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Der Anpfiff war nicht von schlechten Eltern. Christoph Steinschulte hatte von Stümperei gesprochen, von vorwitzigem Verhalten und überhaupt. Er gab an, selbst mit Lutz Demmert gesprochen und sein Alibi überprüft zu haben. Es war bombenfest.
Zerknirscht hatte ich mich dann an den Schreibtisch gesetzt und eine Klassenarbeit für den nächsten Tag aufgesetzt. Natürlich hatte ich mich sehr schlecht konzentrieren können. Die Müdigkeit überfiel mich erneut, außerdem rauschten verschiedenste Bilder durch meinen Kopf. Das blutige Gesicht von Franz Schulte-Vielhaber stand in fast überdeutlicher Klarheit vor meinen Augen, und alle, die mit ihm zu tun gehabt hatten, schwebten körperlos um ihn herum. Elmar und Frank, Hannah und Lutz, Ursel Sauer, deren Geheimnis wir noch immer nicht nachgegangen waren. Maria Scholenski, die ich mir als eine kleine gebrechliche Frau vorstellte, die fortwährend Polnisch sprach.
»Der Mord hat etwas mit der Person von Franz Schulte-Vielhaber zu tun«, so hatte Christoph Steinschulte gemeint. Das sagte sich so leicht. Der Bauer war ein alter Mann gewesen. Wie viele Menschen hatte er in seinem Leben gekränkt, verletzt, betrogen? War das heute überhaupt noch nachvollziehbar? Es fehlte das Packende, an dem man diesen Fall hochklemmen konnte, wie einen festsitzenden Deckel auf einem Farbeimer.
Ich mußte an Alexa denken, und eine furchtbare Trauer überkam mich. Noch immer hatte sie nicht angerufen, um etwas zurückzunehmen, zu beschwichtigen, neu anzufangen. Was sie gesagt hatte, galt. Galt gestern, galt heute, galt morgen. Heute war Dienstag. Mich überkam beinah eine Übelkeit. Heute würde ich Angie Bescheid sagen müssen. Spätestens heute Abend. Ich hatte noch mit keinem Menschen vernünftig über das Angebot gesprochen. Noch nicht einmal mit mir selbst.
Meine Gedanken wurden vom Telefonklingeln übertönt. Ich überlegte, ob es noch einmal Christoph Steinschulte sein könnte. Vielleicht hatte er bei seiner Anraunzerei einen Aspekt vergessen und wollte diesen jetzt nachliefern. Vielleicht war es aber auch Alexa. Meine Stimme muß voller Erwartung geklungen haben. Leider war nur Elmar am Apparat. »Ich hab da was«, sagte er, nachdem er sich mit Namen gemeldet hatte. »Ich habe eben in den Sachen meines Onkels herumgestöbert. Ich meine jetzt nicht die aus seinem Zimmer. Die hat ja die Polizei längst durchgesehen. Nein, wir haben da einen Vorraum zum Schweinestall, wo in Ordnern Lieferscheine abgeheftet werden und so.«
»Und was hast du da gefunden?« Wann kam Elmar endlich auf den Punkt?
»In dem Raum ist auch ein Verschlag mit Kleidung von Onkel Franz. Gummistiefel, ein alter Pullover und so. Ich wollte die Ecke endlich mal ausmisten und da habe ich hinter ein paar Brettern eine Kiste entdeckt.«
»Eine Kiste, aha. Und was war drin?«
»Schmuck!«
»Schmuck?«
»Zwei Kästen voll Schmuck. Ketten, Armbänder, Ringe. Ich kenne mich nicht besonders gut aus, aber ich glaube –«
»Er ist echt?«
»Genau, das glaube ich. Ich fand’s ziemlich komisch, daß die Sachen in der alten Kiste liegen. Da dachte ich, das könnte interessant sein, zumal meine Mutter davon, glaube ich, nichts weiß.«
»Hast du sie nicht gefragt?«
»Ehrlich gesagt, nein. Sie ist heute in so einer seltsamen Stimmung. Ich wollte erstmal mit dir oder Alexa reden, auf den Steinschulte hatte ich auch keinen Bock.«
»Hat Frank was mitgekriegt?«
»Frank? Der ist schon gestern wieder abgezwitschert. Als er von der Hausdurchsuchung gehört hat, hat er seine Sachen gepackt und ist gefahren. Ich glaube, er hatte Angst, daß man seine eigene Wohnung auch noch auf den Kopf stellen würde.«
»Gut, Elmar. Es ist nett, daß du mich ins Vertrauen gezogen hast. Wenn es dir nichts ausmacht, komme ich noch mal zu euch. Einverstanden?«
»Klar! Was soll ich denn jetzt mit dem Schmuck machen?«
»Laß ihn liegen! Faß nichts mehr an! Laß alles, wie es ist! Bis gleich!«
Nachdem ich aufgelegt hatte, überlegte ich einen Moment lang, Christoph Steinschulte anzurufen. Verständlicherweise war ich nach seinem Anpfiff nicht gerade scharf auf ein weiteres Gespräch. Ich beschloß daher, ihm lieber ein ungestörtes Abendessen zu gönnen.
Alexa war ziemlich aufgeregt. Vor allem, weil sie ihr Wissen mit niemandem teilen konnte. Sie wurde fast zerrissen von dem Drang, bei Vincent anzurufen. Schließlich hatte der von Anfang an diese Spur im Auge gehabt. Und jetzt dieser Anruf von Maria Koslowski. Alexa war völlig ratlos. Steinschulte würde sie auf keinen Fall anrufen, aber Vincent? Vielleicht war ja alles nur ein riesiges Mißverständnis. Vielleicht ließ sich diese Sache mit der gut aussehenden Frau in der Pizzeria mit einem Satz ausräumen. Alexa gab sich einen Stoß. Sie war kein kleines Mädchen mehr. Sie konnte solche Dinge ausdiskutieren. Kein Problem. Als sie die Tasten an ihrem Telefon drückte, zitterten ein wenig ihre Hände. Sie hörte es zweimal tuten, dann kam Vincents Stimme auf dem Anrufbeantworter. Alexa legte auf und fühlte den dicken, klebrigen Kloß, der ihren Hals versperrte. Für den zweiten Anruf nahm sie sich viel weniger Zeit. Flugs tippte sie die Kölner Vorwahl ein, warf einen Blick auf die Uhr und entschied sich dann, es bei Robert zu Hause zu versuchen. Es war schließlich nach fünf, eine Zeit, zu der Robert sich gewöhnlich nicht mehr an der Uni aufhielt. Robert war Assistent für Alte Geschichte und schrieb gerade wie wild an seiner Habilitationsschrift. Am wichtigsten aber war: Robert war Vincents bester Freund. Und Alexa verspürte ein überaus dringendes Gefühl, mit Robert zu sprechen. Gott sei Dank meldete er sich bereits nach dem ersten Klingeln. Er schien erfreut, Alexas Stimme zu hören.
»Mensch, ihr habt euch ja ewig nicht mehr gemeldet. Was ist los bei euch?«
»Es gibt da ein Problem«, begann Alexa zaghaft. »Um genau zu sein, gibt es gleich mehrere Probleme.«
»Du redest von Vincents Angebot, nach Köln zu gehen, hab ich nicht recht?«
Alexa erstarrte.
»Alexa, wäre es so schlimm für dich, deine Stelle zu wechseln? Ich hätte euch so gerne beide hier in Sichtweite des Doms. Könntest du dir das nicht vorstellen? Gut, ich gebe zu, du müßtest dich von sauerländischen Rindviechern verabschieden und hättest in Zukunft mehr mit neurotischen Großstadt-Pinschern zu tun. Doch dafür hättest du das Glück, in der schönsten Stadt der Welt zu wohnen, nahe bei einem guten Freund wie mir, und bräuchtest nicht –«
»Robert?«
»Alexa, was ist los?«
»Mir ist nicht gut. Nimm’s mir nicht übel. Ich meld mich ein andermal wieder.«