23.
Am nächsten Vormittag fuhr er nach Mülheim zurück. Und diesmal wurde ihm um Köln herum der berüchtigte Stau zuteil, der seine Laune nachhaltig beeinträchtigte. Kurzentschlossen bog er später nach Düsseldorf ab und ließ ich vom Navi in die Uhlandstraße führen. Die nächste sicher erfolgreiche Erfindung für den Autofahrer wäre ein Parkplatz-Navi mit bevorzugter Darstellung der gebührenfreien Plätze. Im Haus Nummer 39 klingelte er auf gut Glück und die ältere Frau, die ihm öffnete, gab bereitwillig Auskunft. Nein, die Frau Demus war schon vor "langer Zeit" nach Kettwig verzogen, hatte ganz oben gewohnt, im vierter Stock, bis ...
"Ja, bis wann?"
"Sie musste doch ins Gefängnis."
Marholt starrte sie an. Daran hätte er denken sollen. "Was ist denn mit den Sachen aus ihrer Wohnung geschehen?"
"Die hat der Mann abholen lassen und irgendwo eingelagert. Aber das weiß ich nicht so genau. Fragen Sie doch mal die Frau Niegel, die ist in die Wohnung eingezogen, die kann Ihnen vielleicht helfen."
Mit einem seltsamen Gefühl im Magen stieg er in den letzten Stock hoch und klingelte mehrfach an der Wohnungstür. Drinnen klappte eine Zimmertür und eine Frau rief ärgerlich: "Ja, ja, ich komm' ja schon."
Dann wurde die Wohnungstür geöffnet und ihm fiel vor Erstaunen die Kinnlade herunter. Vor ihm stand, nur mit einem winzigen schwarzen Bikini bekleidet, Verena Niegel und schwenkte einen Arm, an der rechten Schulter behindert durch ein massives Metallgestell und einen riesigen Gipsverband, die ihren rechten Arm ruhig stellten.
"Ach nee, du!", sagte sie zur Begrüßung, über Marholt alles andere als erfreut.
"Wen hattest du erwartet? Leuscha?"
"Der ist zwar auch ein Saftarsch, aber mir immer noch lieber als du."
Marholt deutet fragend auf ihren Arm: "Der Stein in Laredo de la boca?"
"Ja."
"Ich glaube, ich weiß, wer ihn geworfen hat, aber das ist ein arbeitsloser Landarbeiter, bei dem ist, abgesehen von einem Motorrad, wenig zu holen."
"Was willst du?"
"Eigentlich möchte ich nur von dir hören, wie du in diese Wohnung gekommen bist."
"Ich habe im Moment nichts zu verschenken, weder Auskünfte noch Zeit. Und gleich kommt ein Kunde."
"Ein Perverser?", rutschte Marholt heraus.
"Willst du zuschauen? Das kostet aber."
"Nein, danke."
"Komm schon rein, ich stehe nicht so gern so lange. Aber jede Auskunft kostet."
"Einverstanden."
Sie grinste zufrieden. In dem kleinen Wohnraum hatte sie sich neben einem Sessel eine Art Gerüst aus Kisten und Getränkekästen zusammengeschoben, auf dem sie ihren Arm ablegte, sobald sie saß.
"Also?"
"Wann bist du hier eingezogen?"
"Sobald die Demus in U-Haft saß."
"Hat dich jemand aufgefordert oder gebeten, hier einzuziehen?"
"Ja."
"Und wer?"
"Der Name kostet fünfzig Euro."
Er holte den Schein heraus und sie grinste wieder. "Den darfst du mir tief in den BH schieben."
"Danke, darauf verzichte ich gerne."
"Achim van Borgh hat mich gebeten, hier einzuziehen, er wollte die Möbel und Karins Klamotten abholen lassen."
"Und was solltest du hier?"
"Nachsehen, ob Karin hier versteckt hatte, was man ihm aus dem Tresor gestohlen hatte."
"Dann kanntest du Borgh. Woher?"
"Noch mal fünfzig?"
Notgedrungen nickte er. Es gab halt Manuskripte, an denen man einfach nichts verdiente.
"Achim war nicht nur Kunde im Palais d'amour, sondern über einen Strohmann auch Miteigentümer."
"Fünfzig für den Namen des Miteigentümers?"
"Okay. Karl August Schimmel, genannt der Schwarze Hengst."
Marholts Brieftasche würde bald an Schwindsucht den Geist aufgeben.
"Und. Hast du gefunden, was Borgh hier suchte?"
"Nein, kein Stück."
"Wie passt dein Freund Kurt Leuscha in diese Geschichte?"
"Borgh hat ihn angeheuert, damit er nach Laredo fährt und Karin in die Mangel nimmt. Ich wurde als Kurts Freundin engagiert, damit er nicht so auffiel."
"Und woher kannte Borgh ihn?"
"Das weiß ich nicht. Ich glaube, Leuscha war ein harter Hausmeister und -Techniker im Bienenkorb."
"Bienenkorb?"
"So wurde ein Puff direkt neben der Bahn kurz vor dem Hauptbahnhof bezeichnet. Man konnte vom Zug aus in die Fenster schauen."
"Und der Bienenkorb gehörte ..."
"Zu einem Drittel Achim van Borgh, ja, das wolltest du doch hören."
"Nicht direkt, sondern über den Schwarzen Hengst."
"Richtig. Und jetzt musst du abhauen, ich kriege gleich Besuch." Einen Moment schaute sie nicht wie eine Nutte drein, sondern wie eine kranke Frau mit Schmerzen: "Mit dem Arm bin ich zu nichts mehr nutze, und deshalb darf ich zusehen, wie ich ohne Hilfe über die Runden komme."
"Eine letzte Frage noch: Was ist aus Uwe Lindner geworden?
"Er ist trotz der Operation in Madrid gestorben."
Auf der Treppe begegnete ihm eine auffällig hübsche junge Dame, die ihn neugierig musterte. Sie war höchstens zwanzig, sehr diskret gekleidet, was ihre attraktive Figur nur noch herausstrich. Weil es nach Vanessas Wohnung nicht weiter nach oben ging, blieb er einen Absatz tiefer stehen und lauschte. Die Schöne klingelte bei Vanessa Niegel, die sehr rasch öffnete.
"Hei, Vanessa."
"Hei Jessi."
"Störe ich?"
"Ehrlich gesagt, ja. Ich erwarte jeden Moment einen Kunden."
"Tut mir leid. Aber Achim hat gedrängt, dir das sofort zu bringen."
Achim? Marholt spitzte die Ohren – ein zugeklebter Briefumschlag wurde aufgerissen, Papier raschelte, dann sagte Vanessa halblaut: "Scheiße. Du kannst Achim bestellen, dass ich den Brief eine halbe Stunde zu spät gelesen habe. Der Scheißkerl war heute schon hier."
"Pech! Ich werd's ihm ausrichten."
Ob er mit "Scheißkerl" gemeint war? Marholt lief leise die Treppe hinunter und hatte sich gerade auf der Straße in einen Hauseingang verzogen, als die Hübsche aus dem Haus Nummer Nr. 39 trat und über die Straße auf ein dunkles Coupé zuging und sich hinter das Steuer setzte. Solche Chancen sollte man sich nicht entgehen lassen, er wendete halsbrecherisch über die Fahrbahn und hing sich hinter den dunklen BMW. Zum Glück fuhr die junge Dame sehr langsam und sehr vorsichtig. Die Reise ging Richtung Innenstadt, der Verkehr wurde dichter und er riskierte, näher aufzuschließen.
In der Schadowstraße bremste sie in der zweiten Reihe, ein älterer Mann warf sich auf den Beifahrersitz, beugte sich zu Jessi hinüber und küsste sie kurz. Nach dem ersten Hupen des Hintermannes fuhr sie los. Den Mann, der zugestiegen war, kannte Marholt: Das war Achim van Borgh gewesen. Eine weitere Verfolgung schenkte er sich, der Juwelier wohnte in Oberkassel, wie er von Borghs Visitenkarte wusste. Das Navi führte ihn auf, wie er fand, abenteuerlichen Wegen nach Mülheim in sein trautes, aber leeres Heim, in dem nur das Faxgerät gerade Geräusche produzierte. Meister Lönns hielt Wort und faxte ihm alles zu, was er an Unterlagen über Hakos Behindertenwagen besaß. Darunter befand sich auch das Übergangskennzeichen, mit dem Hako in Mannheim-Käfertal losgefahren war.
Brigitte Landau traute sich zu herauszufinden, wo das vorläufige Kennzeichen gegen ein endgültiges ausgetauscht worden war, und wo der Wagenhalter jetzt lebte. "Wohnt da mein Bruder?"
"Möglich", sagte er vorsichtig.
"Wenn du hinfährst, nimmst du mich doch mit?!"
"Gitte, darüber müssen wir reden, wenn ich weiß, was uns dort erwartet."
"Versprochen?"
"Hundert pro!"
Karin Demus grummelte: "Ganz recht, ich habe wenig Interesse daran, diese Debby zu finden; mit der hat doch mein Unglück begonnen."
"Wirklich? Oder hat das nicht in dem Moment begonnen, als du einen älteren Mann geheiratet hast, den du nicht geliebt hast, aber dessen Geld dir und deinen Eltern gefallen hat?"
Sie fauchte nur etwas Unverständliches und knallte den Hörer hin. Da hatte er ja einen bemerkenswert großen Fettnapf erwischt.