, wenn das stimmt.«
Jetzt kam wieder ein Wagen. Erneut ein Traktor, auf dem sich eine Gruppe von Männern amüsierte. Vorne an der Schaufel stand geschrieben, mit wem man es zu tun hatte: Mit dem Kegelclub »Die strammen Kerle.« Das Schild an den Seitenplanken konnte ich anfangs überhaupt nicht verstehen.
Der Bulle braucht nichts mehr zu tun
Die Spritze macht’s und er kann ruh’n.
»Es geht um Besamung«, meinte Alexa und verdrehte die Augen. Mir war nicht klar, ob über die Originalität des Schildes oder über meine Unwissenheit.
»Ziemlich derber Humor, was?«, sagte plötzlich eine Stimme hinter uns. Wir fuhren gleichzeitig herum. Ein sportlich aussehender, älterer Mann stand hinter uns und lächelte unter zwei unglaublich dicken Augenbrauen hervor.
»Ach, Herr Reineke«, meinte Alexa erfreut. »Wie nett, Sie hier wiederzutreffen. Das ist übrigens mein rheinischer Freund Vincent, über den wir kürzlich ausführlich sprachen.« Alexa zwinkerte dem Herrn zu. Ich blickte verwundert. »Das ist Herr Reineke, einer der Zeugen, die auf dem Hof waren, als Elmars Onkel gestorben ist.«
»Ich verstehe.« Artig gab ich dem Mann die Hand. Warum sie über mich gesprochen hatten, war mir jedoch noch immer nicht klar.
»Ich liebe diese Dorffeste«, erklärte Herr Reineke, ohne meine Neugierde zu befriedigen. »Sie zeugen von soviel Eigeninitiative und Freude am Feiern. So etwas habe ich in der Stadt in der Form nie erlebt.«
Wie zur Bestätigung lief jetzt eine Gruppe von Frauen vorbei, die als Hühner verkleidet war. Hier und da verteilten sie ein Ei an die Zuschauer. Ohne Zweifel waren sie in bester Stimmung und konnten diese auch ans Publikum vermitteln. In der Mitte der Hühnerschar lief eine Frau im Hahnenkostüm. Sie trug ein Schild mit der Bezeichnung der Gruppe: ›Junge Landfrauen‹.
»Haben Sie eigentlich Erfolg gehabt mit Ihren Befragungen?« wandte sich Reineke wieder an Alexa.
Alexa schaute mich an, als wolle sie in meinem Gesicht lesen, was sie dem Mann erzählen könne.
»Zumindest nicht bei den Leuten, die am Todestag auf dem Hof waren«, sagte sie dann ausweichend. »Ehrlich gesagt wußten alle genauso wenig wie Sie.«
»Das tut mir leid. Aber ich habe mir auch nachher nochmal ernsthaft Gedanken gemacht, ob ich etwas Verdächtiges übersehen haben könnte. Leider ist mir nichts eingefallen.«
Noch einmal kam ein Wagen, diesmal vom Männergesangverein, wie zu lesen war. Vorne auf dem Traktor saß ein junger Mann.
»Das ist Hannes Schröder«, sagte Alexa zu mir gewandt. »Auch mit ihm habe ich gesprochen, weil er an besagtem Tag auf dem Hof war. Er ist ein Freund von Elmar. Wahrscheinlich fahrt er für ihn den Trecker, weil Elmar im Moment nicht unter Leute will.«
»Aber warum denn nicht?«, fragte Herr Reineke bestürzt. »Der Junge sollte sich doch von den Leuten nicht verrückt machen lassen.«
»Das sagt sich so leicht«, Alexa antwortete, ohne den Blick vom Festzug zu lassen. »Was meinen Sie, wie schief er angeschaut würde, wenn er am Tag vor der Beerdigung hier herumturnen würde.«
Eine zweite Musikkapelle zog jetzt vorbei. Trotz der lauten Blasmusik war plötzlich Alexas Handy in ihrer Brusttasche zu hören. Sie wandte sich um und preßte den Hörer ans Ohr. Ich konnte nur einige Fetzen verstehen.
»Wir haben gerade über dich gesprochen – nein, nichts – was sagst du da? – ja, natürlich, wir kommen sofort.«
»Es war Elmar«, rief Alexa und zog an meinem Arm. »Auf dem Hof ist wieder etwas passiert. Wir sollen sofort hinkommen.«
Herr Reineke schaute hilflos von einem zum anderen. »Um Gottes willen, kann ich helfen?«
Wir waren schon zwei Meter weg, als Alexa antwortete. »Nein danke, wirklich nicht!«