14.
Am nächsten Morgen konnte er sich zum ersten Mal wieder ungestört an sein belletristisches Meisterwerk setzen. Vor dem Kapitel über Hakos Vater hatte er sich lange gedrückt. Konradin senior war nach allem, was Marholt so zusammengetragen hatte, wohl ein guter Arzt, aber kein angenehmer Zeitgenosse gewesen, ein Rechthaber an den Grenzen zum Fanatismus und Querulantentum. Sein Aufsatz in der Tremonia über das Kollegium seines und dann seines Sohnes Gymnasiums von 1935 bis 1955 diente nicht nur der wissenschaftlichen Aufarbeitung eines dunklen Kapitels, sondern verriet Häme, Hass und Rachsucht.
Andererseits hatte nie ein Mitschüler bezweifelt, dass Hako ohne diesen Aufsatz seines Vaters zum Abitur zugelassen worden wäre, er war kein hervorragender, eher ein mittelmäßiger Schüler, aber andere, weit schlechtere, hatten es problemlos bis zum Abi geschafft. Das Kollegium gegen Ende des vorigen Jahrhunderts "bewies" auf fatale Art, dass die Vorwürfe gegen ihre Vorgänger berechtigt waren. Warum Hans und Eberhard Konradin das hingenommen hatten, konnte sich keiner erklären.
Marholt hatte für den Aufsatz zwei Erklärungen von Zeit- und Berufsgenossen Eberhards gehört. Der eine reduzierte die Motive auf persönliche Kränkung. Im Jahr 1938 war nicht Eberhard Konradin die Leitung des Kinderkrankenhauses Toglerbarg übertragen worden, sondern einem jüngeren Kollegen mit weniger Erfahrung und schlechterer Qualifikation, aber mit dem Goldenen Parteiabzeichen. Gegen diesen Kollegen wurden unmittelbar nach Kriegsende schwere Vorwürfe erhoben, er hatte im Rahmen der Tötung der sogenannten Reichsausschusskinder massiv Dreck am Stecken, aber ein Verfahren gegen ihn kam nicht zustande, er verlor nicht einmal seinen Job, weil er mit einem Päckchen "Persilscheine" seine "Unschuld bewies". Konradin senior musste seinen Job dagegen aufgeben und hatte große Mühe, sich als niedergelassener Kinderarzt durchzuschlagen. Als dann am Gymnasium seines Sohnes ein Unbelehrbarer auftauchte und im Biologieunterricht Euthanasieprogramme verteidigte (Volksgesundheit in Zeiten sozialer Not und wirtschaftlicher Enge), begann Eberhard Konradin einen privaten Feldzug, der in dem Tremonia-Aufsatz gipfelte; der Amateurhistoriker hatte so gründlich gearbeitet, dass keine der gegen ihn angestrengten Klagen vor Gericht Erfolg hatte.
Nach dem ersten holprigen Absatz, den er nicht gleich wieder löschte, erschien Karin, um ihn zum Einkauf abzuholen, und er speicherte erleichtert ab. Es lief gar nicht flott, geschweige denn gut.
Bei Paco hörte er, dass sich heute Morgen zwei Männer den Weg den Abgang hinunter und die letzten Stufen angesehen hätten. Also wurde es höchste Zeit, sich mit den Nachbarn zu verabreden und den Abstieg samt Stufen in Ordnung zu bringen. Zum Schluss kam noch Ohana herein, winkte Karin zu, flüsterte mit ihr und beglückte dann ihn mit der Nachricht. "Ich habe zwei Flaschen von dem guten Weißen besorgt. Heute Abend sind wir bei dir."
Sie kamen gegen neun, Ohana mit einem Beutel und zwei Flaschen von dem "Guten Weißen", Karin mit leeren Händen und einer bedrückten Miene. Ohana eröffnete das Gespräch mit einer merkwürdigen Frage: "Hat du dich eigentlich auch schon mal im Hinterland umgesehen?"
Mit Rücksicht auf Karin Demus sprach sie Englisch.
"Ja, habe ich, warum fragst du?"
"Hat du mal gesehen, wie die Männer auf den Weiden das Vieh dirigieren?"
Das hatte er. Viele vermieden es, den Kühen und den Rieseneseln nahe zu kommen. Stiere wurden grundsätzlich auf abgesperrten Flächen gehalten, die kein Fremder betreten durfte. Statt einen Stock zu benutzen, warfen die Männer Steine. Große und kleine, mit viel und wenig Wucht, immer ausgesprochen treffsicher. Marholt nickte. "Das habe ich mir schon gedacht. Und gleich hinterher ist ein Motorrad weggefahren."
"Miguel besitzt ein Motorrad und war heute Morgen in der Nähe von Pacos Bar." Marholt kannte diese kurzschlüssige Beweisführung aus vielen Gesprächen an der Bar über alle möglichen Themen und schüttelte deshalb nur ablehnend den Kopf.
Gegen Ende der ersten Flasche des guten Weißen kam Ohana endlich zur Sache. "Meine Schwester Debby hatte mich gebeten, nach Düsseldorf zu kommen, es gäbe ein Problem. Aber als ich endlich kam, lag sie schon im Krankenhaus und das 'Problem' hatte sich wenig später erledigt."
"Welches Problem hatte sich erledigt?"
"Sie hatte nach der Schießerei in der Villa van Borgh das Kind verloren, das sie erwartete. Ich war, ehrlich gesagt, ziemlich entsetzt."
"Über was?", fragte Karin Demus scharf.
"Dass Debby schwanger gewesen war."
"Das kommt bei Frauen manchmal vor", bemerkte Karin spöttisch, und Marholt wunderte sich über ihren Ton. Offenbar herrschte zwischen den beiden Frauen doch nicht die reine Harmonie.
"Debby war strenggläubig. Sie hatte sogar überlegt, ins Kloster zu gehen. Mit einem verheirateten Mann zu schlafen, ohne Ehe und den Segen der Kirche – das hätte ich von Debby nie geglaubt."
"Und dann noch mit einem protestantischen Ausländer", stichelte Karin.
Auf diese deutliche Provokation ging Ohana nicht ein.
"Debby hat mir geschworen, dass sie nie etwas mit ihrem Chef, diesem Achim, gehabt habe. Nie. Sie hat es bei allen Heiligen geschworen."
"Und du hast ihr geglaubt?" Karin schüttelte ob solcher Naivität den Kopf. "Von wem sollte denn das Kind sonst sein?"
Ohana schaute Karin grimmig an: "Debby hatte einen deutschen Verehrer. Einen jungen Mann, ungefähr so alt wie sie. Sie hat immer geglaubt, er sei noch Schüler. Jeden Nachmittag trieb er sich um die Villa herum, um sie zu sehen, und wenn sie dann mal zur katholischen Gemeinde ging, wo sich viele junge Leute aus Irland und Schottland trafen, war er auch schon dort und wartete auf sie. Er muss sehr treu und hartnäckig gewesen sein, Debby hat sich in ihn verliebt und eines Tages ist es dann passiert."
"Das kann man, muss man aber nicht glauben", höhnte Karin auf Deutsch, und seltsamerweise schien Ohana diesen Satz genau zu verstehen. "Warum sollte Debby mich anlügen. Oder ich jetzt dich? Debby hatte ihr Kind verloren, sie lag allein im Krankenhaus und wusste, dass sie gelähmt war. Sie brauchte jede Hilfe, die sie kriegen konnte, auch die von ihrer Schwester."
Karin zuckte die Achseln, und Marholt griff ein, bevor seine Gäste sich in die Haare gerieten. "Weißt du, wer dieser Verehrer und Vater von Debbys Kind war?"
"Nein, sie hat ihn immer nur Hans genannt oder manchmal auch the poor Jack of Naples."
"Das verstehe ich nicht", sagte Karin kurz.
Ohana schnaufte aufgebracht. "Sie hat nie einen Familiennamen genannt, ich weiß nicht einmal, ob sie den überhaupt kannte."
"Aber geschlafen hat sie mit ihm, mit dem poor Jack of Naples. Oder vielleicht doch mit meinem Mann?"
"Den habe ich einmal im Krankenhaus getroffen, als er Debby besuchte. Er hat mir geschworen, dass er meine Schwester nie angefasst habe. Geliebt, verehrt, vergöttert, angebetet ja, aber nie sexuell berührt."
"Vor Gericht hat Achim behauptet, er habe alle Krankenhauskosten für Debby übernommen."
"Ja, und auch alle anderen Kliniken bezahlt, das hat Debby mir bestätigt."
Karin holte tief Luft: "Ohana, ich habe nie erlebt, dass Achim etwas gegeben oder getan hat, ohne eine Gegenleistung zu verlangen."
"Gut möglich, und weil er das Prinzip auch auf dich angewendet hat, war er ja bereit, dich zu verlassen."
"Stopp!", unterbrach Marholt energisch. "Wenn ihr euch zanken wollt, geht vor die Tür und lasst mich mit dem guten Weißen allein."
Einen Moment sah es so aus, als wollten sie seinem Vorschlag folgen, dann sagte Ohana müde: "Das wäre sinnlos. Das war es, was ich dir sagen wollte, Karin: Dein Mann hat dich nicht mit Debby betrogen. Vielleicht mit anderen Frauen, aber nicht mit meiner Schwester."
"Und das soll ich glauben?"
"Lass es, wenn du dich dann besser fühlst. So, und jetzt möchte ich gerne gehen."
Sie brachen fünf Minuten später auf. Marholt bestand darauf, Ohana nach Hause zu bringen. Vorher lieferten sie Karin bei Paco ab, und auf der Sirina-Brücke blieben sie stehen, lehnten sich an die Brüstung und bewunderten das stille Meer.
"Ohana, bekomme ich noch Antwort auf zwei, drei Fragen?"
"Das hängt davon ab."
"Wie alt ist Debby und wo lebt sie heute?"
Sie musste einen Moment rechnen. "Debby ist 31, und wo sie lebt, weiß ich nicht. Ich bin mit ihr damals von Klinik zu Klinik gezogen, wir waren in Berlin, in der Charité, in München, in Heidelberg-Schlierbach. Debby hat hunderte von Untersuchungen über sich ergehen lassen. Achim hat zigtausende bezahlt ... doch, doch! Aber kein Arzt konnte ihr helfen, keiner hat ihr Hoffnung gemacht. Und aus Schlierbach ist sie dann spurlos verschwunden."
"Was heißt das?"
"Eines Tages war sie nicht mehr in ihrem Zimmer, als ich vormittags kam. Man hat sie überall gesucht, in Heidelberg, in den Wäldern, im Neckar. Aber Debby ist nicht wieder aufgetaucht, nicht lebend und nicht als Leiche. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt und wenn ja, wo. Sie wäre heute 31 Jahre alt. Noch eine Frage?"
"Ja. Wenn sie gelähmt ist, hat sie doch Hilfe gebraucht, um aus der Klinik zu verschwinden. Hast du eine Ahnung, wer da mitgewirkt hat?"
"Nicht die geringste. Noch eine Frage?"
"Hast du ein Foto von deiner Schwester? Es sollte möglichst spät aufgenommen sein."
"Ich habe sie im Krankenhaus fotografiert. Da hing sie aber noch an Schläuchen und so."
"Das macht gar nichts, Hauptsache, man kann ihr Gesicht deutlich erkennen."
"Doch ja, das kann man, wenn du mitkommst, kann ich es dir gleich geben."
"Wie alt war Debby bei dem Foto?"
"Moment – 17 oder gerade achtzehn."
"Danke, das war's auch schon."
"Dann komm. Lass uns weitergehen."
Ohana kramte eine ganze Weile in einer Schublade und zog dann mit einem leisen Triumphlaut ein Päckchen Fotos heraus, blätterte und gab endlich Marholt zwei Aufnahmen. "Ich denke, auf denen kann man sie am besten erkennen." Ein, wie er fand, recht hübsches, aber nicht aufregend attraktives Mädchen, das eine gewisse, aber nicht auffällige Ähnlichkeit mit Ohana MacGregor hatte. Deborah MacGregor sah irgendwie brav und gehorsam aus. Dann überlegte er – nein "gehorsam" war der falsche Begriff, "gefügig" traf es besser. Doch Ohana gähnte so unverhohlen, dass er auf weitere Fragen verzichtete.
Zurück ging er ausnahmsweise über den Strand. Ein wagemutiger Meteorologe hatte für die nächsten Tage winzige Regenmengen angekündigt, aber im Moment war es noch warm und windstill, die Wellen plätscherten so diskret auf den Strand, dass er die leisen Stimmen schon aus größerer Entfernung vernahm. Und wenn der Mann und die Frau nicht Deutsch gesprochen hätten, wäre er einfach weitergegangen. Doch als er hörte, wie sie empört sagte: "Her mit den Mäusen, oder glaubst du, es macht mir Spaß, mich von dem Ferkel abtatschen zu lassen?"
Die Stimme kannte er, das war Vanessa Niegel.
Der Mann protestierte: "Aber du hast nichts herausgekriegt."
"Nein, und ich bin mir ziemlich sicher, er weiß auch nichts."
Auch den Sprecher hatte Marholt sofort erkannt, das war Axel Kunz, Ohanas blonder Verehrer. Die beiden standen offenbar ein ganzes Ende entfernt Richtung Wasser. Dorthin senkte sich der Strand, so dass er sie nicht sehen konnte; ihn würden sie nur erkennen, wenn sie sich zufällig umdrehten.
"Wie hast du eigentlich den Alten kennengelernt?", wollte Kunz wissen.
"Er kam gelegentlich ins Palais, als es das noch gab. Und du, wie bist du an den Alten geraten?"
"Er hat mich mal engagiert, um Geld einzutreiben." Offenbar hatte sie was gemurmelt; denn der Blonde fuhr schnell fort: "Nein, nicht auf die harte Tour. Die hat er, so viel ich weiß, nie benutzt."
"Hat diese blöde Demus eigentlich von seinen Nebengeschäften gewusst?"
"Das weiß ich nicht, aber ich glaube, nein."
"Das ist vielleicht ein Stockfisch."
"Kann sein. Aber mir hat Achim mal gestanden, er habe sie gerade deswegen geheiratet. Der Name Demus steht für Solidität und Ehrbarkeit." Dabei lachte er schadenfroh, und sie stimmte bald ein.
"Ganz anders als der Name Niegel, wie?"
Jetzt kicherte sie so laut wie ordinär. "Wem steht denn hier der Niegel? Soll ich mich ausziehen?"
"Ich bitte darum."
"Okay, das letzte Mal, ich fahre morgen."
"Aber wir sehen uns doch am Rhein wieder?"
"Wenn du magst."
Marholt bog ab, Richtung Straße, quälte sich den Hang hoch und lief dann über Straße und Brücke bis zu einem Häuschen. Heute hatte er viel erfahren, auch wenn ihm das wenig nutzte.