21.
Am nächsten Morgen rief er Karin Demus an. Sie war von Düsseldorf nach Kettwig umgezogen, und weil das Wetter ausgesprochen angenehm war, überredete sie ihn, mit dem Boot von Mülheim nach Kettwig-Unterwasser zu fahren; wenn er sie dort über Handy anrief und in paar Minuten wartete, würde sie ihn am Anleger abholen.
Er war erstaunt, als sie auf ihn zukam. Eine Frau, die sich völlig verändert hatte, nicht mehr bedrückt und mit gesenktem Kopf daherschlurfend, sondern lebhaft, selbstbewusst, attraktiv und stolz. Aus Laredo hatte sie viel Bräune mitgebracht, die ihr gut stand, und Marholt registrierte eine Reihe neidischer Blicke, nachdem sie ihm um den Hals gefallen war. Er zog sie auf eine Bank herunter. "Bevor wir losgehen, muss ich dir was zeigen."
"Und was?"
"Kennst du diese junge Frau?"
"Ja", antwortete sie zögernd, "das ist doch Debby – oder?"
"Genau, das ist Deborah MacGregor. Und dieser junge Mann ist oder war mein Schulfreund Hans Konradin, allgemein nur Hako genannt. Hako war übrigens unsterblich in Debby verknallt. Er ist jeden Tag nach Düsseldorf gefahren, um sie wenigstens zu sehen oder an ihren freien Abenden in der St.Thomas Gemeinde zu treffen."
"Was willst du damit sagen?"
"Dass ich inzwischen glaube, nicht dein Mann Achim, sondern Hako war der Erzeuger des Kindes, das Debby nach dem Einbruch verloren hat."
"Du hast also mit Achim gesprochen!", sagte sie hart, fast anklagend.
"Ja."
"Er lügt, er hat immer gelogen."
"Kein Widerspruch. Aber das heißt nicht, dass er auch in dieser Sache gelogen haben muss. Dein Ex bestreitet ja nicht, dass er unsterblich in Debby verknallt war, aber sie habe ihn auf Distanz gehalten. Eure Ehe war nicht glücklich, was?"
"Nein", gab sie ohne Zögern zu.
"Er ist fast dreißig Jahre älter als du, nicht wahr?"
"Stimmt."
"Warum hast du ihn geheiratet?"
"Was soll das hier werden? Eine Beichtstunde?"
"Nein, nur der Anfang der Ehrlichkeit."
Sie kaute eine Weile auf ihren Lippen, musste immer wieder ihren großen Strohhut festhalten, weil es vom Wasser in kurzen Böen heraufwehte, und grübelte. Endlich holte sie tief Luft.
"Warum? Ich bin in einer Atmosphäre würdevoller Armut aufgewachsen, zelebriert von zwei verbitterten Menschen, die sich von aller Welt ungerecht behandelt fühlten und für die deshalb der Schein immer wichtiger war als die Wirklichkeit und die Wahrheit. Für den sogenannten guten Ruf opferten sie alles, und das Ergebnis war mir eines Tages nicht mehr genug. Ich wollte mich nicht mit dem Ruf, ehrlich und aufrichtig zu sein, darüber hinwegtrösten, dass ich nie in Ferien gefahren bin und nie die Alpen und das Meer gesehen hatte. Und dann kam da einer, der mir alles bieten konnte, der meine Eltern anflehte, mich heiraten zu dürfen und die mich nur zu gerne an einen Mann verkuppelt haben, der Geld besaß, eine Rolle in der Gesellschaft spielte und mich wie ein kostbares Schmuckstück präsentierte. Seht her, das ist meine Frau, meine Schöne, Unberührte, Kostbare. Im Bett habe ich ihn nicht interessiert, da kannte und besuchte er genug andere, willige, die mehr Erfahrung hatten als ich. Und dann holte er Debby ins Haus. Was sie ihm geboten hat, weiß ich bis heute nicht, aber die Art, wie er um sie herumbalzte, wurde bald unerträglich für mich. Dann fiel mir auf, dass es ihr gar nicht gut ging; ich hatte einen Verdacht und sie hat ihn bestätigt: 'Ja, ich bin schwanger, nein, nicht von Achim. Von wem dann? Das geht niemand was an. Kein Wort habe ich ihr geglaubt und bin bald danach ausgezogen. Na, den Rest mit Holger Udokeit habe ich dir schon erzählt. Warum reden wir über das Thema? Was willst du von mir?
"Ich wollte dich fragen, ob du mir hilfst, Debby zu suchen."
"Wie sollte das gelingen?"
"Dein Ex-Mann hat mir die letzte Rechnung zugefaxt, die er für Debby bezahlt hat. Wir haben einen Termin, und einen Ort, an dem Debby zuletzt gesehen worden ist."
"Das hatte die Polizei auch und hat sie nicht gefunden."
"Ich habe noch etwas mehr als die Polizei damals."
"Was sollte das sein?"
"Den Namen und das Bild des Mannes, der ihr damals wohl geholfen hat."
"Zeig' mal!" Sie riss ihm Hakos Bild aus der Hand und verschluckte sich vor Aufregung: "Wer soll das denn sein?"
"Er heißt Hans Konradin und hatte sich unsterblich in Debby verliebt. Er ist jeden Tag von Mülheim nach Düsseldorf gefahren, um sie zu sehen und mit ihr zu sprechen, und wenigstens einmal ist es nicht beim Sprechen und bei zärtlichen Worten geblieben."
"Na los, Mädchen, nun mach' schon!", knurrte ein Mann, der offenbar schon eine ganze Weile unbemerkt hinter ihrer Bank gestanden und gelauscht hatte. Beide fuhren sie erschrocken herum. Kurt Leuscha grinste sie an und zeigte dabei viele gelblich verfärbte Zähne." Los, auf, auf! Merkst du nicht, dass er den Schatz heben will und dich dazu braucht?"
"Zieh Leine, du Arschloch!", pfiff sie ihn an. Leuscha lachte nur und holte eine kurzläufige Pistole aus einer Jackentasche. "Auf, ihr Hübschen, ich habe lange genug hier gestanden, mir tun die Füße schon weh."
"Und wohin soll es gehen?", erkundigte sich Marholt, dem es vor Wut fast die Kehle zuschnürte.
"Erst einmal in die Wohnung deiner Hübschen. Sie muss doch packen. Schon vergessen!? Ihr fahrt jetzt gleich nach Heidelberg, da ist für die Übernachtung ein kleiner Koffer wohl angesagt."
Notgedrungen gehorchten sie. Das Boot war abgefahren, im Moment gab es kaum Menschen in der Nähe des Anlegers und Leuscha schien zu allem bereit. Sie gingen nebeneinander voran, er folgte ihnen. Es war wirklich nicht weit. Das mehrstöckige Haus lag nur einige hundert Meter vom Ufer entfernt, hinter einigen prachtvollen weißen Villen versteckt. Von den Balkonen der oberen Wohnungen hatte man dennoch einen Blick aufs Wasser. Sie schloss die Haustür auf und schob sie auf, nicht ganz bis nach hinten, sondern gerade nur so weit, dass sie sich nebeneinander hineindrängeln konnten. Drinnen schubste sie Marholt plötzlich unerwartet heftig zur Seite, er taumelte gegen die Reihe von Hausbriefkästen, und sie warf sich mit Wucht gegen die Haustür, die ins Schloss fallen wollte. Leuscha hatte sich von dem Manöver überrumpeln lassen und bekam die Tür-Kante genau ins Gesicht, stolperte nach hinten und verlor das Gleichgewicht, als er mit dem Fuß von der einen Stufe vor dem Hauseingang abrutschte. Dabei kippte er so gelungen nach hinten, dass er mit dem Hinterkopf gegen eine imitierte Marmor-Bodenvase knallte: Die Blumen nahmen Schaden, die Vase nicht, aber wahrscheinlich Leuschas Hinterkopf. Denn als er ganz zu Boden gerutschte war und ausgestreckt dort lag, rührte er sich nicht mehr.
"Toll!", sagte Marholt anerkennend. "Ich muss noch mal raus."
"Warum denn das?"
"Wir können eine Pistole gebrauchen, die auf einen anderen Namen registriert ist."
Kurt der Vorausschauende bewahrte sogar ein zweites voll bestücktes Magazin in der andern Jackentasche. Gut ging es ihm nicht, aber er lebte noch, und Hilfe hatte er nicht verdient. Als sie auf den Aufzug warteten, überlegte Marholt, woher Kurt gewusst hatte, dass es nach Heidelberg gehen sollte.
Karin Demus hatte eine Wohnung im fünften Stock, groß, hell, modern und elegant eingerichtet. Finanziell schien sie wirklich keine Not zu leiden und er erkundigte sich nicht, womit sie sich die Zeit vertrieb. Während sie sich umzog und ein kleines Köfferchen packte, durfte er als gelernter Junggeselle in der Küche die Kaffeemaschine bedienen. "Ob Leuscha unten auf uns wartet?", fragte er sie.
"Soll er, wir fahren in die Tiefgarage durch, und die Ausfahrt liegt auf der anderen Seite des Hauses."
"Falls doch was schiefgeht, könntest du mir vorsichtshalber einen Gefallen tun."
"Und welchen?"
"Du könntest den Anwalt anrufen, der dich seinerzeit vor Gericht verteidigt hat und ihn bitten, mir Auskünfte über den Prozess zu geben, wenn ich bei ihm aufkreuze."
"Warum denn das?"
"Ich habe eine Idee, was die ganzen Ereignisse in Laredo ausgelöst hat und würde mich gerne bei ihm erkundigen, ob sie im Prozess damals eine Rolle gespielt haben."
Das verstand sie zwar nicht, aber sie schrieb ihm Namen und Anschrift und Telefonnummer des Anwaltes auf, und telefonierte dann mit ihm. Er war bereit, "in Grenzen" Auskunft über den Prozess seiner früheren Mandantin zu geben.
Sie kamen ohne Gefolge nach Mülheim, wo er in sein Auto umstieg und sie ihm zu seiner Wohnung folgte. Sie stellte ihren Wagen auf seinen Platz in der Garage. Beim Kofferpacken besaß er Routine, und keine Stunde später steuerten sie schon auf der A 3 an Köln vorbei Richtung Süden.
Nach dem Einchecken im Hotel fuhren sie gleich weiter. Er hatte bei seiner Recherche einen Autoverleih gefunden, der über speziell für Rollstuhlfahrer hergerichtete Autos verfügte. Der Eigentümer besaß eine EDV-Anlage, die auf solche Anfragen geeicht schien. Sie hatten tatsächlich im Handumdrehen einen Konradin auf dem Bildschirm, allerdings keinen Hans, sondern einen Eberhard, was ihnen auch recht war. Ob Eberhard oder Hako, Hauptsache, das Datum stimmte, und der große Meister wollte sich sogar darauf festlegen, das Foto könne durchaus den Mieter Eberhard Konradin vor gut zwanzig Jahren zeigen. Nein, die gelähmte Schwester Dorina, für die der Bruder den Wagen mietete, war nie im Verleih gewesen, dazu konnte er leider nichts sagen. Der junge Mann hatte den Wagen für sechs Wochen gemietet, ohne Protest eine beträchtliche Kaution hingelegt und das Auto schon nach fünf Wochen zurückgebracht. Denn da war, wie er ohne Aufforderung erklärte, von der Werkstatt in Mannheim-Käfertal, die ihm der Verleiher empfohlen hatte, der Neuwagen umgebaut und zugelassen worden. Der redselige Meister rief sogar bei der Firma an und kündigte an, da werde sich ein Paar nach dem Käufer eines Rollstuhltransporters namens Eberhard Konradin erkundigen.
Nach dem Abendessen setzten sie sich an die Hotelbar. Karin Demus war schwer beeindruckt, wie weit Marholt allein mit Telefon- und Internetrecherche gekommen war.
"Danke für die Blumen, aber mich beschäftigt was anderes", sagte er abwehrend.
"Und was?"
"Wo hat Hako die Zeit zwischen dem Einbruch bei deinem Ex und der Flucht mit Debby gesteckt, und woher hatte er das Geld für den Leihwagen und den Kauf und Umbau eines eigenen Gefährts? Vater Konradin war zu der Zeit kein armer Mann, aber die Schwester Brigitte hat mir gegenüber nie erwähnt, dass der Vater oder sie größere Summen an Hans überwiesen haben."
"Du kennst die Schwester?"
"Sicher, Hans und ich waren auf dem Gymnasium befreundet, ich habe natürlich seinen Vater und seine Schwester kennengelernt, und als man mich überredet hatte, das Buch über Hako zu schreiben, habe ich sie gesucht und gefunden. Sie ist verheiratet und heißt Landau."
Sie trank ihr Glas aus und zuckte die Achseln. Sie trieb kein großer Eifer an, Debby oder Hako zu finden. Er hatte im Gegenteil sogar manchmal den Eindruck. dass es ihr unangenehm wäre, wenn sie einen Beweis dafür erhalten würden, dass ihr Ex tatsächlich nichts mit Deborah Mac Gregor gehabt hatte. Und weil Peter Marholt der Mann mit den großen Ideen und dem zielsicheren Tritt in den nächsten Fettnapf war, fragte er halblaut: "Hast du keinen Freund?"
"Was geht dich das an?!", zischte sie.
"Gar nichts."
"Dann erwartest du nicht im Ernst eine Antwort?"
"Nein."
"Das ist gut. Denn dann wirst du nicht zu enttäuscht sein, wenn ich meine Zimmertür heute Nacht absperre."
"Nein."
Was zum Teufel war in sie gefahren?