* 16

 

Gemma erwachte vor Tagesanbruch. Einen Moment lang wußte sie nicht, wo sie war, dann erkannte sie, daß das erleuchtete Rechteck neben ihrem Bett ein Fenster mit einem Store war, hinter dem eine Straßenlampe brannte. Natürlich, das Hotel in der High Street in Guildford. Die Ereignisse des vergangenen Tages kamen ihr wieder ins Gedächtnis. Will im Krankenhaus. David Ogilvie hatte ihn angeschossen.

  Sie blieb im Bett liegen und sah zu, wie der Schein der Straßenlampe im zunehmenden Tageslicht langsam verblaßte. Dann stand sie auf, wusch sich, holte frische Sachen aus ihrer Reisetasche und kleidete sich an. Nachdem sie Kincaid eine kurze Nachricht geschrieben und den Zettel unter seiner Zimmertür hindurchgeschoben hatte, verließ sie das Hotel und ging über die High Street entlang zur Bushaltestelle. Keine Autos fuhren vorüber, keine Fußgänger begegneten ihr. Sie fühlte sich so allein, als wäre sie der letzte Mensch auf der Welt.

  Dann kam sie an einem Lieferwagen vorüber, von dem gerade frisches Obst abgeladen wurde, und der Fahrer rief ihr einen freundlichen Gruß zu. Als sie in die Friary Street einbog, hob sie den Kopf und sah einen rotgoldenen Glanz am östlichen Himmel. Ihre Stimmung hob sich, und sie begann flotter zu gehen. Bald hatte sie den Bahnhof erreicht und fand ein Taxi, das sie über den in Nebel gehüllten Fluß zum Krankenhaus brachte.

  »Sie sind zu früh dran, Miss«, sagte die Schwester freundlich. »Wir sind mit unserem Morgenrundgang noch nicht fertig. Setzen Sie sich solange. Ich hole Sie, wenn Sie zu ihm können. Oder noch besser, gehen Sie runter und frühstücken Sie erst mal in Ruhe.«

  Erst bei diesem Vorschlag der Schwester wurde Gemma bewußt, daß sie tatsächlich hungrig war. Sie nahm ihren guten Rat an, verspeiste ohne einen Funken Schuldgefühl Schinken und Eier und Toast, und als sie wieder in die Station hinaufkam, führte die Schwester sie zu Will.

  »Aber bleiben Sie nicht zu lange«, warnte sie. »Er hat sehr viel Blut verloren und wird schnell müde.«

  Wills Bett stand am Ende des Zimmers. Die Vorhänge waren halb geschlossen. Er schien zu schlafen, sah blaß und verletzlich aus in den weißen Laken. Leise setzte sich Gemma auf den Stuhl neben seinem Bett.

  Er öffnete die Augen und sah sie lächelnd an. »Gemma.«

  »Wie geht es Ihnen, Will?«

  »Also, ohne ärztliche Bescheinigung komm ich in Zukunft nie mehr durch die Kontrollen am Flughafen - sie haben mein Bein genagelt.« Das Lächeln wurde einen Moment lang breiter, dann jedoch fügte er ernst werdend hinzu: »Niemand hat mir irgendwas erzählt. Der Mann war Ogilvie, stimmt’s, Gemma? Hat er Gilbert getötet? Und Ihre Freundin?«

  »Ich weiß es nicht. Sie überprüfen jetzt seine Aussage.«

  »Und Claire ist nichts passiert?« Er schüttelte voller Bewunderung den Kopf. »War sie nicht toll, wie sie sich gegen ihn behauptet hat?«

  »Der mutige waren Sie, Will. Ich bin so froh, daß alles noch gut ausgegangen ist. Ich hätte ...«

  »Gemma.« Er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Manches, was gestern abend passiert ist, ist noch verschwommen, aber ich erinnere mich genau, was Sie getan haben. Der Arzt hat gesagt, Sie haben mir das Leben gerettet.«

  »Ich habe nur ...«

  »Widersprechen Sie nicht. Ich verdanke Ihnen mein Leben, und das werde ich nie vergessen. So, und jetzt erzählen Sie mir mal schön alles von Anfang an.«

  Sie war noch nicht einmal bis zu dem Punkt gekommen, an dem er eingegriffen hatte, da fielen ihm schon die Augen zu. Sie neigte sich über ihn und küßte ihn leicht auf die Wange. »Ich komme wieder, Will.«

 

»Wie geht es ihm?« fragte Kincaid, als sie gemeinsam die Dienststelle Guildford verließen. Gemma hatte ihn dort nach ihrem Besuch im Krankenhaus getroffen, und er hatte sofort bemerkt, daß sie weit fröhlicher aussah, als am Abend zuvor. Flüchtig verspürte er Eifersucht auf Will, um den sie so besorgt zu sein schien, dann schalt er sich sofort wegen seiner Kleinlichkeit und fragte sich, ob nicht nur sein eigenes Gefühl des Versagens dahintersteckte.

  »Ach, eigentlich ganz gut, wenn natürlich auch noch ein bißchen mitgenommen«, antwortete Gemma lächelnd. »Aber die Schwester hat mir hinterher gesagt, daß die Heilung ein langwieriger Prozeß werden wird.«

  »Und Sie werden ihn besuchen«, sagte Kincaid, als er die Tür des Rovers öffnete, und gab sich größte Mühe, seiner Stimme einen Ton freundlicher Gelassenheit zu verleihen.

  »So oft ich kann.« Sie warf ihm einen Blick zu, ehe sie sich angurtete. »Wenn dieser Fall abgeschlossen ist.«

  Ogilvies Malermeister war gleich am Morgen gefunden und vernommen worden und hatte in der Tat Ogilvies Alibi bestätigt. Deveney war jetzt mit der zähen Beharrlichkeit eines Terriers dabei, nach einem Loch in der Geschichte des Mannes oder nach einer Verbindung zwischen den beiden Männern zu suchen. Eine zweite Durchsuchung von Gilberts Arbeitszimmer hatte nichts erbracht, und sie konnten nun nur noch hoffen, daß die Disziplinarleute bei ihren Nachforschungen über Ogilvies Verbindungen zur Drogenwelt mehr Glück haben würden als sie.

  Als hätte sie seine Gedanken gelesen, bemerkte Gemma: »Sie glauben Ogilvie, nicht wahr, Chef? Warum?«

  Sie umrundeten den Kreisverkehr und bogen in die Straße nach Holmbury St. Mary ein.

  Achselzuckend antwortete Kincaid: »Das weiß ich selbst nicht so genau.« Dann sah er sie lachend an. »Das berüchtigte Gefühl im Bauch. Nein, im Ernst - in manchem hat er gelogen, und ich habe es sofort gemerkt. Zum Beispiel, als er sagte, Gilbert wäre einverstanden gewesen, als er ihm mitteilte, er würde in Zukunft seine schmutzige Arbeit nicht mehr für ihn erledigen. Aber ich glaube, in bezug auf Gilbert und Jackie lügt er nicht.«

  »Selbst wenn Sie da recht haben sollten, und ich bin mir da sehr unsicher, warum gerade Claire Gilbert?«

  Er glaubte, einen Vorwurf in ihrem Ton zu hören, und seufzte. Er konnte es ihr nicht übelnehmen. Auch er mochte Claire Gilbert - bewunderte sie sogar. Und vielleicht, vielleicht täuschte er sich ja. »Erstens haben wir nicht ein Härchen, nicht eine Faser in der Küche aufgestöbert, die beweisen würden, daß er dort war. Und dann bedenken Sie doch mal alles, was wir über Alastair Gilbert erfahren haben. Er war ein eifersüchtiger und rachsüchtiger Mann, von Machtgier besessen. Er hat es genossen, andere zu quälen, ob körperlich oder psychisch. Wer hat das alles wohl am härtesten zu spüren bekommen?« Er warf Gemma einen Blick zu und sagte dann mit Nachdruck: »Seine Frau. Ich habe von Anfang an gesagt, daß dieser Mord in blinder Wut begangen wurde, und ich glaube, daß Claire Gilbert ihren Mann gehaßt hat.«

  »Wenn Sie recht haben«, entgegnete Gemma, »wie wollen Sie es dann beweisen?«

 

Claire kam ihnen an der Hintertür mit besorgter Miene entgegen. »Ich habe im Krankenhaus angerufen, aber sie wollten mir keine Auskunft über Constable Darling geben. Haben Sie schon etwas gehört?«

  »Ich war sogar bei ihm«, antwortete Gemma. »Gleich heute morgen. Und es geht ihm gut.«

  Kincaid blieb im Vorraum einen Moment stehen und musterte die Mäntel, die dort an einer Reihe von Haken hingen. Als er entdeckte, wonach er gesucht hatte, wußte er nicht, ob er triumphieren oder bekümmert sein sollte.

  »Und - David?« fragte Claire, als sie in die Küche traten. Sie sah Kincaid an.

  »Er ist uns noch bei unseren Ermittlungen behilflich.«

  Lewis lag auf Lucys Quilt, aber er hob den Kopf und klopfte mit dem Schwanz auf die Decke. Kincaid ging in die Knie und kraulte ihm die Ohren. »Ich sehe, auch diesem Patienten geht es besser, wenn er auch noch nicht wieder ganz der alte Wildfang ist.«

  »Lucy hat die ganze Nacht bei ihm gewacht. Erst als vor einer Stunde der Tierarzt kam, konnte ich sie überreden, sich wenigstens im Wintergarten aufs Sofa zu legen.« Claire zögerte. Unschlüssig zupfte sie an dem seidenen Schal, den sie um den Hals trug. »Um noch einmal auf David zurückzukommen - er war ein guter Mensch. Ganz gleich, was in den letzten Jahren aus ihm geworden ist, ich kann mir auch jetzt noch nicht vorstellen, daß er fähig wäre - jemanden zu töten.«

  »So geht es mir auch«, sagte Kincaid und merkte, daß Gemma ihn mit scharfem Blick ansah.

  Claire lächelte erleichtert. »Danke, daß Sie hergekommen sind. Das beruhigt mich sehr. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee oder Tee?«

  Kincaid holte Atem. »Eigentlich sind wir hergekommen, weil wir Sie gern noch einmal gesprochen hätten. Vielleicht an einem etwas privateren Ort, wenn Sie nichts dagegen haben.«

  Ihr Lächeln wurde unsicher, aber sie war sofort einverstanden. »Wir können uns ins Wohnzimmer setzen. Lucy möchte ich jetzt lieber nicht stören.«

  Sie folgten ihr in das Zimmer, das an dem Abend von Alastair Gilberts Tod so freundlich und einladend erschienen war, und ließen die Tür angelehnt. Das Feuer im Kamin war lange erkaltet, und die roten Wände wirkten knallig im grauen Tageslicht.

  Kincaid setzte sich steif in den chintzbezogenen Sessel. Er hatte eine Möglichkeit nach der anderen erwogen, wie er sie überraschen,überlisten, zu einem falschen Wort verleiten könnte, doch nun begann er einfach und direkt.

  »Mrs. Gilbert, ich habe in der vergangenen Woche einiges gehört, was mich vermuten läßt, daß Ihr Mann Sie körperlich mißhandelt hat. Vielleicht ist das nur ein-, zweimal geschehen, vielleicht war es seit Beginn Ihrer Ehe gang und gäbe. Das weiß ich nicht. Ich weiß jedoch aus anderer Quelle als David Ogilvie, daß Ihr Mann Sie einer außerehelichen Affäre verdächtigt hat. Er ist sogar soweit gegangen, Malcolm Reid zu beschuldigen und ihm zu drohen.«

  Claire drückte eine Hand auf ihren Mund. Reid hat ihr nichts gesagt, dachte Kincaid. Was sonst noch hatten Claire Gilberts Freunde ihr verheimlicht, um sie zu schonen? Und was hatte sie ihnen verheimlicht?«

  »Aber Reid hatte sich nichts weiter vorzuwerfen, als daß er Ihnen geholfen hatte, Ihre finanziellen Heimlichkeiten vor Ihrem Mann zu bewahren. Er hat Ihren Mann hinausgeworfen. Aber wie nahe war Ihr Mann der Wahrheit, Mrs. Gilbert? Hat er auch Brian Genovase gedroht?«

  Das Schweigen zog sich in die Länge. Dies war die Wasserscheide, das wußte Kincaid und wurde sich bewußt, daß er den Atem angehalten hatte. Wenn sie ihre Beziehung zu Brian Genovase bestritt, hatten sie keinerlei Handhabe gegen sie. Dann blieben nur seine eigenen wilden Vermutungen. Ihr Gesicht wirkte verschlossen und unzugänglich, als ginge das alles sie nichts an. Dann aber atmete sie einmal kurz durch und sagte: »David hat es gewußt, nicht wahr?«

  Kincaid nickte und versuchte, nichts von seiner Erleichterung merken zu lassen, als er sprach: »Ich glaube ja, aber er hat es uns nicht gesagt.«

  »Es war keine große späte Leidenschaft, wissen Sie. Ich meine, das zwischen Brian und mir«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Wir waren beide einsam und bedürftig. Er ist ein guter Freund. Malcolm habe ich nie die ganze Wahrheit über Alastair gesagt; nur soviel ich selbst ertragen konnte, habe ich ihm erzählt. Ich habe gesagt, ich sei es müde, mit ständiger Herablassung behandelt zu werden, wie ein Objekt, und Malcolm hat mir geholfen, wo er konnte. Ich habe mein Scheckbuch nie mit nach Hause genommen. Sogar im Laden habe ich die Unterlagen versteckt, für den Fall, daß es Alastair irgendwann einmal schaffen sollte, meinen Schreibtisch dort zu durchsuchen. Er konnte sehr überzeugend argumentieren, wenn er wollte, wissen Sie. Ich hatte Angst, er würde eines Tages vorbeikommen, wenn er wüßte, daß ich unterwegs sei, und Malcolm sagen, ich hätte angerufen und ihn gebeten, etwas abzuholen. Was hätte Malcolm in so einem Fall tun können? Manchmal habe ich mich wirklich gefragt, ob ich nicht an Verfolgungswahn höchsten Grades leide, ob ich vielleicht geistig nicht ganz gesund sei.« Sie schüttelte den Kopf und lachte erstickt. »Aber ich weiß jetzt, daß meine Ängste mehr als berechtigt waren.«

  Sie sprudelte das alles in einem Schwall hervor, als wäre ein Damm gebrochen, und Kincaid hatte den Eindruck, daß die Fassade, die sie um sich herum hochgezogen hatte, vor seinen Augen bröckelte. Und hinter den einstürzenden Mauern erschien die wahre Claire - verängstigt, zornig, bitter und überhaupt nicht mehr verschlossen.

  »Er kam überhaupt nicht auf die Idee, sich darüber zu wundern, daß ich so wenig Geld nach Hause brachte. In seinen Augen war meine Arbeit sowieso nichts wert. Und das war natürlich auch der einzige Grund, warum er mir überhaupt erlaubte zu arbeiten. Ich bin nicht sicher, daß er es noch viel länger geduldet hätte.

  Ich habe eine alte Schulfreundin in den Staaten, in North-Carolina, und ich hatte mir gedacht, wenn Lucy mit der Schule fertig wäre, hätte ich vielleicht genug Geld beisammen, um mit ihr zusammen einfach - zu verschwinden.«

  »Und Brian?« fragte Gemma in einem Ton, als fände sie, er brauchte jemanden, der seine Interessen vertrat.

  Langsam sagte Claire: »Brian hätte es verstanden. Die Situation zwischen Alastair und mir hatte sich - im letzten Jahr zugespitzt. Ich hatte Angst vor ihm.«

  Gemma beugte sich vor. Ihr Gesicht war gerötet vor Empörung. »Warum haben Sie sich nicht einfach von ihm getrennt? Sie hätten ihm doch nur zu sagen brauchen, daß Sie sich scheiden lassen wollen, und basta.«

  »Sie verstehen noch immer nicht. >Es ist doch so einfach<, denken Sie. >Kein Mensch mit ein bißchen Rückgrat würde sich solche Behandlung auf die Dauer gefallen lassen.< Aber so etwas geschieht nicht plötzlich, es schleicht sich ein. Es ist ein allmählicher Prozeß, als ob man eine Fremdsprache lernt. Eines Tages wacht man auf und merkt, daß man auf Griechisch denkt, und man war sich dessen nicht einmal bewußt gewesen. Man hat sich auf seine Bedingungen eingelassen.

  Ich habe ihm geglaubt, als er mir erklärte, ich sei unfähig, allein zu stehen. Erst als ich bei Malcolm zu arbeiten angefangen habe, ist mir langsam aufgegangen, daß das vielleicht gar nicht stimmt.« Claire hielt inne. Ihr Gesicht war angespannt, ihr Blick auf etwas gerichtet, das sie nicht sehen konnten. »Es war der Beginn einer Auferstehung, einer Wiedergeburt des ganzen Potentials, das in mir steckte, als ich Alastair zehn Jahre vorher geheiratet hatte.« Sie seufzte und sah Kincaid und Gemma wieder an. »Aber ich hatte im Lauf der Jahre gelernt, daß es besser war, diese Veränderungen für mich zu behalten.«

  Leise sagte Kincaid: »Aber es hat nicht geklappt, nicht wahr? Sie haben innerhalb eines Jahres zwei Knochenbrüche erlitten.«

  Instinktiv, als wollte sie es schützen, umschloß Claire ihr rechtes Handgelenk mit ihrer linken Hand. »Ich vermute, er hat gespürt, daß meine gesammelte Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt. Ich habe plötzlich die subtilen Signale ignoriert, die sonst immer genügt hatten, um mich zu manipulieren, und das hat zu Wutausbrüchen geführt.«

  »Hat die körperliche Gewalt da angefangen?«

  Sie schüttelte den Kopf, und als sie sprach, war ihre Stimme kaum zu hören. »Nein. Das hat eigentlich gleich zu Beginn unserer Ehe angefangen, aber es waren Kleinigkeiten, die er mit einem Lachen abtun konnte. Püffe, Kniffe und ähnliches. Sehen Sie, gleich nach unserer Heirat habe ich entdeckt ...« Claire schwieg und strich mit der Hand über ihren Mund. »Mir fallen nicht die Worte ein, um es taktvoll auszudrücken. Im Sexuellen wollte er - er wollte mich nur fügsam haben. Wenn ich eigenen Wünschen oder Bedürfnissen Ausdruck gegeben habe, oder auch nur Lust, hat ihn das absolut wütend gemacht - dann hat er mich gemieden wie die Pest. Ja, und als meine Abneigung gegen ihn dann immer stärker wurde, brauchte ich nur vorzugeben, ich wollte etwas von ihm, dann hat er mich sofort in Ruhe gelassen.

  Verstehen Sie? Es war ein ziemlich kompliziertes Spiel, und schließlich hatte ich es einfach satt, dieses Spiel. Ich habe ihn ganz unverblümt zurückgewiesen, und da hat er begonnen, mich zu beschuldigen, ich hätte einen Liebhaber.«

  »Und hatten Sie einen?« fragte Kincaid.

  »Nein, damals nicht. Aber mit seinen Beschuldigungen hat er mich auf die Idee gebracht. Wenn ich schon in seiner Phantasie gesündigt hatte, warum dann nicht in der Realität?« Sie lächelte, sich selbst verspottend. »Irgendwie war es so leichter zu rechtfertigen.«

  Ausgehungert, dachte Kincaid, der sich des Wortes erinnerte, das David Ogilvie gebraucht hatte. Ausgehungert nach Zärtlichkeit, ausgehungert nach Wärme. Bei Brian hatte sie beides gefunden. Aber war es für sie den Preis wert gewesen?

  »Mrs. Gilbert.« Er wartete, bis er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Bitte sagen Sie uns, was am Abend des Todes Ihres Mannes geschehen ist.«

  Sie antwortete nicht, hob den Blick nicht von ihren gefalteten Händen.

  »Soll ich Ihnen sagen, was ich glaube?« fragte Kincaid. »Lucy ist am Nachmittag allein zum Einkaufen nach Guildford gefahren. Sie ist eindeutig identifiziert worden, aber niemand erinnert sich daran, Sie gesehen zu haben. Ihr Mann hatte Ihnen gesagt, er hätte am Abend einen Termin, aber zu Ihrer Überraschung kam er kurz nach seiner üblichen Zeit plötzlich ins Haus. Er hatte sich gerade mit Ogilvie am Bahnhof in Dorking getroffen, und Ogilvie hatte ihm von Ihrem geheimen Bankkonto berichtet.

  Ihr Mann war so wütend, wie Sie ihn noch nie gesehen hatten. Er war außer sich darüber, daß Sie es gewagt hatten, ihn zu hintergehen, ihn zum Narren zu halten.« Kincaid machte eine Pause. Er hatte die hastig abgebrochene Geste gesehen, den nervösen Griff an ihren Hals. »Öffnen Sie bitte Ihren Schal, Mrs. Gilbert.«

  »W-was?« Sie räusperte sich.

  »Machen Sie Ihren Schal auf. Sie waren an dem Abend heiser - ich weiß noch, daß ich mich darüber gewundert habe, wie rauh Ihre Stimme klang. Heute morgen ist mir aufgefallen, daß Sie die ganze Woche Ihren Hals versteckt haben, hinter Schals und hohen Krägen. Jetzt möchte ich ihn sehen.«

  Er dachte, sie würde ablehnen, aber nach einem kurzen Zögern hob sie langsam die Hände und löste den Knoten des Schals, der doppelt um ihren Hals geschlungen war. Sie wickelte ihn herunter, zog, und die Seide fiel in ihren Schoß.

  Die Daumenabdrücke auf beiden Seiten ihres Kehlkopfs waren deutlich zu sehen. Die violetten Druckstellen hatten schon begonnen, zu einem häßlichen grünstichigen Gelbton zu verblassen.

  Kincaid hörte, wie Gemma mit einem unterdrückten Laut die Luft anhielt. Sehr langsam und betont sagte er: »Ihr Mann ist nach Hause gekommen und hat Sie gewürgt. Er hat Ihnen die Hände um den Hals gelegt und gedrückt, bis Ihnen schwarz vor Augen wurde. Dann hat irgend etwas ihn einen Moment abgelenkt, und er hat sich von Ihnen abgewandt. Er hatte ja keine Angst vor Ihnen. Aber Sie wußten, daß er diesmal vernünftigen Worten nicht mehr zugänglich war, und Sie hatten Angst um Ihr Leben. Sie packten den nächstliegenden Gegenstand und schlugen ihn damit. Es gab noch einen Hammer, nicht wahr, Mrs. Gilbert, der hier in der Küche lag?

  Und als Sie sahen, was Sie getan hatten, schlüpften Sie in den alten schwarzen Regenmantel, der draußen im Vorraum hängt, und brachten den Hammer weg. Percy Bainbridge hat Sie gesehen, eine schattenhafte Gestalt, wie er uns gesagt hat. Was haben Sie mit dem Hammer getan, Claire? Haben Sie ihn in der Asche des Feuers von Guy-Fawkes-Abend vergraben?«

  Noch immer sagte sie kein Wort, sah nicht von ihren Händen auf.

  Kincaid fuhr zu sprechen fort, ruhig und gedämpft. »Ich traue Ihnen nicht zu, daß Sie einen anderen dafür büßen lassen werden - nicht Geoff und nicht Brian und auch nicht David Ogilvie. Was ich nicht verstehe, ist, warum Sie nicht gleich auf Notwehr plädiert haben.« Er wies auf ihren Hals. »Sie hatten doch den unwiderlegbaren Beweis.«

  »Ich dachte, niemand würde mir glauben.« Claires Stimme war so leise, daß man hätte meinen können, sie spräche mit sich selbst. »Er war doch Polizeibeamter. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, daß ich einen Beweis hatte.« Sie hob den Kopf und lächelte schwach. »Ich war wahrscheinlich nicht recht bei Sinnen. Es hat sich genauso abgespielt wie Sie gesagt haben. Aber ich wollte ihn nicht töten. Ich wollte ihn nur daran hindern, mir etwas anzutun.«

  Sie rutschte nach vorn, zur Sofakante, und ihre Stimme wurde lauter, als würde es mit Übung leichter, die Worte auszusprechen. »Aber ich habe ihn getötet. Ja, ich habe meinen Mann getötet.«

  Sie ist zu ruhig, dachte Kincaid und sah, daß ihre im Schoß liegenden Hände sich nicht entspannt hatten. Im Gegenteil, sie waren so fest ineinandergekrampft, daß die Knöchel weiß waren, ebenso wie die Fingerspitzen mit den abgeknabberten Nägeln. Eine merkwürdige Gewohnheit für eine so gepflegte Frau, dachte er, und im selben Moment erkannte er mit Entsetzen die Wahrheit.

  Er erinnerte sich an die kleinen Risse in Gilberts Hemd, auf die die Pathologin, Kate Ling, ihn hingewiesen hatte. Diese Risse konnten nicht von Claire Gilberts Fingernägeln verursacht worden sein. Und Claire Gilbert hatte auch niemals sich selbst schützen wollen mit ihrer erfundenen Geschichte von fehlendem Schmuck und offenstehenden Türen.

  Er schluckte, um die aufsteigende Übelkeit zurückzudrängen und sah Gemma an. Hatte auch sie die Wahrheit erkannt? Wenn nur er sie wußte, sollte, durfte er dann Claire ihre Geschichte lassen?

  Die Tür öffnete sich. Lucy kam herein und schloß sie sorgfältig hinter sich. Im grünen Kleid, mit nackten Füßen und vom Schlaf zerzausten dunklen Haar sah sie aus wie eine Waldnymphe.

  »Ich habe gelauscht«, sagte sie und trat neben Kincaid. »Das ist alles nicht wahr. Mami hat Alastair nicht getötet. Ich habe es getan.« Sie sah ihre Mutter fest an.

  »Lucy, nein!« Claire wollte aufspringen. »Hör sofort auf. Geh rauf in dein Zimmer.«

  Gemma hob abwehrend die Hand, und Claire sank wieder auf das Sofa, den Blick auf ihre Tochter gerichtet. Als Lucy entschlossen neben Kincaid stehen blieb, wandte Claire sich mit flehentlich ausgestreckten Armen an ihn. »Achten Sie nicht auf sie. Sie ist durcheinander. Sie will mich nur schützen.«

  »Es ist genauso passiert, wie meine Mutter gesagt hat«, fuhr Lucy fort. »Nur daß ich aus Guildford nach Hause gekommen bin. Ich hab’ mich gewundert, als ich Alastairs Auto in der Garage stehen sah, weil meine Mutter gesagt hatte, er würde erst später heimkommen.

  Die Tür zum Küchenvorraum war nur angelehnt. Sie haben mich nicht reinkommen gehört. Er hat sie mit beiden Händen am Hals gehalten und hat sie beschimpft, in so einem leisen drohenden Ton. Sein Gesicht war ganz rot, und die Adern an seinem Hals waren dick angeschwollen. Im ersten Moment habe ich gedacht, sie wäre tot. Sie hat ganz schlaff ausgesehen, und ihr Gesicht hatte eine komische Farbe. Da hab’ ich ihn angeschrien und ihn bei den Schultern gepackt. Ich wollte ihn von ihr wegreißen.«

  Lucy brach ab und schluckte, als wäre ihr der Mund trocken, aber sie wandte ihren Blick nicht vom Gesicht ihrer Mutter. »Er hat mich weggeschlagen wie eine Fliege und ist sofort wieder auf meine Mutter losgegangen.

  Ich hatte den Hammer auf der Arbeitsplatte in der Küche liegen gelassen. Ich hatte ein neues Bild aufgehängt, für das Geoff mir einen Rahmen gemacht hatte. Ich hab’ ihn gepackt - den Hammer, meine ich - und Alastair damit geschlagen. Nach dem zweiten- oder drittenmal ist er zusammengebrochen.«

  Lucy schwankte ein wenig. Sie hob die Hand und legte sie leicht auf Kincaids Schulter, als reiche allein menschlicher Kontakt, sie auf den Beinen zu halten. Ihre Mutter beobachtete sie wie gebannt, jetzt nicht mehr imstande, ihr Einhalt zu gebieten.

  »Was danach geschehen ist, weiß ich nicht mehr genau. Als meine Mutter wieder atmen konnte, hat sie gesagt, ich soll meine Kleider und meine Turnschuhe ausziehen. Wir haben alles mit ein paar anderen schmutzigen Sachen in die Waschmaschine gesteckt und ein Fleckenmittel reingeschüttet, das Blutflecken beseitigt. Sie hat mir gesagt, ich soll auch noch die Hände eintauchen. Dann bin ich rauf gegangen und hab mir was Frisches angezogen.

  Als ich wieder runtergekommen bin, war der Hammer weg. Meine Mutter hat gesagt, wir sollten sagen, wir hätten die Tür offen vorgefunden und es wäre was von ihrem Schmuck verschwunden. Als die Wäsche durch war, haben wir die Sachen in den Trockner gesteckt und dann die Polizei angerufen.«

  »Sie ist ein Kind«, sagte Claire flehend. »Man kann sie dafür nicht zur Verantwortung ziehen.«

  Lucys Finger an Kincaids Schulter spannten sich. »Ich bin siebzehn, Mama. Ich bin vor dem Gesetz eine Erwachsene. Ich glaube nicht, daß ich Alastair töten wollte. Aber ich habe es getan.«

  Claire schlug die Hände vor ihr Gesicht und begann zu schluchzen.

  Lucy ging zu ihrer Mutter und legte ihr den Arm um die Schultern, doch sie sah Kincaid an, als sie sprach. »Ich habe versucht, einfach nicht dran zu denken; so zu tun, als wäre es nicht geschehen. Aber das hatte ich schon seit Jahren getan. Ich hab’ genau gewußt, was mit Alastair los war, und meine Mutter hat gewußt, daß ich es wußte, aber wir haben nie darüber geredet. Hätten wir’s getan, dann wäre das alles vielleicht nicht passiert.«

  »Sir?« sagte Gemma sehr förmlich und sehr drängend. »Ich würde Sie gern einen Moment sprechen.« Sie wies mit dem Kopf zur Tür, und sie ließen Mutter und Tochter im Zimmer allein, als sie in den Flur hinaustraten.

  »Wir können das doch nicht zulassen?« flüsterte sie, als sie die Wohnzimmertür hinter sich geschlossen hatten. »Gilbert war ein brutales Schwein. Sie hat nur getan, was unter diesen Umständen vielleicht jeder getan hätte. Aber das hier zerstört ihr Leben. Sie bezahlt für die Fehler ihrer Mutter.«

  Kincaid nahm sie bei den Schultern. Er liebte sie für ihr leidenschaftliches Eintreten für das junge Mädchen, für ihre Hochherzigkeit, für ihre Bereitschaft, den Status quo in Frage zu stellen, aber das konnte er ihr nicht sagen.

  Statt dessen sagte er: »Das gleiche ist mir durch den Kopf gegangen, als ich die Wahrheit erkannt habe. Aber Lucy hat recht, und sie hat uns die Entscheidung aus der Hand genommen. Wir müssen ihr erlauben, Wiedergutmachung zu leisten. Nur so wird sie in Zukunft mit sich leben können.«

  Er ließ Gemma los und lehnte sich müde an die Wand. »Und wir können keine Kompromisse eingehen, nicht einmal für Lucy. Wir haben geschworen, das Gesetz aufrechtzuerhalten, niemanden zu verurteilen, und wir dürfen diese Linie nicht überschreiten, ganz gleich, wie gut wir es meinen. Ich möchte Lucy so wenig leiden sehen wie Sie, aber wir haben keine Wahl. Sie muß unter Anklage gestellt werden.«