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Wie immer im Leben lief alles anders als geplant. Die Sache mit Josef Koslowski zum Beispiel war mir ’ganz einfach von der Hand gegangen’, wie man so schön sagt. Ich hatte hin und her überlegt, wie ich mich ihm annähern konnte, ohne allzu großes Mißtrauen zu erwecken. Und dann war dieser Telefonanruf gekommen. Max hatte sich nämlich gemeldet, um zu erzählen, daß er der sauerländischen Heimat ein weiteres Stück näher gekommen sei. Er halte sich jetzt in Münster auf, bei einem ehemaligen Kommilitonen aus seiner Jura-Studienzeit, und werde bald zurückkommen. Im stillen hatte ich geschmunzelt. Ich sah es als Riesenfortschritt an, daß Max ganz locker über seine Studienzeit sprach, nachdem er früher über alles geschwiegen hatte, was auch nur annähernd mit dieser Zeit zu tun gehabt hatte. Seit den Ereignissen, die ihn als Studenten so sehr aus der Bahn geworfen hatten, hatte er still und in sich gekehrt vor sich hingelebt. Seit Jahren hatte er sich durch Taxifahren finanziert, ohne sich die Frage zu beantworten, ob er das wirklich wollte. Außerdem hatte Max nie von einer Beziehung erzählt – all das Auswirkungen einer »Schuld, die ihn nie verlassen würde«, wie Max selbst gesagt hatte. Dann irgendwann war eine Wende eingetreten. Als Folge einer lebensbedrohlichen Situation hatte Max sich der Vergangenheit gestellt, und er hatte für sich befunden, daß er mit seinem Leben noch etwas anfangen wollte.
»Ich mache mir jetzt noch einen schönen Tag in der Stadt und komme dann morgen«, erklärte Max. »Ich meld mich bei dir, sobald ich da bin.«
»Falls man sich in Münster einen schönen Tag machen kann, tu das«, hatte ich etwas schnoddrig geantwortet. »Ich könnte dir jetzt die Vorteile Kölns aufzählen, aber als westfälisches Kaltblut würdest du das sicher nicht zu schätzen wissen. Im übrigen – halt!« sagte ich und unterbrach mich selbst. »Du bist in Münster.«
»In der Tat. Ich glaube, das sagte ich bereits.«
»Das ist ganz phantastisch.«
»Danke, falls das so eine Art Kompliment sein soll. Aber wenn ich mich nicht irre, hast du das eben noch ganz anders gesehen.«
»Du bist in Münster«, wiederholte ich nachdenklich. »Dann mußt du für mich etwas erledigen!«
»Aha!«
Und dann erzählte ich. Von Elmar Schulte-Vielhaber und dem Verbrechen auf dem Hof, von Maria Scholenski und ihrem Sohn Josef. Wann Maria aus Renkhausen weggegangen war und warum uns der Sohn jetzt interessierte. Lang und breit erzählte ich alles, was Max wissen mußte, um Josef Koslowski auszuquetschen.
»Wir wissen nicht genau, wie alt Josef ist«, erklärte ich. »Womöglich ist er gar nicht ein Kind aus Maria Scholenskis Ehe, sondern der leibliche Sohn von Franz Schulte-Vielhaber. Ein Grund mehr, Haßgefühle zu entwickeln.«
Max schien sich am anderen Ende Notizen zu machen. Ein braver Detektiv, ich würde ihn zu meinem offiziellen Assistenten machen.
»Du tust einen Dienst an der Menschheit, wenn du was rauskriegst«, schwadronierte ich pathetisch.
»Ich tue dir bestenfalls einen Gefallen«, grunzte Max in der ihm eigenen Art. Auch eine in jeder Hinsicht inspirierende Weltreise hatte ihm die nicht abgewöhnen können.
»Egal, warum du es tust – Hauptsache, du findest was raus!«
Max hatte versprochen sich zu melden, falls er etwas herausgefunden hatte. Spätestens am nächsten Tag sollte ich von ihm hören.
Danach war ich nach Renkhausen gefahren, um mit Elmar zu sprechen – mit Elmar und seiner Mutter. Und auch da war alles anders gekommen. Kurz, bevor ich den Feldweg zum Hof befahren konnte, war mir ein Polo entgegengekommen, der Schulte-Vielhaber’sche Polo, der sonst auf dem Hof stand. Am Steuer Elmars Mutter.
Vielleicht war es der Blick, den Hannah Schulte-Vielhaber in den Rückspiegel warf, gerade als sie an mir vorbeifuhr, vielleicht war es auch mein untrügliches kriminalistisches Gespür. Auf jeden Fall bog ich in die Zufahrt zum Hof nur ein, um meinen Wagen zu wenden. Danach gab ich Vollgas und heftete mich in ausreichendem Abstand an Hannahs Auto. Ich wurde ein wenig aufgeregt. Nicht umsonst guckte ich abends hirnrissige Krimiserien aus den 70er Jahren. Darin war es üblich, daß die Detektive mit Schlaghosen und einem dämlichen Grinsen im braun gebrannten Gesicht ihren Verdächtigen genau auf diese Weise auf die Spur kamen. Meistens dramatisierte sich die Verfolgungsszene ein wenig, wenn der Verdächtige merkte, daß er verfolgt wurde. Dann wurde Vollgas gegeben und mit quietschenden Reifen geprotzt. Das allerdings war von Hannah Schulte-Vielhaber nicht zu erwarten. Jedenfalls nicht im Augenblick. Artig blieb sie auf der Bundes-Straße, hielt sich strikt an jede Geschwindigkeitsbegrenzung und bog erst an dem Hinweisschild Alte Mühle erstmalig ab. Ich war mir nicht sicher, ob das ein Ort oder ein Gebäude war. In sicherem Abstand folgte ich ihr. Der Weg ging mitten durch die Felder, war aber ganz gut ausgebaut und wurde offensichtlich vielfach als Abkürzung genutzt. Nach zwei Kilometern bog Hannah in einen schmaleren Weg ein. Als ich näher kam, sah ich das Schild Privatweg an der Einmündung. In etwa zweihundert Metern Entfernung konnte ich hinter ein paar Bäumen ein Gebäude erkennen, ebenfalls ein alter Bauernhof, aber nach meinem Ermessen deutlich kleiner. Ich würde mich mit dem Auto kaum dem Haus nähern können, ohne aufzufallen. Folglich fuhr ich ein paar Meter weiter, wo rechts ein grasbewachsener, schmaler Wirtschaftsweg abging, und parkte das Auto dort. Ich sah an mir herunter. Meine Kleidung war nicht gerade tarnfarben, aber ich hatte ja auch nicht vor, durch das Feld zu robben. Statt dessen lief ich auf dem Privatweg, versuchte einen unauffälligen Gesichtsausdruck aufzulegen, behielt aber die ständige Furcht bei, daß Hannah mich plötzlich entdecken könnte. Allerdings hatte ich ihr Auto noch gar nicht erspäht.
Als ich nur noch wenige Meter vom Haus entfernt war, hörte ich Stimmen. Mein Atem stockte. Wie sollte ich erklären, warum ich plötzlich diesen Privatbesitz heimgesucht hatte? Gut, einem Fremden konnte ich irgendwas von wegen Telefonieren verklickern, aber Hannah Schulte-Vielhaber war schließlich nicht blöd. Wenn sie mich hier sah, würde sie sofort erraten, daß ich ihr heimlich gefolgt war. Ich sah mich panisch um. Links war eine Art Holzschuppen, an den einige Gartengeräte angelehnt waren. Wenn ich mich nicht täuschte, war sogar die Tür eine Handbreit offen. Ich lief lautlos die paar Schritte dorthin und verschwand in dem Schuppen, die Tür ließ ich, wie sie war. Der Schuppen war an den Wänden vollgestellt mit ausrangierten Gartenmöbeln, zwei Rasenmähern und diversen Gartenkleinteilen. Durch die Ritzen des alten Holzes spähte ich nach draußen. Tatsächlich, da war sie, Hannah Schulte-Vielhaber und an ihrer Seite ein vollbärtiger Mann in ihrem Alter. Er hatte schwarz meliertes Haar und trug ein blau-weiß gestreiftes Fischerhemd. Sein Körper war kräftig, aber nicht dick, er wirkte durchtrainiert. Lachend sagte er etwas zu Hannah und faßte ihr dabei auf den Unterarm. Dann gingen beide zügig zum Wohnhaus hinüber.
Ganz offensichtlich wurde der Hof nicht mehr bewirtschaftet. Zwar waren die Nebengebäude noch vorhanden, doch deutete gar nichts daraufhin, daß sie noch zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzt wurden. Kein Trecker, kein Hälmchen Stroh, kein typischer Geruch. Im Gegenteil entdeckte ich jetzt, daß an der gegenüberliegenden Scheune das Schiebetor nicht ganz zugeschoben war. Durch die schmale Ritze konnte man auch aus der Entfernung ein Segelboot erkennen. Der Besitzer verpachtete also die Nebengebäude oder war selber ein Wassersportler.
Plötzlich erstarrte ich. Irgendjemand hatte mich von hinten berührt. Ein Schrei blieb mir in der Kehle sitzen. Ich fuhr herum. Irgend etwas schnüffelte an mir herum. Es mußte ein Hund sein, allerdings ein mordsmäßig großer, vielleicht auch eine Mischung aus einem Pony und einem Bernhardiner. Mittlerweile war gentechnisch ja fast alles möglich. Unter Umständen züchtete der Hofbesitzer hier in aller Heimlichkeit Lebewesen, die man gar nicht züchten durfte, kreuzte Schlangen mit Vogelspinnen auf der ständigen Suche nach dem horrormäßigsten Urviech. Natürlich spann ich heillos herum. Bislang konnte ich an meinem Schuppengenossen wirklich nichts aussetzen. Wenn man die ständige Schnüffelei als tierisches Händeschütteln anerkannte, konnte man bei dem schwarzen, zotteligen Köter sogar von einer übertriebenen Höflichkeit sprechen. Er mußte sich schon länger im Schuppen aufgehalten haben, jedenfalls war kein anderer Eingang erkennbar. Ich bewegte mich nicht und ließ das Vieh weiter an meinen Händen herumschnuppern. Langsam gewann ich Vertrauen. Das Tier war nicht gerade als Kampfhund abgerichtet. Jedenfalls konnte man davon ausgehen, wenn er bei Fremden, die sich unerlaubt Zugang zum Grundstück verschafft hatten, derartige Liebesbekundungen von sich gab. Wie zur Unterstützung dieser These wedelte der Hund mit dem Schwanz. Aus unerklärlichen Gründen schien er mich zu mögen.
»Braver Hund«, sagte ich und begann das Tier zu streicheln. Ich sagte auch »Braves Pony«, um ihn nicht zu verärgern, falls ich mit dem Hund danebengelegen hatte. »Du bist ja ein ganz Lieber«, schleimte ich rum und wurde nicht einmal rot dabei. Alexa wäre stolz auf mich gewesen, hätte sie mich so gesehen. Alexa! Der Gedanke an sie machte mich unvermittelt krank.
»Hennes!« Ich blickte erschrocken nach draußen. Was war denn nun schon wieder los? Durch die Ritzen zwischen den Schuppenbrettern sah ich, daß der Mann aus der Haustür des alten Bruchsteinhauses herausgetreten war. »Hennes!«, rief er noch einmal.
Verdammt, wer hielt sich denn noch alles hier auf? Womöglich würde mir gleich noch ein fröhlicher Sechsjähriger durch die Beine krabbeln.
»Hennes, Fressen!«
Plötzlich kam Bewegung in den Hund. Er war also Hennes. Rücksichtslos drängelte er sich an mir vorbei und aus dem Schuppen heraus. In Windeseile war er bei seinem Herrchen.
»Da bist du!« Der Haus- und Hundebesitzer kraulte Hennes die Seite. Gut, daß der nicht sprechen konnte! Aber vielleicht konnte er ja, wenn das Fischerhemd noch ein paar Papageiengene hineingekreuzt hatte. Mit zwei Sätzen war Hennes im Haus und sein Herrchen stiefelte hinterher.
Was nun? Ich sah mir das Wohnhaus noch mal genauer an. Es schien vor nicht allzu langer Zeit gründlich renoviert worden zu sein. Die Fenster wirkten wie gerade erst eingebaut, alles war perfekt in Schuß. Offensichtlich hatte sich hier jemand einen romantischen Ruhesitz auf dem Lande geschaffen. Ich beschloß, mein Versteck zu verlassen. Wenn ich Glück hatte und Hennes erstmal mit Fressen statt mit Schnüffeln beschäftigt war, konnte ich vielleicht noch was herauskriegen. Vorsichtig verließ ich den Schuppen und ging langsam auf das Wohnhaus zu. Leider konnte ich mich beim Überqueren des kleinen Hofes nirgendwo verbergen. Wenn jetzt zufällig jemand aus dem Fenster schaute, war ich entdeckt. Die letzten Meter lief ich und drückte mich dann gleich neben einem Rosenstrauch an die Hauswand. Direkt an der Ecke war das erste Fenster. Ich ging in die Knie und kroch um die Hausecke herum. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich einen Blick durchs Fenster warf. Toll, das schien eine Art Abstellraum zu sein. Nicht gerade sehr aufschlußreich. Ich lief in der Hocke weiter den Grasstreifen am Haus entlang bis zum nächsten Fenster. Das war die Küche, eine große Küche, die ein wenig unaufgeräumt wirkte. Vermutlich wohnte der Hausbesitzer ganz alleine hier. Als nächstes kam eine Tür, die von der Küche auf die Terrasse führte. Ich huschte daran vorbei unter das nächste Fenster. Dieses Fenster war sehr groß. Ich schien also im Wohnzimmerbereich angekommen zu sein. Vorsichtig hob ich den Kopf und warf einen Blick ins Innere. Zunächst konnte ich gar nichts erkennen, weil es drinnen recht dunkel war und ich mich erst an die Lichtverhältnisse gewöhnen mußte. Dann sah ich Hannah Schulte-Vielhaber und den Unbekannten vorm Kamin stehen, der in eine Ecke des Zimmers eingelassen war. Ich schluckte – zum einen wegen dieser Entdeckung, zum anderen, weil ich mir vorkam wie ein Spanner. Die beiden küßten sich leidenschaftlich und waren völlig ineinander versunken. Zum Glück küßten sie mit geschlossenen Augen.