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»Wie ich dir gleiche, das soll man ja nicht glauben!«

»Alexa, das ist ja eine Überraschung! Warum hast du vorher nicht angerufen?«

»Damit du den ganzen Nachmittag wartest?«

»Du mußt Hunger haben. Ich selbst muß gleich weg, zum Treffen fürs Erntedankfest. Wir gehen vom Chor aus im Zug mit. Aber für den Papa hab ich gerade Abendbrot gemacht. Nur für den Fall, daß er in diesem Leben noch einmal unser Haus betritt.«

»Wo ist er denn? Spazieren?«

»Wo ist er wohl? In der Werkstatt natürlich. Er bastelt an einer Holzverkleidung fürs Erntedankfest und das schon den ganzen Nachmittag.«

»Na und, laß ihn doch!«

Seit Alexas Vater seine Schreinerei aufgegeben hatte und in den Ruhestand gegangen war, bastelte er trotzdem ständig in seiner alten Werkstatt herum. Es war seine Art, sich in seiner neuen Lebenssituation zurechtzufinden.

»Ich gehe mal hin und gucke, wann er fertig wird.«

Als Alexa die Werkstatt betrat, hörte sie weder emsiges Hämmern noch fleißiges Sägen. Sie sah auch ihren Vater nicht mit einem Pinsel die Wagenverkleidung bemalen. Sie sah lediglich zwei Männer auf Hockern sitzen, in der Hand eine Flasche Bier.

»Alexa, das ist aber eine Überraschung!« Immerhin, er freute sich.

Alexas Vater stand auf und nahm seine Tochter in den Arm. Simons Willi streckte eine Hand aus. »Immer noch die alte, Alexa.«

Wenn Alexas sich recht erinnerte, hatte sie Simons Willi vor etwa fünfzehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Es sollte sie wundern, wenn nicht bestürzen, wenn sie sich seitdem nicht verändert hätte.

»Seid ihr schon fertig mit der Arbeit?«

»Vor zehn Minuten fertig geworden, schau mal!«

Ihr Vater führte Alexa zur Werkbank, wo ein etwa drei Meter langes Brett lag. Die Farbe glänzte noch feucht. Alexa las die Inschrift auf dem Brett:

Die Milch schmeckt fad und macht nicht munter,

drum kippen wir ein Bierchen runter.

»Sehr originell«, konstatierte Alexa trocken. »Und so passend zum Erntedankfest.«

»Für den Inhalt bin ich nicht verantwortlich«, Alexas Vater wirkte etwas beleidigt. »Ich habe nur den Jungs vom Fußballclub versprochen, die Verkleidung fertigzumachen.«

»War auch gar nicht so gemeint«, entschuldigte Alexa sich. »Eigentlich find ich es ganz lustig. Hast du lange gebraucht?«

»Willi ist mir ein bißchen zur Hand gegangen. War keine große Sache.«

Wie zur Bestätigung hob Willi seine Bierflasche und prostete Vater und Tochter zu.

»Nebenbei haben wir noch ein bißchen über alte Zeiten gesprochen. Willi kennt viele Geschichten aus dem Dorf.«

Alexa kam plötzlich eine Idee. Auch Simons Willi würde ihr etwas über Franz Schulte-Vielhaber erzählen können. Wenn Alexa sich nicht täuschte, mußten die beiden ungefähr ein Jahrgang gewesen sein.

»Ich war eben im Dorf«, leitete Alexa ein. »Allerorten wird nur noch über den Tod des alten Schulte-Vielhaber gesprochen. «

»Wir haben das Thema auch schon draufgehabt«, sagte Alexas Vater nickend. »Es ist wirklich eine seltsame Geschichte.«

»Insgesamt scheint der Bauer ja nicht gerade ein beliebter Mensch gewesen zu sein«, sagte Alexa und gab sich den Anschein von Beiläufigkeit.

»Man kann über ihn sagen, was man will«, hob plötzlich Willi Simon an. »Er war ein fleißiger Kerl. Er hat den Hof immer in Schuß gehabt. Da kann man nichts gegen sagen.«

»Allerdings hat er auch immer das Geld gehabt zu renovieren«, warf Alexas Vater ein. »Und das zu Zeiten, als es anderen schon viel schlechter ging.«

»Er war einer von den Reichen«, stimmte Willi nickend zu. »Einer von den ganz Reichen. Von diesen Höfen gibt es in jedem Dorf nur ein oder zwei«, erklärte er in meine Richtung. »Die Kleinen sind alle eingegangen, aber die Großen, die halten länger durch.«

»Schulte-Vielhaber war immer schon ein großer Name hier«, erläuterte Herr Schnittler. »Ich will nicht wissen, wie viel Wald die haben.«

»Und im Krieg die Truhen voll gehabt«, fügte Willi hinzu. »Die sind schon durchgekommen.«

»Aber wie du eben schon sagtest«, warf Alexas Vater ein. »Sie haben auch immer hart gearbeitet. Sie sind keine von denen, die sich auf dem Geld ausgeruht haben. Wenn’s ums Renovieren ging, haben sie selbst am meisten geschuftet. Handwerker konnten bei denen nichts verdienen. Arbeiten können sie. Das ist bis heute so. Sieh dir doch den Elmar an. Das ist ein feiner Kerl.«

»Wenn er denn nicht den Alten erschlagen hat!« grummelte Willi und machte dabei eine fahrige Handbewegung, die wohl andeuten sollte, daß man nie wissen könne.

»Jetzt mach aber keinen Quatsch. Der Elmar hat damit nichts zu tun.« Es wunderte selbst Alexa, mit welcher Vehemenz ihr Vater Elmar verteidigte.

»Dann war’s vielleicht die Hannah!« Willi war offenbar in Fahrt gekommen.

»Jetzt bist du aber ganz übergeschnappt.« Alexas Vater entrüstete sich. »Die Hannah doch nicht.«

»Weißt du, was die unter dem Kerl zu leiden hatte? Und die Geschichte ging doch immer weiter. Jetzt machte er auch dem Jungen das Leben schwer.«

»Du spinnst ja – die Hannah«, sagte Alexas Vater bloß.

»Du bist jünger, du hast es ja nicht mitgekriegt, wie der hinter den Weibern her war.«

Alexa registrierte mit Interesse, daß Willi beinahe dieselbe Wortwahl hatte wie Ursel Sauer. Nur, daß Willi es mehr mit »Weibern« als mit Frauen hatte.

»Es war schon ein Wunder, wenn er nicht der Hannah auch mal auf den Leib gerückt wäre. Zumindest, als der Paule tot war.«

»Die Hannah hätte sich das nie gefallen lassen. Wehren konnte die sich. Und zur Not wär sie weggegangen.« Alexas Vater wurde das ganze Gespräch zu viel.

»Man weiß es nicht. Später ist er ja ruhiger geworden, aber in jungen Jahren – eine Katastrophe war das.«

»Wann ist er denn ruhiger geworden?« Alexa versuchte sich möglichst unauffällig in das Gespräch einzuschalten, nicht so, daß es den Männern peinlich wurde.

Willi schnaubte, bevor er antwortete. »Na, als er älter wurde eben.« Dann kratzte er sich am Kopf. »Aber einen ersten Dämpfer hat man schon gemerkt, als das mit der Magd passiert ist.«

»Mit der Magd?«

»Jetzt laß doch die alten Kamellen, das muß doch über fünfzig Jahre her sein.« Alexas Vater wurde die Situation immer unangenehmer.

»Vielleicht ist es aber heute noch wichtig«, warf Alexa ein. Sie kannte ihren Vater. Er war ein Dorfmensch. Einer, dem am harmonischen Miteinander im Ort sehr viel gelegen war. Allein die Mordgeschichte mußte ihn unglaublich erschüttert haben. Daß jetzt noch unschöne Geschichten aus der Vergangenheit aufgetischt wurden, das war zu viel.

»Wie war das denn jetzt mit der Magd?« bohrte Alexa trotzdem weiter.

»So genau weiß ich das auch nicht mehr. Ist wirklich schon ziemlich lange her.« Willi war auf dem Rückzug, ganz eindeutig.

»Es würde mich sehr interessieren, wirklich!«

»Nachher sagt man was Falsches, und dann hat man den Salat«, brummte Willi und nahm den letzten Schluck aus seiner Bierflasche. »Es gibt Leute, die das viel besser wissen als ich.«

»Wer zum Beispiel? Wer?« Alexa hatte das Gefühl, ganz nah dran zu sein an einer Spur. Sie wollte jetzt nicht nachgeben, auf gar keinen Fall.

»Der alte Pastor bestimmt«, sagte Willi nach kurzem Nachdenken. »Der Rohberg, der hat sich damals um die Magd gekümmert.«

»Und der lebt noch?«

»Der lebt noch«, sagte Willi voller Überzeugung. »Sonst hätten wir was davon gehört bestimmt. Der ist doch im Altenstift für Priester, nicht Hans, da in Bad Driburg ist der doch, woll?«

»Keine Ahnung, wo der ist«, sagte Alexas Vater mißmutig. »Woher soll ich denn das wissen? Auf jeden Fall hab ich jetzt Hunger.«