15.

Karin Demus kam am nächsten Morgen pünktlich zu ihm. Er hatte gerade fertig gefrühstückt, als sein unmittelbarer Nachbar eintraf. Lothar Drescher war noch in der Nacht aus Malaga losgefahren und erkundigte sich, ob Marholt schon ausgeruht und kräftig genug sei, mit der Ausbesserung des Pfades und der Treppenstufen zum Strand zu beginnen. Soviel Tatendrang so früh am Tag war Marholt eigentlich suspekt und zuwider, aber er hatte nun mal zugesagt, mitzuhelfen. Und Drescher war geschickt, erfahren und konnte zupacken. Sogar seine Frau Luise half mit, und der zehnjährige Sohn füllte begeistert die Lücken zwischen den Trittsteinen mit einem Gemisch aus Sand und Zement aus und wässerte anschließend sein Werk mit der gebotenen Gründlichkeit und Sorgfalt. Als Karin am Strand erschien, um mit Marholt im Ort für den Mittagsimbiss einzukaufen, trockneten die drei unteren einbetonierten Stufen schon in ihren Holzverschalungen. "Donnerwetter!", staunte sie, ehrlich beeindruckt.

Pacos Bar war wie jeden Tag gut besucht. Marholt erkundigte sich nach Zindler und hörte, dass man ihn doch nach Madrid hatte fliegen müssen, es ging ihm gar nicht gut. Inzwischen hatte das Gerücht die Runde gemacht, Zindler sei von einem Stein in den Rücken getroffen worden und deswegen kopfüber nach unten gestürzt. Kunz schien auf Ohana zu warten und fragte Marholt nach Einzelheiten zu Zindlers Unfall, Marholt übersetzte allerdings nur, was alle anderen Gäste erzählten.

"Ich reise auch bald ab", sagte Kunz zum Schluss.

"Da wird Ohana aber traurig sein", meinte Marholt etwas boshaft und Kunz musterte ihn von der Seite: "Glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Sie wird sich sehr schnell mit einem anderen trösten, so, wie ich sie einschätze."

Marholt widersprach nicht. Während Paco den zweiten blanco vor ihm abstellte, klingelte sein Handy. Monika fragte, ob er sie noch heute in Malaga abholen und für zwei, drei Nächte unterbringen könne. Sie habe mit einer spanischen Kollegin die Dienste tauschen können. Für seinen Geschmack läuteten die Glocken etwas zu deutlich, aber er hatte weder Sabine noch Karin noch einer anderen Frau Treue versprochen. Karin Demus hatte mitbekommen, dass er mit einer Bodenstewardess in Malaga sprach und bat ihn nachzufragen, wann sie möglichst bald einen Flug nach Düsseldorf bekommen könne. Monika wollte zurückrufen, was sie auch eine halbe Stunde später tat. Karin konnte noch heute Abend mit der Iberia fliegen, er würde sie zum Flughafen mitnehmen, wenn er Monika abholte. Der Nachmittag verging mit Packen, Adressentausch und Abschiednehmen – der Asturier und Maricarmen waren sichtlich gerührt, dass Karin eigens ins Granada kam, um "Auf Wiedersehen" zu sagen. Ohana schien es gleichgültig zu sein, dass Karin Demus abreiste. Paco und Maria Jesus verloren ungern einen zahlenden Logiergast, was Paco ihr laut auf Deutsch erklärte, worauf Kunz die Kinnlade nach unten fiel.


Sie kamen so rechtzeitig auf dem Flughafen an, dass Karin Demus in alle Ruhe ihr Ticket besorgen und ihr Gepäck aufgeben konnte, was am Liniencounter sehr viel angenehmer war als an den überfüllten Schaltern der Pauschal- und Charterflieger.

Derweil saß Marholt in Monikas kleinem, überhitztem Büro und mailte an Brigitte Landau. "Bitte alles zusammenkratzen, was Du über einen Achim van Borgh herausbekommen kannst. Dieser Computer ist für längere Zeit nicht besetzt, deswegen bitte erst mailen, wenn ich Dich von diesem Apparat aus darum bitte."

Der Abschied verlief einigermaßen förmlich und kühl. Karin Demus bedankte sich für seine Hilfe; er versprach, sie nach seinem Urlaub zu besuchen; sie wünschte ihm noch viel Glück und gutes Vorankommen mit seinem Roman, und dann begann das boarding. Monika hatte schon eine kleine gepackte Tasche geholt und etwa zwanzig Kilometer hinter Malaga begann das Wunder, auf das der ganze spanische Süden hoffte: Die ersten zaghaften Tropfen fielen. Ein richtiger Regen wurde es nicht, aber es kühlte etwas ab.

"Wurde auch höchste Zeit", meinte Monika erleichtert. Sie hatte sich in Freizeitschale geworfen und verbreitete den Duft einer Seife mit dem Markennamen Maja um sich herum, die es viele Jahre lang nur in Spanien zu kaufen gab und für ihn untrennbar mit Urlaub und Sonne in Spanien zusammenhing.

"Hast du was von Sabine gehört?", fragte er harmlos.

"He, du, was soll das?", stieß sie hervor, "Sabine ist weit weg, jetzt bin ich hier." Dabei zupfte sie so an ihrem Shirt, dass für ihn kein Zweifel an der Botschaft bestand.

Eine gute halbe Stunde später hörte dieser zaghafte Versuch eines Regens schon wieder auf, und als sie in Laredo vor seinem Häuschen ausstiegen, war die Straße bereits wieder trocken. Drescher wartete auf ihn: "Den Stufen hat es nichts ausgemacht, aber als Sie weg waren, wollte sich ein gewissen Leuscha von Ihnen verabschieden."

Marholt grinste, sagte aber nichts. Wahrscheinlich hatte Leuscha nicht Adieu sagen, sondern irgendeine Drohung hinterlassen wollen. "Das war aber ein kurzer Urlaub", bemerkte er deshalb nur und Drescher nickte. "Hab' ich auch gesagt, aber er meinte, hier in diesem Nest käme er ohnehin vor Langeweile um, er brauche etwas mehr Leben und Trubel und Heiterkeit um sich herum." Dabei schaute er so intensiv auf Monika, dass Marholt nicht umhinkam, sie vorzustellen, was er gern vermieden hätte. "Lothar Drescher – Monika Lemke."

Drescher war taktvoll genug, sich nicht zu erkundigen, ob Karin Demus ihren Flieger noch erreicht habe, aber sein Gesicht verriet eine gewisse verwunderte Anerkennung. Einen so schnellen und reibungslosen Austausch der weiblichen Begleitung hatte er dem Nachbarn anscheinend nicht zugetraut. So ähnlich stand es auch Miguel und Maricarmen ins Gesicht geschrieben, als Marholt und Monika das Granada betraten. Eines war anders. Monika sprach genug Spanisch, um Miguel genau zu verklickern, wie sie ihre entremeses bilbainas haben wollte, und beim ersten Schluck des Rotweins beschimpfte sie Miguel. "Da haben die aus dem Rioja euch das angedreht, was das Vieh dort nicht saufen wollte." Miguel fiel fast rückwärts um und schaute hilfesuchend auf Marholt, der ihm nur zuzwinkern konnte. "Die Ziegen haben schon getrunken, ich hol' mal was aus dem anderen Trog", sagte der Asturier dann geistesgegenwärtig und war fast versöhnt, als Monika laut lachte: "Aber unterwegs nicht verdünnen!"


Sozusagen zum Einstand lud er Monika in die Bar ein, um in dem Zimmer im ersten Stock eine Flasche von dem "Guten Weißen" zu trinken, von dem sie sehr angetan war. Weil sie wohl keine Verlegenheits-Pause aufkommen lassen wollte, erkundigte sie sich angelegentlich nach dem Roman, den er hier zu schreiben gedachte und von dem Sabine erzählt hatte. Ohne allzugroße Lust erzählte er von Hako und der Abitur-Jubiläumsfeier, nach der man ihn überredet hatte, einen Doku-Roman über das Schicksal ihres alten Klassenkameraden Hans Konradin zu verfassen. "Und? Hast du herausgefunden, was aus ihm geworden ist?"

"Nein. Habe ich nicht."

"Aber wie es im Roman mit ihm ausgehen soll, weißt du schon?"

"Auch das noch nicht."

Erst als er die vier Wörtchen ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass er damit eine Wahrheit gestanden hatte, die ihn insgeheim schon seit Tagen quälte. Er hatte sich von Karin Demus, Ohana und Debby Mac Gregor nur zu gerne ablenken lassen. Und jetzt von Monika Lemke. So ganz unbekannt war ihm das Phänomen nicht, auch bei Geschichten und Texten, die er vorher in allen Einzelheiten konzipiert hatte, für die er ein logisches, überzeugendes Ende bereits ausgedacht und zum Teil formuliert hatte, überfiel ihn kurz vor Schluss eine Art Depression, ein müder Ekel, in dem Moment fand er alles schlecht, unausgegoren, langweilig, nur geeignet für die Löschtaste oder den Papierkorb. Dann begann er planlos mit neuen Stücken, korrigierte und redigierte an fertigen Dateien herum und tat alles, um sich vor den letzten Seiten oder Szenen zu drücken. Karin Demus, Ohana und Debby MacGregor waren doch nichts anders als solche Manöver gewesen, ablenken, nicht an die wirkliche Aufgabe denken, Zeit gewinnen. Sie schien zu ahnen, was in ihm vorging und schlug vor: "Komm, lass uns gehen, Bewegung tut uns jetzt beiden gut."

Sie bestand darauf, über den Strand nach Hause zu laufen, und er willigte ein, weil er an die neun Stufen und den reparierten Kletterpfad dachte. Über den Himmel zogen dünne, zerfaserte Wolken, es war dunkler, als an den Tagen zuvor. Sie setzte sich plötzlich und zog ihn neben sich auf den Sand. An ihren Bewegungen spürte er, dass sie sich auszog. Sie legte sich auf den Rücken. "Komm!", flüsterte sie. "Ich möchte jetzt mit dir schlafen." Sie ließen sich Zeit und erreichten zur selben Zeit ihren Höhepunkt.

Im Schlafzimmer sagte sie energisch: "Du musst dir wegen Sabine keine Gedanken machen."

"Und warum nicht?"

"Sie hat sich für ihren Ex-Piloten am Tegernsee entschieden."

"Ich denke, der ist mit drei Sternen auf den Schultern verheiratet."

"Bine meint, das würde sie schon ändern."

Komisch, genau das hatte er Sabine nicht zugetraut. Sie spürte seine Zweifel und sagte, während sie ihre Klamotten zu Boden fallen ließ: "Täusch' dich nicht, sie ist egoistischer und rücksichtsloser, als sie sich so gibt."

"Glaubst du?"

"Ich weiß es!", beschied sie ihn kurz und huschte ins Bad. Als sie im Evakostüm zurückkam, wünschte sie ihm gute Nacht und murmelte: "Es war sehr schön mit dir am Strand, wir werden es wiederholen, aber du bist zu gutmütig, Peter."


Diese Bemerkung ließ ihn lange nicht schlafen, und deswegen hörte er um Mitternacht herum die beiden leisen Männerstimmen in der Nähe des Schlafzimmerfensters: "Bestimmt, die eine ist heute zurückgeflogen und die andere will 50 Euro."

"Die spinnt doch."

"Kann sein, aber ihr Kerl ist heute Nachmittag ohne sie abgehauen und sie muss Geld zusammenbringen, um nach Deutschland zurückzukommen."

Von wem war da die Rede? Marholt hörte noch zischende Geräusche und dann kehrte Ruhe ein. Er schlief bald ein.



Niemand kommt so leicht davon: Thriller
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