9.
Den Rest der Nacht schlief er nicht gut, und ziemlich müde schlich er früher als sonst über den Strand in den Ort und musste dann nach warten, bis Ohana endlich kam und ihr Geschäft aufschloss.
"Du siehst nicht gut aus", murmelte sie, und es klang sogar echt mitfühlend.
"Nein, ich habe sehr schlecht geschlafen", räumte er ein.
"Und was kann ich für dich tun?"
"Ich brauche einen festen starken Riegel für meine Haustür. Und ein gutes Schloss."
Sie kramte ein paar Minuten in einem Hinterzimmer und brachte dann, was er wünschte.
"War Axel bei dir?"
"Ja. Wir haben uns sehr nett unterhalten, ohne Zank und ohne Ärger."
"Verrätst du mir, was er von dir wollte?"
Marholt sah sie scharf an: "Er wollte wissen, ob ich eine Deborah MacGregor kenne."
"Und wieso das?"
"Ich würde doch eine Oriana MacGregor kennen."
"Ach, diese Kisten hat er also aufgemacht! Hat er dir auch erzählt, dass er im Auftrage eines Mannes eine Deborah MacGregor sucht?"
"Ja, hat er. Weißt du, was das soll?"
"Nein. Aber er ist nicht der erste Typ, der mir deswegen auf die Pelle rückt."
"Hat er dir denn verraten, warum er diese Deborah MacGregor sucht?"
"Er hat eine Menge erzählt, aber ehrlich gesagt, ich habe es nicht immer verstanden. Das Dumme ist, dass ich tatsächlich eine Schwester habe, die Deborah heißt."
"Deborah MacGregor?"
"Ja. Debby ist gelähmt, und nachdem sie in Deutschland aus einer Klinik abgehauen war, habe ich meinen Vornamen in Ohana verändert und bin hier auf Dauer untergekrochen in der Hoffnung, dass mich hier keiner findet. Was leider getrogen hat. Die sind hinter mir respektive meiner hilflosen Schwester her."
"Wer sind die und was wollen 'die' denn von euch?"
"Geld, Schmuck, Uhren, Gold, Platin und ungeschliffene Edelsteine. Im Wert von mehreren Millionen Euro."
"Und wie sollt ihr daran gekommen sein?" Marholt war weit davon entfernt, Ohana alles zu glauben, aber er hatte gelernt, dass auch Lügen viel über Wünsche und Vorstellungen verraten konnten. Manchmal sogar mehr als langatmige wahre Geschichten mit gezielten Lücken.
"Das ist eine mehr als komplizierte Geschichte. Die erzähle ich dir ein anderes Mal, ja, Pedro? Da kommen Kunden, und ich muss mit diesem Laden tatsächlich Geld verdienen."
Die vier alten Schachteln, unverkennbar Britinnen mit waghalsig gefärbten Haaren, kamen Ohana gerade recht. Er legte sein Geld auf den Tisch und verzog sich.
Heute schrieb er vormittags nicht, sondern montierte seinen Riegel nach allen Regeln der Kunst. Wer ihn und das massive Vorhängeschloss aufsprengen wollte, brauchte wenigstens ein Stemmeisen oder einen Bolzenschneider, und damit liefen nur wenige in Laredo de la boca herum. Auch den täglichen Imbiss schenkte er sich, kletterte zum Strand hinunter, nahm Karin Demus mit, die sich freute, als er ihr erklärte, dass er sie in den Ort in eine Bar entführen wolle.
"So früh am Tag schon Alkohol?", erkundigte sie sich tadelnd.
"Wie kommen Sie denn darauf?"
"Sie wollen doch in eine Bar."
"Um etwas zu essen." Er musste laut lachen und erteilte dann auf dem Marsch durch die engen und schattigen Gassen des Ortskerns Nachhilfeunterricht, zeigte ihr, wie sie ein Lokal erkennen konnte, in denen Frauen weniger erwünscht waren, und wo man was zu essen bekam. Als sie Durst verspürte, lud er sie zu einem Milchkaffee ein, spendierte ein bocadillo con jamon und paukte mit ihr Zahlen, schloss einen kleinen Lehrgang an, wieviel Trinkgeld man wann gab und auf welche Anmache-Tricks eine Ausländerin nicht hereinfallen sollte. Sie sah ihn mit immer größeren Augen an, als eröffne er ihr eine neue, eine ganz andere Welt. War sie in ihrer Ehe und vor ihrer Krankheit nie gereist? Nie in Urlaub gefahren? Sie schien seine Verwunderung zu spüren und sagte unvermittelt leise: "Bis er mich verließ, bin ich immer mit meinem Mann verreist. Er hat immer alles geregelt."
Weil sie gleich danach demonstrativ an ihm vorbeiblickte, antwortete er nicht. Als sie aufbrachen, begegnete ihnen am Eingang der Bar ein Mann, um die vierzig Jahre alt, mit einem auffälligen dichten, schwarzen Kinnbart und einer großen, sehr dunklen Sonnenbrille. "Was machst du denn hier?", fragte sie ihn erstaunt und hörbar nicht erfreut.
"Urlaub, was sonst? Und du?"
"Auch Urlaub."
"Wie schön."
"Ohne dich wäre es hier schöner", fauchte sie, und Schwarzbart lacht hämisch.
"Ein Bekannter?", fragte Marholt neugierig, als sie Richtung Strand zurückgingen.
"Leider ja", knurrte sie. "Sehen wir uns heute Abend im Granada?"
"Nein, tut mir leid, ich muss nach Malaga zum Flughafen, jemanden abholen."
"Schade. Dann vielen Dank für die Unterrichtsstunde und die Einladung."
Er fuhr so rechtzeitig los, dass er am Flughafen Zeit fand, in Monikas Büro eine längere Mail an Brigitte Landau zu tippen.
"Liebe Gitte, mir geht es gut, ich erhole mich, das Buch macht Fortschritte, aber um mich herum passieren einige merkwürdige Dinge, so dass ich Dich bitten möchte, für mich etwas zu recherchieren und an diese Adresse zu mailen. Auf wen ist ein Auto mit dem Kennzeichen LEV-XX 9387 zugelassen? Kannst Du zu den Namen Oriana und Deborah MacGregor (Schwestern!) etwas herausfinden? Wer sind und was treiben Axel Kunz, Vanessa Niegel und Kurt Leuscha in Deutschland oder hier? Sabines Maschine landet gleich, ich muss aufhören, weil Monika ihr Büro besetzen möchte. Vielen Dank im Voraus und viele Grüße von Peter, hier voller Respekt Don Pedro genannt."
Sabine schwitzte vor Müdigkeit. "Einen so schlimmen Flug habe ich noch nie gehabt", stöhnte sie zur Begrüßung. "Nur Verrückte an Bord und Jugendliche aus dem Erziehungsheim. Das ist die letzte Saison für mich."
"Hat du denn schon was gefunden?", fragte Monika mitleidig.
"Vielleicht. Am Tegernsee, in einem kleines Hotel. Der Eigentümer hat seinen Gesundheitscheck nicht mehr bestanden und seine CPL verloren. Zumindest verstehen wir uns bei Katzen." Cats, die unschönen Clean Air Turbulences, wurden von den meisten Paxen Luftlöcher genannt, und selbst Ehefrauen verabschiedeten ihre fliegende Ehemänner gelegentlich mit "Beware of cats", wobei aber meist zweibeinige Katzen gemeint waren, die gefürchteten Schmuse- und Schnurr-Katzen. "Sie arbeitet in Fürstenfeldbruch auf dem Tower."
"Uniform oder zivil?", fragte Monika beeindruckt.
"Drei Sterne auf der Schulter."
Marholt wollte zeigen, dass er auch noch da war: "Also ein Problemfall?"
Der Witz hatte einen eisengrauen Bart. Wie redete man einen weiblichen Offizier im Range eines Hauptmannes korrekt an: "Frau Hauptmann? Frau Hauptfrau? Oder Herr Hauptfrau?"
Sabine Förster kam nicht mehr dazu zu antworten: Sie musste gähnen, dass es ihr die Mundwinkel zerreißen wollte, und auf der Fahrt von Malaga nach Laredo schlief sie ein. Er musste sie vor seinem Häuschen wachrütteln, und sie stolperte ins Haus, als wolle sie gleich ins Bett fallen. Was eine Viertelstunde später auch geschah, und er war für diese Nacht abgemeldet. Was ihm zwar nicht gefiel, ihn aber auch nicht erschütterte. Er kannte aus eigener Erfahrung diese Erschöpfungsphasen, wo man sich eben noch wach und aufrecht hielt; aber in der Sekunde, in der man wusste, dass man abschalten durfte, rissen die Fäden und die Marionette klappte in sich zusammen.
Bis Mitternacht setzte er sich auf die Bank vor seinem Haus und schaute auf das Meer hinunter. Um Mitternacht wurde ihm kühl, er ging ins Haus und kroch zu ihr unter das Leintuch. Sie drehte sich auf die Seite und murmelte nur: "Mañana."