26

Als ich zu Alexa zurückging, stand sie gerade mit Elmar zusammen und redete auf ihn ein.

»Ich verstehe das nicht. Warum hast du ihm das erlaubt?«

»Ich habe nichts zu verbergen«, verteidigte Elmar sich. »Außerdem wäre er sonst eine halbe Stunde später mit einem Durchsuchungsbefehl zurückgekommen.«

»Ich glaub’s einfach nicht. Dieser arrogante Idiot stellt dein ganzes Haus auf den Kopf.«

»Sie wollen vorsichtig vorgehen«, versuchte Elmar zu beschwichtigen. »Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst. Du bist ja schlimmer als Frank.«

»Wieso Frank?«, wollte ich wissen.

»Der hat auch einen Anfall gekriegt, als er eben davon erfahren hat. Und dann ist er wutentbrannt abgezogen.«

»Vielleicht hat der etwas zu verbergen«, sagte ich.

»Je eher der Verdacht von mir genommen wird, desto besser«, meinte Elmar und machte ein trotziges Gesicht. »Wie auch immer.«

Alexa verstand die Botschaft und bohrte nicht weiter.

»Kommt ihr noch mit zum Kaffeetrinken?«, fragte Elmar dann. »Es wird höchste Zeit, daß ich mich da sehen lasse.«

Alexa sah mich einen Augenblick an. Unsere Minen drückten beide nicht ungeteilte Begeisterung aus.

»Ich glaube nicht«, sagte Alexa schließlich. »Wir überlassen lieber der Verwandtschaft das Feld.«

Elmar versuchte zum Glück nicht, uns zu überreden. Alexa fragte mich, ob ich noch Zeit für einen Sprung zu ihren Eltern hätte. Eigentlich drückte mich die Arbeit, doch Alexa sah nach wie vor so schlecht gelaunt aus, daß ich einem Streit aus dem Weg gehen wollte. Vielleicht munterte der Besuch bei ihren Eltern sie auf.

Herr Schnittler war gerade am Straßenrand in ein Gespräch vertieft, als wir uns näherten. Die beiden Männer bemerkten uns erst, als wir unmittelbar vor ihnen standen.

»Das ist Herr Reineke«, sagte Alexas Vater bemüht. »Er hat das Haus von Friedhelm Droste gekauft und umgebaut.«

»Wir hatten schon das Vergnügen«, sagte Alexa schmunzelnd. »Und – Sie sind wieder mit dem Rad unterwegs?«

Tatsächlich hatte Herr Reineke das rechte Hosenbein am Schlag zusammengebunden und hielt mit der Linken lässig das Rad. »Irgend etwas muß man für die Kondition ja tun«, sagte er lächelnd. »Sonst verrostet man, ohne daß man es selber merkt.«

»Wart ihr auf der Beerdigung?« wandte sich Herr Schnittler jetzt an uns.

Alexa nickte. »Leider ist immer noch nicht alles in Ordnung mit Elmar, obwohl jemand dieses Schimpfwort an die Scheunenwand gemalt hat. Dieser Hornochse von Kommissar hat sogar behauptet, Elmar könnte das höchstselbst getan haben, um jeden Verdacht von sich zu weisen.«

»Das gibt’s doch gar nicht!« Herr Schnittler war ebenfalls voll der Entrüstung.

»Kaum zu fassen«, sagte Herr Reineke und schüttelte den Kopf.

»Trotzdem darfst du dir nicht alles so zu Herzen nehmen«, meinte Alexas Vater besorgt. »Du siehst richtig mitgenommen aus. Wir müssen einfach darauf hoffen, daß die Polizei die Sache bald aufklärt.«

»Das ist bei dem Kommissar höchst fragwürdig«, grummelte Alexa.

Sanft schob Herr Schnittler seine Tochter Richtung Haus. Herrn Reineke winkte er zum Abschied zu.

»Bis demnächst mal!«, rief Herr Reineke und schwang sich auf sein Rad. Alexa lächelte ihm nach.

»Ein ganz netter Kerl!«, sagte Herr Schnittler wie zur Erklärung.

»Er hat das Haus sehr schön umgebaut«, sagte Alexa, während sie Seite an Seite mit ihrem Vater ins Haus stiefelte.

»Ja, er hat es mir mal gezeigt, als ich zufällig vorbeikam. Ein offener und herzlicher Mann. Er hört übrigens gerne, wenn ich alte Geschichten über das Dorf erzähle.«

»Wahrscheinlich ist er der einzige, der die Geschichten noch nicht kennt«, sagte Alexa ironisch.

»Meine Geschichten sind auch beim dritten Erzählen noch gut«, frotzelte ihr Vater zurück. »Ich gebe ihnen jedes Mal ein anderes Ende.«

»Laßt uns auf den Balkon setzen«, sagte Alexa, als wir im Haus angekommen waren. »Die Sonne scheint noch ein bißchen. Wo ist Mama überhaupt?«

Alexas Mutter war beim Friseur, am nächsten Tag wollte sie zu einer Silberhochzeit, da mußte sie gut aussehen.

»Erzähl uns auch mal Geschichten aus dem Dorf!«, bat Alexa, als wir uns in den Stühlen auf dem Balkon niedergelassen hatten.

»Am besten etwas über den Hof Schulte-Vielhaber«, schlug ich vor. »Wie hat’s denn bei denen im Krieg ausgesehen?«

»Soviel ich weiß, hat’s bei Schulte-Vielhabers immer ganz gut ausgesehen. Und im Krieg ging’s den Bauern bekanntlich sowieso besser als den meisten anderen.«

»Wir haben gehört, daß sich der alte Bauer schon zu Beginn des Krieges als Soldat hat einziehen lassen, so daß Franz den Hof frühzeitig übernehmen mußte. Hat es zu der Zeit Zwangsarbeiter gegeben, die auf dem Hof helfen mußten? Speziell aus dem Osten?«

»Zwangsarbeiter? Aus Rußland oder Polen?« Herr Schnittler legte seine Stirn gewaltig in Falten. »Nicht daß ich wüßte. Ein Knecht war da. Wie hieß der noch gleich? Na, der Name fällt mir nicht mehr ein, aber aus dem Osten war der nicht, soviel ist sicher. Und dann natürlich die beiden Jungs, Franz und Paul. Nee, Zwangsarbeiter sind da nicht gewesen, da bin ich ziemlich sicher.«

»Aber daß nach dem Krieg eine ehemalige Fremdarbeiterin auf dem Hof zu arbeiten begonnen hat, das weißt du doch?« Alexa sah ihren Vater genau an.

»Ich vermute, du willst auf die Sache mit dieser Magd hinaus«, Herr Schnittler sah seine Tochter mit gerunzelter Stirn an. »Vor Ewigkeiten gab es das Gerücht, das gebe ich zu, aber ich habe nie geglaubt, daß da was dran ist. Ich bin um einiges jünger als Franz Schulte-Vielhaber. Die Geschichte damals habe ich mitgekriegt, als ich noch ein halber Junge war.«

Alexa ließ die Sache auf sich beruhen und lehnte sich zurück. Es schien tatsächlich so zu sein, daß weite Teile des Dorfes von der Vergewaltigungsgeschichte nichts Rechtes mitbekommen hatten. Die Sache war ganz offensichtlich totgeschwiegen worden.

»Um nochmal auf den Krieg zurückzukommen«, knüpfte ich wieder an. »Die Söhne haben den Hof also ganz gut herübergebracht?«

»Das kann man wohl sagen. Der Hof hatte ja schon immer eine gewaltige Größe, und durch den Schwarzmarkthandel nach dem Krieg werden die Schulte-Vielhabers wohl nicht ärmer geworden sein.«

»Haben sie viel gehandelt?«, wollte Alexa wissen.

»Wer viel hat, kann viel abgeben«, sagte ihr Vater lapidar. »Der Paul hat mal in der Schule erzählt mit ihrer Bettwäsche könnten sie alle Äcker abdecken. Einige Bauern haben damals wirklich alles genommen. Teppiche, Wäsche, Möbel und vor allem Schmuck. Es würde mich nicht wundern, wenn Schulte-Vielhaber mehr in seinen Schatullen hätte als die Königin von England.«

»Aber hier auf dem Land hatten die Leute doch meist selbst noch ein paar Tiere, auch wenn sie Handwerker waren«, gab Alexa zu bedenken. »Ein Schwein, eine Kuh, drei Hühner, die meisten waren doch Selbstversorger, wenn auch arme.«

»Das stimmt, die meisten sind auch nach dem Krieg mehr schlecht als recht zurechtgekommen. Aber die Leute aus der Stadt, die waren wirklich arm dran. Und die kamen bis hierhin aufs Land, um tauschen zu können. Das halbe Ruhrgebiet wird im Krieg einmal hier gewesen sein, um etwas einzutauschen.«

»Gut, daß die Zeiten vorbei sind«, sagte Alexa und kuschelte sich in ihre Jacke.

»Gibt es für diese Geschichte eigentlich auch zwei Versionen«, fragte ich, »ich meine, haben Sie dafür ein gutes und ein trauriges Ende?«

»Nein, für den Krieg habe ich nur eine Version«, Alexas Vater lehnte sich ebenfalls in seinem Stuhl zurück. »Über den Krieg erzähle ich nichts als die Wahrheit.«