4.

Die Idee zu dem Buch war ihm vor zwei Jahren gekommen. Oder richtiger: Sie war ihm eingeredet worden. Nach dem Abitur und der feierlichen Verleihung der Zeugnisse hatte sich seine ehemalige Klasse nie wieder getroffen; die ehemals achtzehn Klassenkameraden waren kurz vor dem Abi aus nichtigen Gründen in zwei Fraktionen zerfallen, die nicht gut miteinander konnten, so dass keiner großen Wert darauf legte, mit den anderen Kontakt zu halten. Doch dann raffte sich Heiner Friese auf und organisierte eine Zusammenkunft, 20 Jahre danach. Von den achtzehn Ehemaligen waren dreizehn gekommen, einer hatte in der Zwischenzeit Selbstmord begangen, zwei waren nicht aufzufinden, und zwei erklärten brieflich, sie hätten noch jetzt die Schnauze voll von der verdammten Penne und verbäten sich jede weitere Belästigung oder Erinnerung an diese Zeit. Trotzdem wurde es ein gelungenes Treffen, die Schatten des letzten Jahres in der Oberstufe schienen vergessen. Bis das Bier die Dämme, die alle um ihre Vergangenheit errichtet hatten, fortspülte und die alten Wunden und Verletzungen freilegte. Besonders eine Frage hatte er nicht vergessen: 'Was war eigentlich mit Hako passiert?' Alle wussten noch genau, wie sehr sich Hans Konradin, Hako genannt, plötzlich verändert hatte, erst recht nach dem Artikel seines Vaters in den Tremonia, aber keiner hatte ihm helfen wollen, aus Gründen, die auch jetzt nicht so recht deutlich wurden oder immer noch nicht deutlich ausgesprochen wurden. Ein Gerücht wollte wissen, es habe etwas mit Heiner Frieses zwei Jahre jüngerer Schwester Sonja zu tun, die mit vielen Freunden ihres Bruders eng befreundet und mehr gewesen war, nicht nur mit Hako, sondern für kurze Zeit sehr intensiv auch mit Peter Marholt. Eines Tages war Hako weg, fort, verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, und noch 20 Jahre danach wiesen sich die alten Fraktionen gegenseitig Schuld zu, verdächtigten sich, äußerten die alten Sympathien und Antipathien. Zuerst staunend, dann betrübt, schließlich bedrückt hatte Marholt in einer Ecke gesessen und nur zugehört; damals, als Hako verschwand, war Marholt nicht gerade beliebt und nur mit zwei Mitschülern befreundet gewesen, aber er hätte nie geglaubt, dass sich um ihn herum so viel abgespielt hatte, an Beziehungen, Zwischenfällen, Freund- und Feindschaften, von dem er nichts erfahren und nichts bemerkt hatte. Was wohl auch, wie er sich heute dachte, auf Hako zugetroffen hatte. Und nicht alle hatten die damals erlittenen Verletzungen und Kränkungen überwunden. Doch weil sie älter und vielleicht sogar klüger geworden waren, konnten sie das Thema Hako auch wieder verlassen, die Runde wurde, anders als wohl vor 20 Jahren, dadurch nicht aufgesprengt, und am nächsten Morgen, beim Abschiedsschoppen im Alten Fährhaus, stellte sich neue Einigkeit ein: Daraus musste er – Peter Marholt – ein Fernsehstück machen. Oder ein Buch schreiben. Vielleicht einen Krimi, obwohl zu dem alles zu fehlen schien: kein Täter, keine Tat, kein Motiv. Wozu hatten sie einen in ihren Reihen, der vom Schreiben lebte? Hako und ihr Gymnasium – na, Holti, wie wär's? Los, ran an die Buletten! Versprochen hatte er nichts, aber auf der Fahrt nach Hause im Zug angefangen, sich Notizen zu machen, festzuhalten, was er am Abend zuvor gelernt und trotz des reichlich genossenen Bieres nicht vergessen hatte. Monate lagen die Skizzen in einer Mappe, dann begann er systematisch zu recherchieren, und nun schrieb er ein Buch darüber. Die Geschichte von Hans Konradins Verschwinden aus einer fiktiven Klasse in einem fiktiven Gymnasium in einer fiktiven Stadt. Seine Producerin, mit der er früher nicht nur beruflich zusammenarbeitete, hatte das Buch-Exposé gelesen und ihm einen Vertrag über ein Fernsehspiel verschafft. Sie war zehn Jahre jünger als Marholt und regelrecht fasziniert von einer Zeit, die für sie schon graue Geschichte war, ohne Handys, ohne SMS, ohne Internet, ohne Mails, ohne Google; ihre staunende Begeisterung hatte ihn verstummen, aber auch zum ersten Mal sein Alter spüren lassen.



Niemand kommt so leicht davon: Thriller
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