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Auf dem Weg in ihr Heimatdorf Renkhausen beschloß Alexa, ihren Eltern erst einen Besuch abzustatten, wenn sie ihre Fragestunde hinter sich gebracht hatte. Womöglich hielt sie sich sonst zu lange auf und umging damit die unangenehme Zeugenbefragung. Gerade hatte Alexa noch bei Elmar angerufen und ihm von ihrem Telefonat mit Frau Behrend erzählt. Dann hatte sie die Namen der Leute erfragt, die am Tage des Unfalls auf dem Hof gewesen waren. Elmar hatte ihr vier Namen gegeben und zugleich eine kurze Beschreibung, wo die Leute wohnten. Dabei hatte Alexa mit drei der Namen sofort etwas anfangen können. Und die vierte Person schien auch nicht schwer zu finden zu sein. Alexa warf noch einmal einen Blick auf den Zettel mit den Namen, der neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Gertrud Wiegand, damit würde sie anfangen. Sie war schließlich die wichtigste Zeugin, da sie das vermeintliche Gespräch zwischen Franz Schulte-Vielhaber und seinem Mörder mit angehört hatte.

Gertrud Wiegand wohnte nicht weit von Elmars Hof entfernt. Ihr Häuschen gehörte zu einer Ansammlung von Häusern am Dorfrand, die dem Schulte-Vielhaber’schen Hof am nächsten lag. Als Alexa vor dem schmucklosen braunen Haus ausstieg, überlegte sie, wie lange Gertrud Wiegands Mann schon tot war. Alexa hatte ihn jedenfalls nicht mehr kennengelernt. Für sie war Wiegands Gertrud Zeit ihres Lebens Witwe gewesen. Ohne Kinder hatte sie in ihrem Häuschen gewohnt und eine große Selbstständigkeit an den Tag gelegt. Wenn Alexa sich richtig erinnerte, war sie bis vor Kurzem ab und an mit einem alten Mofa in die nahegelegene Stadt gefahren, um Besorgungen zu machen. In letzter Zeit hatte sie diese Fahrtätigkeit wohl dran gegeben. Jedenfalls hatte Alexa sie ein- oder zweimal an der Bushaltestelle stehen sehen und mitgenommen.

Auf dem Weg zur Haustür sah Alexa bereits einen Schatten hinter dem Fenster. Zum Glück war jemand zu Hause. Trotz des Schattens mußte Alexa klingeln, um hereingelassen zu werden. Als Gertrud Wiegand die Tür öffnete, sah Alexa, daß sie gleichzeitig ihre Schürze hinten aufknotete. Einen Moment stutzte die grauhaarige Hausbesitzerin, dann erhellte sich ihr Gesichtsausdruck. »Schnittlers Alexa?«, sagte sie, halb Frage, halb Feststellung. »Man sieht es dir gleich an«, erklärte sie dann. »Du kommst ganz nach deinem Papa.«

»Ja, da kann man nichts machen«, sagte Alexa im Bemühen, ganz locker zu wirken. Immerhin war Frau Wiegand inzwischen zwei, drei Schritte zurückgetreten, um Alexa hereinzulassen.

»Vielleicht können Sie sich denken, warum ich gekommen bin«, sagte Alexa, als sie Frau Wiegand in den Flur folgte.

»Natürlich«, antwortete Frau Wiegand, die inzwischen ihre Schürze über das Treppengeländer gehängt hatte. »Es gibt im Moment eigentlich nur ein Thema, über das die Leute mit mir reden möchten.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Alexa folgte Gertrud Wiegand in ein penibel aufgeräumtes Wohnzimmer. Es war halbdunkel darin und sah aus, als würde es nur genutzt, wenn Besuch da war. Frau Wiegand knipste das Licht an, was das Zimmer aber nur minimal erhellte. Zumindest wurde jetzt das Mobiliar sichtbar, eine Chippendale-Polstergarnitur, im passenden Ton dazu eine dunkle Schrankwand. Alexa atmete tief durch. Sie hatte in diesem Ambiente das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen.

»Du bist mit Elmar gut befreundet, nicht wahr? Komm, setz dich erstmal!« Gertrud Wiegand ließ sich selbst in einen der Sessel fallen, Alexa nahm auf der vordersten Kante des Chippendale-Sofas Platz. Direkt vor ihr stand auf dem Wohnzimmertisch eine Porzellanschale mit angestaubten Plätzchen, die den Eindruck erweckten, sie hätten schon den Ersten Weltkrieg miterlebt.

»Zumindest war ich in meiner Kindheit gut mit ihm befreundet«, erklärte Alexa. »Der Kontakt ist jetzt nicht mehr sehr intensiv. Aber trotzdem hat mich die Nachricht von dem – dem Todesfall sehr mitgenommen.« Alexa hatte einen Augenblick in ihrer Wortwahl gezögert. Mit dem Wort »Unfall« hätte sie Gertrud Wiegands Zeugenaussage von vornherein für unglaubwürdig erklärt. Andererseits sträubte sie sich nach wie vor dagegen, von Mord zu sprechen.

»Du kannst mir glauben. Ich bin immer noch nicht über den Anblick des alten Schulte-Vielhaber hinweg«, erklärte Frau Wiegand. »So was bekommt man Gott sei Dank nicht alle Tage zu sehen.«

»Ich kann mir vorstellen, daß sein Anblick Sie erschüttert hat. Er ist ja aus mehreren Metern Höhe gestürzt und muß gräßlich ausgesehen haben.«

»Das ist die eine Sache«, sagte Frau Wiegand und ihre Stimme nahm plötzlich einen eindringlichen Tonfall an. »Aber zu wissen, daß ihn da jemand heruntergestürzt hat, ist das wirklich Unheimliche. Du kannst mir glauben, ich habe seitdem keine Nacht mehr ruhig schlafen können.« Alexa wußte, daß sie jetzt am Kernpunkt des Gesprächs angekommen waren.

»Was genau haben Sie denn vorher gehört?« Frau Wiegand sammelte sich einen Augenblick. Dann begann sie zu sprechen, wobei sie Alexa mit einem konzentrierten Blick anschaute.

»Ich hatte ziemlich lange mit Hannah geplauscht«, begann sie, und Alexa war sich sicher, daß sie die Geschichte inzwischen schon hundertmal hatte erzählen müssen. Trotzdem war ihre Schilderung von ungeheurer Intensität. »Wir hatten über alles Mögliche gesprochen, über das Erntedankfest, über die Chorproben, über den Pastor.« Alexa wußte, daß gerade Letzteres im Dorf ein dankbares Thema war.

»Dann aber schaute ich auf die Uhr und stellte fest, daß ich mich überall zu lange aufgehalten hatte. Auf dem Weg zu Schulte-Vielhabers hatte ich nämlich schon Hilde Domscheidt getroffen und mit der eine Viertelstunde palavert. Kurz: Ich mußte mich beeilen. Es war schon halb vier, und ich hatte Schmidten Leni versprochen, noch bei ihr vorbeizukommen.« Alexa nickte, um ihr Interesse zu signalisieren. Sie wußte, wer Schmidten Leni war: die Frau, die bis vor Kurzem die kleine Postfiliale im Ort geführt hatte.

»Ich hatte es ziemlich eilig, als ich dann mit meinem Korb voller Eier über den Hof ging. Deshalb achtete ich auch nicht gleich auf die Geräusche, die hinter der Scheune herkamen. Erst als ich den Hofplatz fast überquert hatte, wurde ich aufmerksam auf die Stimmen. Ich habe vom Dach der Scheune ganz deutlich eine Stimme gehört, und zwar die von Franz Schulte-Vielhaber selbst. Sehen konnte ich ihn nicht, doch habe ich einigermaßen verstanden, was er gesagt hat. Er brüllte: ’Laß mich in Ruhe und pack dich weg’. Kurze Zeit später hörte ich dann ’Ich habe nichts Schlimmes getan’ oder so ähnlich, und dann schrie der Bauer noch:« Laß die Leiter stehen! ». Kurz drauf hörte ich einen Schrei und dann ein metallenes Geräusch, wohl von der Leiter, die aufgeknallt ist.«

Alexa hörte atemlos zu. Gertrud Wiegands Bericht fesselte sie.

»Und dann? Sind Sie dann hingelaufen?«

»Ich habe einen Schreck gekriegt. Ich wußte sofort, daß etwas Schreckliches passiert war. Dieser Aufprall und dieser gräßliche Schrei!« Alexa sah, daß Frau Wiegand auch jetzt noch mit den Bildern zu kämpfen hatte.

»Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie nur eine Stimme gehört, nicht wahr?«

»Nein, ich habe zwei Stimmen gehört. Nur habe ich nicht verstanden, was der andere gesagt hat. Seine Stimme war viel schlechter zu verstehen. Vermutlich hat er am Boden gestanden.«

»Und Sie sind sich ganz sicher?«

Frau Wiegand sah Alexa einen Augenblick fest in die Augen, bevor sie antwortete. »Meinst du, ich weiß nicht, daß ich damit den Elmar belaste? Aber ich kann nichts anderes als die Wahrheit sagen. Obwohl ich den Elmar gerne hab und weiß, welchen Ärger er oft mit dem Franz hatte. Als ich ankam und über den Hof ging, habe ich die beiden doch noch streiten sehen. Sie standen vorm Stall und gifteten sich an. Ich weiß, wie schwer Elmar es mit dem Alten hatte, das kannst du mir glauben. Aber trotzdem: Ich habe die Stimmen gehört, und ich habe zum Teil verstanden, was sie gesagt haben. Das ist einfach so.«

»Dann müßten Sie auch sagen können, ob Elmars Stimme dabei war.«

»Das hat mir der Herr Kommissar auch immer wieder gesagt. Aber dem ist nicht so. Das kann ich wirklich nicht sagen, ob es der Elmar war, der von unten gesprochen hat. Ich kann die undeutliche Stimme nicht zuordnen, obwohl ich sie seitdem noch hundertmal in meinem Kopf gehört habe. Ich kann nur eins sagen. Es war eine männliche Stimme«, erklärte Frau Wiegand selbstsicher. »Das weiß ich ganz genau.«

»Haben Sie denn vorher irgend jemanden auf dem Hof gesehen?« Alexas Stimme war voller Hoffnung. »Ich meine jemanden, der nicht zum Hof gehört?«

»Auch diese Frage mußte ich zigmal beantworten. Es tut mir leid, aber ich habe keinen Menschen getroffen.«

Auf dem Weg zum Auto gingen Alexa immer wieder die Sätze durch den Kopf, von denen Gertrud Wiegand ihr erzählt hatte. ’Ich habe nichts Schlimmes getan’, ’Laß mich in Ruhe und pack dich weg’, ’Laß die Leiter stehen’. Als sie schließlich im Auto saß, schrieb sie die Sätze auf einen Zettel, der im Handschuhfach lag. Außerdem noch ein paar Stichworte, die ihr wichtig erschienen. Bevor sie den Motor startete, öffnete sie das Fenster. Als sie schließlich den Schlüssel im Zündschloß drehte, wurde ihr eine Sache klar: Sie glaubte Gertrud Wiegand. Sie war davon überzeugt, daß die Stimmen nicht nur in ihrem Kopf, sondern in der Wirklichkeit vorhanden gewesen waren. Gleichzeitig war Alexa von einer erstaunlichen Energie beseelt. Sie glaubte zwar, daß Franz Schulte-Vielhaber ermordet worden war, aber es war undenkbar für sie, daß Elmar damit zu tun hatte. Nicht, weil er dazu nicht grundsätzlich in der Lage wäre. Da wollte Alexa sich kein Urteil erlauben. Im Affekt, in einem Moment des Zorns, der Verzweiflung, war man sicherlich zu vielerlei in der Lage. Aber sie war sich sicher, daß Elmar sie nicht angelogen hatte. Er hatte behauptet, daß er es nicht gewesen war, und das stimmte. So gut kannte sie Elmar. Auch heute noch.